Frankreich: von der Krise ins Chaos

Vorabveröffentlichung: Kommentar aus Z 139 (Septemberheft)

09.08.2024
von Peter Wahl

Die Entscheidung des französischen Präsidenten, nach der blamablen Niederlage bei den EU-Wahlen – mit 14,6 Prozent abgeschlagen hinter Le Pens Rassemblement National (RN) mit 31,4 Prozent – Neuwahlen zur Nationalversammlung anzuordnen, hat politisches Chaos und eine institutionelle Krise verursacht, die einmalig in der Fünften Republik ist. Es stehen sich jetzt drei große und (bei Redaktionsschluss Ende Juli) unversöhnliche Blöcke gegenüber, von denen keiner über die für die Regierungsbildung notwendig absolute Mehrheit verfügt.

Prompt ist daraufhin ein verwirrender Kampf um die Interpretationshoheit über die Lage und den Fortgang der Dinge ausgebrochen, begleitet von einer Mischung aus aggressiver Rhetorik, machtpolitischen Winkelzügen, strategischen Kalkülen sowie aus Chaos geborenen Fehlleistungen. So hat z.B. das Präsidentenlager bei der Wahl des Parlamentspräsidenten mit einem verfassungsmäßig dubiosen Trick seine Kandidatin durchgebracht. Immerhin hat das Linksbündnis Nouveau Front Populaire (NFP) zwei Vizepräsidenten (von sechs) erhalten, während das RN keinen einzigen Vizepräsidentenposten bekam. Außerdem hatte die NFP die Mehrheit im Steuerungsgremium der Nationalversammlung, weil Abgeordnete anderer Fraktionen bei der nächtlichen Abstimmung schon nach Hause gegangen waren. Es ist ungewiss, wie lange die Hängepartie gehen wird und wie sie endet.

Macron hat entschieden, die alte Regierung mindestens bis zum Ende der olympischen Spiele geschäftsführend im Amt zu halten. Was danach geschieht, war beim Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch ungewiss. Gewiss ist allerdings, dass er das linke Bündnis spalten und zumindest Teile der Sozialdemokraten und vielleicht auch der Grünen herausbrechen will, um Mélenchons La France Insoumise (LFI) zu isolieren. So soll eine absolute Mehrheit der extremen Mitte (Tariq Ali) zurechtgezimmert werden. Diesem machtpolitischen Kalkül zufolge wird das Chaos über kurz oder lang so starken Druck auf die staatstragenden Kräfte der NFP ausüben, dass sie aus »staatspolitischer Verantwortung« bereit sind, eine mit Macron kompatible Regierung zu wählen.

Die Unterstützung der traditionsreichen Konservativen und Gaullisten Les Républicains (LR) dafür ist gewiss. Sie haben zwar nur 60 Abgeordnete, was nicht ausreicht, dem Präsidentenlager zur absoluten Mehrheit zu verhelfen, aber ihr Fraktionschef hat bereits signalisiert, dass er sich einen »Gesetzgebungspakt« vorstellen könnte, d.h. Unterstützung einzelner Initiativen. Allerdings will man sich nicht an der Regierung beteiligen. Hintergrund ist die Überlegung, sich eine bessere Ausgangsposition für die Präsidentschaftswahlen 2027 zu verschaffen. Macron darf nach zwei Amtszeiten nicht mehr kandidieren, und da der Zerfall seiner Partei unaufhaltsam scheint, glauben LR zu alter Größe zurückfinden zu können.

Da in der Verfassung der Fünften Republik die Stellung des Präsidenten ungleich stärker ist als die des Parlaments, dürfte die Präsidentschaftswahl auch in der Strategie der anderen Parteien eine Rolle spielen. Denn mit dem Ende des Macronismus könnten die Karten tatsächlich neu gemischt werden.

Macrons Aufstieg 2017 ging mit einem dramatischen Umbruch des Parteiensystems einher. Die Sozialdemokraten (Parti Socialiste – PS) stürzten noch viel tiefer ab als die SPD, und die Konservativen gerieten in eine fast existentielle Krise. Auf der Linken wurde LFI zur stärksten Kraft, während Le Pen stetig stärker wurde.

Bei den EU-Wahlen 2024 landete die PS allerdings mit 13,9 Prozent vor LFI mit 9,9 Prozent. Das lag in erster Linie daran, dass ein Teil der LFI-Wählerschaft – vor allem Arbeiter und Migranten – sich für diese Wahlen nicht interessierte. Auch profitierte sie vom Zerfall der Macron-Partei und erklärt das Ergebnis zum Beweis für ihren Wiederaufstieg. Auch wenn LFI mit 78 Sitzen bei den jüngsten Wahlen wieder stärker als die Sozialdemokraten (65 Sitze) wurde, haben sich die innerlinken Kräfteverhältnisse für die PS stark verbessert.

Hinzu kommt, dass bei ihrem Führungspersonal der rechte Flügel an Einfluss gewinnt. Der Spitzenkandidat bei den EU-Wahlen, Raphaël Glucksman, ist ein russophober Fanatiker, der Anfang der 2010er Jahre Berater des damaligen georgischen Präsidenten Saakaschwili war, und in der Zeit des Euro-Maidan Redenschreiber für Klitschko, den späteren Bürgermeister von Kiew. Der Ukrainekrieg und ein von messianischem Eifer triefendes Freiheitspathos stand im Zentrum seines Wahlkampfes. Auch Ex-Präsident François Hollande hat erfolgreich kandidiert und mischt jetzt wieder mit.

Dennoch kam nur wenige Stunden nach Ausrufung der Neuwahlen die NFP zustande. Damit hatte Macron nicht gerechnet. Kernpunkte des gemeinsamen Wahlprogramms waren u.a. die Rückgängigmachung von Macrons neoliberaler Rentenreform, die 70 Prozent der Franzosen abgelehnt hatten, sowie die Erhöhung des Mindestlohns auf 1.600 Euro und ein Preisstopp für Grundnahrungsmittel als Entlastung der inflationsgeplagten Unterschichten. Während die sozialpolitischen Forderungen die Handschrift von LFI tragen, hat sich vor allem beim Thema Ukraine die PS durchgesetzt. Zwar tritt LFI auch für Waffenlieferungen an Kiew ein, plädiert aber wenigstens für Verhandlungen. Das gemeinsame Programm liegt mit der Illusion eines ukrainischen Siegfriedens jedoch voll auf NATO-Linie.

Erfolgreich war dann auf Initiative der NFP das Zustandekommen eines ›cordon sanitaire‹ gegen Le Pen, dem sich mit wenigen Ausnahmen die Kandidaten der anderen Parteien anschlossen. Im Ergebnis erzielte die NFP mit 32,6 Prozent die relative Mehrheit der Sitze.

Diese relative Mehrheit als auch das Zustandekommen der NFP sind ein respektabler Erfolg. Allerdings ist vor Illusionen zu warnen. Denn:

• Die Mehrheit der Sitze kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie nur dank der Besonderheiten des Mehrheitswahlrechts zustande kam. Bei der Anzahl der Stimmen und damit an der Wählerbasis sieht es anders aus. Hier liegt das RN mit 8,7 Mio. Stimmen klar an der Spitze vor der NFP mit 7 Mio., gefolgt vom Macron-Bündnis mit 6,3 Mio. und den Konservativen mit 1,5 Mio. Für Le Pen ist das das beste Ergebnis ihrer Karriere. Nur gemessen an der hochgeschraubten Erwartung einer absoluten Mehrheit im Wahlkampf war die Wahl eine Schlappe für sie.

• Die extreme Mitte und vor allem die Machtstellung des Präsidenten dürfen nicht unterschätzt werden. Die Ernennung eines Premierministers ist seine verfassungsmäßige Prärogative. Er könnte sich z.B. für eine Minderheitsregierung entscheiden, die vom RN von Fall zu Fall toleriert wird. Le Pen könnte sich dann als staatstragend und seriös profilieren und damit ihre Chancen für 2027 verbessern. Auch eine Regierung aus Technokraten – bis im Mai 2025 wieder Neuwahlen erlaubt sind – ist denkbar. Oder er könnte, falls bis Jahresende kein Haushalt verabschiedet ist, einen Notstand erklären, der ihm erlaubt mit Verordnungen zu regieren. Möglicherweise zaubert er noch andere Tricks aus dem Hut.

• Die Einheit der NFP ist durch permanente Konflikte zwischen PS und LFI prekär. Auch nach der Wahl 2022 hatte es mit der Nouvelle Union Populaire Ecologique et Social – NUPES ein linkes Bündnis gegeben, das nach einem Jahr wieder zerbrach. Kern des aktuellen Streits ist das Interesse der PS an einem schnellen Kompromiss mit dem Präsidentenlager; für LFI hat dagegen die Durchsetzung der sozialen Programmatik der NFP Vorrang. Die Kontroverse zeigt sich auch im Ping Pong um den Posten des Ministerpräsidenten. LFI wollte zuerst die Präsidentin des Regionalrates von La Réunion, was die PS ablehnte. Dafür präsentierte diese die Ökonomin Tubiana, die aber vorher öffentlich für die Zusammenarbeit mit Macron plädiert hatte. Das war für LFI untragbar. Letzter Stand war die Einigung auf Lucie Castets, Spitzenbeamtin in der Anti-Korruptionsabteilung der Pariser Stadtverwaltung, die aber politisch bisher nicht hervorgetreten ist. Macrons Reaktion wird zeigen, ob sie mehr als eine Zählkandidatin ist.

Vor dem Hintergrund der Gesamtlage ist ein wirklicher Politikwechsel derzeit unwahrscheinlich. Selbst wenn es zu einer linken Regierung käme, wären deren Spielräume äußerst begrenzt. Mit Regierungsbeteiligungen zum falschen Zeitpunkt aber hat die französische Linke einschlägige Erfahrungen. Der Niedergang der einst großen Kommunistischen Partei als Juniorpartner Mitterands ist ein spektakuläres Beispiel dafür.