Das Aufrüstungsprogramm des deutschen Staates schreitet fast ungebremst voran: Geld stellt kein Problem mehr dar (»Unterfinanzierung« war ohnehin seit jeher ein Mythos), und in Politik und Militärkreisen gibt es mittlerweile bereits Stimmen für ein erhöhtes Sondervermögen von 300 Milliarden Euro. Die industriellen Kapazitäten der Rüstungsindustrie sollen durch Subventionen und Wachstumspläne ausgebaut werden. Nun trifft die Militarisierung jedoch auf eine ganz andere, ebenfalls materielle Barriere: Es fehlt am Kanonenfutter.
Trotz der vielfach ausgesprochenen Absicht, die Truppenstärke auf 203.000 zu erhöhen, stagnieren die Personalzahlen auch 2024 bei 182.000 und nahmen Anfang des Jahres sogar leicht ab. Die Zahl der Personen, die ihren Wehrdienst vorzeitig abbrechen, verfünffachte sich 2022 als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine. Auch außerhalb der Truppe steht es schlecht um die Kriegsmoral: In einer repräsentativen Statista-Umfrage gaben 2023 nur fünf Prozent der Befragten an, im Kriegsfall freiwillig Wehrdienst leisten zu wollen, und weitaus mehr würden versuchen, ihr Leben so gut es geht weiter zu führen oder das Land so schnell wie möglich zu verlassen.1 Insbesondere junge Menschen wollen ihr Leben nicht für den Staat und sein Heer aufs Spiel setzen, was auch in der mehrheitlichen Ablehnung der Wehrpflicht bei den 18-30-Jährigen, die unmittelbar von ihr betroffen wären, zum Ausdruck kommt. Was in der noch immer auf Kriegskurs befindlichen Mainstream-Presse eine Welle der moralischen Empörung auslöste, gibt Militärs schon seit Jahren zu denken. Diskurse um eine angeblich zu pazifistische, zu verweichlichte Nachkriegsgesellschaft finden in der aktuellen Debatte um die vermeintliche »Friedensdividende« und die von ihr verwöhnte Bevölkerung ihr Echo.
Während Björn Höcke vor einigen Jahren noch Spott und Kritik für die Aussage erntete, Deutschland müsse »seine Männlichkeit wiederentdecken«, besteht aktuell größtenteils parteiübergreifende Einigkeit: Kriegstüchtigkeit, Opferbereitschaft und Tapferkeit sind Tugenden, die von staatlichen Institutionen wieder gefördert werden müssen. Und wo besser ansetzen als bei denen, die noch jung und beeinflussbar sind, sprich den minderjährigen Schüler*innen? Diese Zielgruppe wird von der Bundeswehr schon seit Jahren ins Visier genommen: Social-Media-Angebote von YouTube-Serien bis hin zu Snapchat-Filtern prägen den digitalen Raum, während aufwendige Multimedia-Kampagnen mit Plakaten über Wochen alle bundesdeutschen Städte oder sogar Pizzakartons zieren. Hinzu kommt eine längst etablierte und normalisierte Präsenz der Bundeswehr auf Jobmessen, die für Schüler*innen oft verpflichtend sind. Kein Mensch in der BRD wird heutzutage 18 Jahre alt, ohne auf die eine oder andere Art und Weise mit der Option konfrontiert worden zu sein, sich für die Bundes- wehr rekrutieren zu lassen.
Angesichts solcher Formen militärischer Subjektivierung verwundert es wenig, dass der Anteil der 17-Jährigen bei der Bundeswehr 2023 anstieg. Trotzdem bleibt die Zahl der Neurekrutierungen deutlich hinter den Wünschen zurück, weshalb die Werbeanstrengungen nun noch einmal deutlich intensiviert werden sollen. Allein die Finanzmittel zu Zwecken der Nachwuchsgewinnung wurden 2024 auf 58 Millionen Euro erhöht – im Vergleich zu »nur« 35 Millionen im Vorjahr.
Hier reihen sich auch die aktuellen Bemühungen ein, die Präsenz der Bundeswehr an den Schulen deutlich zu erhöhen. Diese wird seit Jahren durch extra für diesen Zweck ausgebildete Jugendoffiziere gewährleistet. Auch wenn offene Werbung für die Bundeswehr an Schulen gesetzlich untersagt ist, stellt die vermeintlich neutrale Darstellung von militärpolitischen Fragen oder ihrer Tätigkeit in der Bundeswehr für Schüler*innen de facto eine solche Werbung dar. Durch Begegnungen mit Soldat*innen soll deren Wirken schon früh präsent gemacht und normalisiert werden. Deswegen stehen die Jugendoffiziere auch jetzt schon in der Kritik, etwa seitens der GEW, gegen den Beutelsbacher Konsens zu verstoßen, der eine freie Meinungsbildung in der Schule vorschreibt. Aktuelle politische Vorstöße, wie beispielsweise der Wehrbeauftragten Eva Högl oder der bayrischen Landesregierung gehen so weit, die Anzahl der Auftritte von Militärs an Schulen drastisch zu erhöhen bzw. Schulen zur Kooperation mit der Bundeswehr zu verpflichten. Bisher haben nur einzelne Bundesländer Kooperationsverträge mit der Bundeswehr, und die Initiative für derartige »Bildungsveranstaltungen« gehen oft von den Schulen selbst aus. Ein vereinheitlichtes Vorgehen im ansonsten vertretenen Bildungsföderalismus wird für erstrebenswert gehalten.
Auch jenseits der direkten Präsenz der Bundeswehr an Schulen werden Stimmen für eine pädagogische Militarisierung im Allgemeinen lauter: So sorgte der Vorschlag von Bildungsministerin Stark-Watzinger (FDP), an den Schulen Zivilschutzübungen für den Kriegsfall zu veranstalten, für viel Diskussion und Kritik seitens der GEW. Erziehungswissenschaftler Hermann J. Abs attestiert demokratiepädagogischen Handbüchern eine veraltete Affirmation von Frieden und sieht die Pädagogik in der Aufgabe, »die Todesbereitschaft von Soldat*innen als Beispiel für die menschliche Möglichkeit, den Wert des eigenen Lebens nicht absolut zu sehen«, zu vermitteln. Ein Autor der Österreichischen Militärischen Zeitschrift (ÖMZ) sinnierte jüngst, ob Clausewitz-Lektüre in der Mittelstufe die nötigen Kriegswerte vermitteln könnte.
Angesichts des Verhältnisses der Ausgaben für Bildung (21,5 Mrd. Euro) und Militär (ca. 86 Mrd. Euro) im aktuellen Haushaltsplan sowie des Modernisierungsbedarfs diverser Bildungseinrichtungen könnte der Alltag an deutschen Schulen in der Zeitenwende künftig trist aussehen: Er könnte bedeuten, sich im noch immer maroden Klassenzimmer von Jugendoffizier oder Lehrer*in (sofern dies der Personalmangel zulässt) sagen zu lassen, dass das eigene Leben angesichts staatlicher Interessen nicht allzu viel Bedeutung habe. Kritische Initiativen von Schüler*innen und Lehrer*innen lassen jedoch hoffen, dass die genannten Entwicklungen auf Widerstand stoßen und die Militarisierung der Schulen nicht kampflos hingenommen wird.
1 »Umfrage zur Einsatzbereitschaft im Angriffsfall in Deutschland im Februar 2023« Statista Research Department 01.03.2024.