Türkei: Rückkehr der CHP?

Kommentar aus: Z 138 (Juniheft); Eingestellt am 05.06.2024

05.06.2024
von Alp Kayserilioğlu

Das Ergebnis der Kommunalwahlen in der Türkei am 31. März 2024 war höchst überraschend: Zum ersten Mal in der Ära der AKP und überhaupt seit 1977 wurde die von Mustafa Kemal Atatürk gegründete Republikanische Volkspartei (CHP) die stärkste Partei des Landes. Die AKP hingegen erlitt ihre bisher schwerste Wahlniederlage. Niemand hatte mit einem solchen Ergebnis gerechnet, zumal Erdoğan als Präsidentschaftskandidat und das AKP-geführte Regierungsbündnis noch vor zehn Monaten trotz der schwersten Wirtschaftskrise des Landes seit 2000/01 und des schlimmsten Erdbebens in der Geschichte der modernen Türkei die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 unter den gegebenen Umständen relativ leicht gegen die Opposition gewonnen hatte. Wie lässt sich dieser erstaunliche Wandel innerhalb von zehn Monaten erklären?

Der erste Grund ist die zunehmende elektorale Erosion der AKP seit 2018, die die wachsende Unzufriedenheit der AKP-Wählerschaft widerspiegelt: Dabei geht es in erster Linie um die wirtschaftliche Situation, aber auch um die zunehmende soziale Polarisierung, die ausufernde Korruption, die Einschränkung der Meinungsfreiheit und die Politisierung der Religion. Die meisten unzufriedenen Wähler haben sich bisher anderen Parteien des regierenden Blocks zugewandt. Gleichzeitig bleibt Erdoğan selbst noch vergleichsweise wenig betroffen von der elektoralen Erosion seiner Partei.

Die Erosion wird nun insbesondere durch die wirtschaftliche Situation verstärkt. Die Auflösung der AKP-Wählerschaft spiegelt sich zum einen in der Zunahme von Enthaltungen und ungültigen Stimmen wider. Sie zeigt sich aber auch im anhaltenden Aufstieg der einst völlig unbedeutenden islamistischen Splitterpartei YRP. Dies mag den Niedergang der AKP bei den Wahlen erklären helfen. Aber wie erklärt sich dann der kometenhafte Aufstieg der republikanischen CHP? In Ankara und Istanbul war die erfolgreiche Kommunalpolitik der CHP in den letzten fünf Jahren das Schlüsselelement, das die bereits aufgeweichte Polarisierung zwischen den pro-AKP- und anti-AKP-Blöcken in diesen Städten weiter zu Gunsten der CHP verschoben hat. Dies ist der zweite Grund für das Wahlergebnis. In Istanbul und Ankara ist deutlich zu erkennen, dass die CHP auch Stimmen aus dem Regierungsblock für sich gewinnen konnte und damit die Barrieren der politischen Polarisierung teilweise durchbrochen hat.

Ein dritter Grund für das Wahlergebnis ist die faktische Fortführung des 2018 gegründeten großen Oppo- sitionsbündnisses von unten – allerdings durch die Wähler*innen, nicht die Parteiführer*innen – und seine teilweise Unterstützung durch den linken Oppositionsblock. Das war keineswegs vorherzusehen. Beide Oppositionsbündnisse, das bürgerliche und das linke, lösten sich im Anschluss an die Wahlniederlage 2023 auf. Im Gegensatz zu den Kommunalwahlen 2019 zogen schließlich alle Parteien des CHP-geführten Bündnisses und weitestgehend auch des linken Bündnisses mit eigenen Listen in den Wahlkampf.

Doch trotz der Demoralisierung der Oppositionswählerschaft spiegelte sich weder dies noch die Spaltung der Opposition in den Wahlergebnissen wider. Ganz im Gegenteil: Die Wähler*innen des ehemals größten Oppositionsbündnisses stimmten fast durchweg für die CHP und straften den Opportunismus der einzelnen anderen Parteien ab. Die Kurd*innen unterstützten die CHP im Westen und ihre eigene Partei im Osten. In Kurdistan hat die Entscheidung der linken, pro-kurdischen DEM (ehemals HDP), fast überall eigene Kandidaten aufzustellen, zu starken Ergebnissen geführt und zur Rückgewinnung vieler Provinzen.

Ähnliches wie für die bürgerliche Opposition galt auch für linke und sozialistische Parteien: Dort, wo sie sich in kleinliche Machtspiele und Opportunismus verstrickten und das »große Ganze« – die Zurückdrängung des herrschenden Blocks – zugunsten des eigenen Wahlerfolges ignorierten, wurden sie abgestraft. Dort jedoch, wo Linke und sozialistische Kräfte zusammenarbeiteten, um eine realistische Alternative zur AKP (und CHP) zu bil- den, konnten sie manchmal sogar gewinnen oder Achtungserfolge erzielen. Warum vor allem der erste und zweite Grund nicht dazu geführt hatten, dass das AKP-geführte Regierungsbündnis und Erdoğan als Präsidentschaftskandidat im Mai 2023 verloren haben, ist eine sehr wichtige Frage. Dies hat mehrere, primär politisch-konjunkturelle Gründe.

Im Mai 2023 setzen die Wähler*innen des Regierungsblocks erneut ihre Hoffnungen auf das Regierungsbündnis. In der Zwischenzeit hatte sich aber die wirtschaftliche Situation der Mehr- heit der Bevölkerung nicht verbessert. Die in die AKP investierten Hoffnungen wurden enttäuscht. Außerdem sind die Kommunalwahlen offener für Abweichungen von bekannten Trends und elektorale »Testversuche«, da sie nicht über die zentralen Institutionen des Landes entscheiden. Daher ist die Polarisierung bei Kommunalwahlen weniger stark ausgeprägt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine Kombination verschiedener Faktoren zu den Wahlergebnissen am 31. März 2024 geführt hat. Alle diese Einzelfaktoren zusammengenommen hätten aber auch zu nur relativ geringen Veränderungen führen können, wie es bei den Kommunalwahlen 2019 der Fall war. Dass es dieses Mal zu größeren Verschiebungen kam, hat viel mit der Hegemoniekrise im Land zu tun, die die sozialen Widersprüche verschärft und unvorhersehbare Sprünge und Brüche ermöglicht.

Das wahlpolitische Verschwinden kleiner rechter, rechtsextremer und islamistischer Oppositionsparteien zeigt eindrucksvoll, dass Opposition auch ohne sie möglich ist. Es widerlegt auch die liberale These, dass man es allen recht machen muss, wenn man die AKP besiegen will. Das Wahlergebnis zeigt, dass in einem günstigen konjunkturellen Klima prinzipiell eine überzeugende Alternative entstehen und das Alte absterben kann. Aber die CHP hält an einem eklektischen Programm fest, das Demokratisierung, neoliberale Restauration und Rechtsentwicklung gleichermaßen enthält. Sie ist daher wie bisher so auch heute keine Alternative.

Für die Linke eröffnen sich ähnliche Chancen wie für die CHP. Ihre wenigen Wahlerfolge zeigen, dass sich die Linke durch erfolgreiche Praxis und Strategie auch elektoral verankern kann. Die Wähler*innen der Opposition haben gezeigt, dass es einen starken Willen zur Veränderung gibt; die sozialen Kämpfe gehen unvermindert weiter; Großveranstaltungen wie der 8. März und Newroz, das kurdische Frühlingsfest, haben in diesem Jahr sogar eine deutlich stärkere und militantere Beteiligung erfahren. Um weitere Erfolge zu erreichen, muss sich die Linke jedoch von kleinlichem Kalkül lösen: Sie muss für ihre Perspektiven kämpfen, ohne das große Ganze und die Errichtung einer Gegenhegemonie aus den Augen zu verlieren.