Georg Quaas‘ verquere „Werttheorie“ – ein Kommentar

von Klaus Müller

Quaas behauptet, dass der Wert einer Ware das Produkt aus dem Kompliziertheitsgrad der Arbeit und der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit sei.[1] Dafür gibt es im Marxschen Werk keinen Beleg, weil Marx im Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeit bereits die Reduktion komplizierter auf einfache Arbeit unterstellt. (MEW 23: 59, 204, 211-213). Es findet sich dort auch keine Stelle, aus der hervorginge, dass Marx der Meinung gewesen sei, dass der Wert keine gesellschaftliche notwendige Arbeitszeit ist. Ergo muss Quaas, um seine gegenteilige Auffassung zu bekräftigen, die Marxschen Aussagen in seinem Sinne umdeuten. Marx sagt, „ein Gut (habe) nur einen Wert, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist. Wie nun die Größe seines Werts messen? Durch das Quantum der in ihm enthaltenen ‚wertbildenden Substanz‘ der Arbeit. Die Quantität mißt sich an ihrer Zeitdauer, und die Arbeitszeit besitzt wieder ihren Maßstab an bestimmten Zeitteilen, wie Stunde, Tag usw.“ (MEW 23: 53) Dabei ist nicht die individuelle Arbeitszeit, sondern die gesellschaftliche notwendige Arbeitszeit gemeint. (ebenda und MEW 23: 210) Quaas bringt das Kunststück fertig, die klare Aussage in ihr Gegenteil zu verkehren: Die Wertgröße müsse anders als durch Arbeitszeit definiert werden. Eindeutige Belege aus dem Marxschen Werk erklärt er kurzerhand für irrelevant, wenn sie ihm nicht passen, so die Aussage, dass „der in der Ware enthaltene Wert gleich der Arbeitszeit (ist), die ihre Herstellung kostet…“ (MEW 25: 52). Dabei wird der Satz aus Band 3 inhaltlich bestätigt durch die werttheoretischen Aussagen des ersten Kapitalbandes, auch wenn er dort nicht wörtlich auftaucht. Marx präzisiert ihn, indem er im Band 1 wiederholt betont, dass der Wert die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist, während in dem zitierten Satz aus dem dritten Band auch die individuelle Arbeitszeit gemeint sein könnte. (MEW 23: 59, 65, 68, 72, 121f, 184f, 201, 203, 576)

Als Grund für die angebliche Irrelevanz der Aussage gibt Quaas an, Marx habe keine Theorie geschaffen, die auf definitorischen Wahrheiten beruhe. Mit anderen Worten: Quaas lehnt die Marxsche Definition des Werts ab. Er sagt: „Eine Messung wäre nicht einmal vorstellbar, geschweige denn möglich, wenn Arbeitszeit und Wert identisch wären.“ Doch, die Messung ist möglich: Der Wert wird gemessen, indem die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ermittelt wird, die zur Produktion der Ware nötig ist.

Quaas wirft mir vor, ich verwechsele die Begriffe Arbeit und Arbeitszeit, betrachte beide als identische Objekte. Er glaubt, mir ins Stammbuch schreiben zu müssen, dass die Arbeit nicht gleich Arbeitszeit sei. Die mir unterschobene Auffassung wird noch übertroffen durch die hanebüchene Unterstellung, ich zweifele daran, dass der Wert ein Merkmal der Waren ist. Natürlich ist die Arbeit nicht gleich Arbeitszeit, aber die Menge an Arbeit wird in Arbeitszeit gemessen. Ohne Arbeit keine Arbeitszeit. Nichts anderes sage ich und nichts anderes steht im „Das Kapital“.

Quaas gibt mir, ohne es zu merken, teilweise recht, indem er sich widerspricht. Er meint, „Arbeitszeit, die nicht als Arbeitszeit existiert, ist natürlich etwas anderes als Arbeitszeit. Aber was? Die Antwort liegt klar auf der Hand, auch wenn Müller sich darunter nichts vorstellen kann: ‚Wert‘.“ Quaas sagt hier zum wiederholten Mal, dass der Wert etwas anderes als Arbeitszeit sei. Was Wert ist, wenn er keine Arbeitszeit ist, sagt er nicht. Das ist keine Werttheorie, allenfalls eine verquere. Quaas‘ konfuse Auffassung kommt daher, dass er sich die Arbeitszeit nur als Zeit zweckmäßiger Tätigkeit vorstellen kann. Sein Satz müsste lauten: „Arbeitszeit, die nicht als fließende, vergehende Arbeitszeit existiert, ist natürlich etwas anderes als fließende Arbeitszeit.“ Ja, sie ist ruhende („geronnene“) Arbeitszeit, und genauso stellt sich Marx den Wert vor. Quaas zitiert zwar Passagen, wo Marx den Wert als vergegenständliche, gesellschaftlich notwendige Arbeit bezeichnet (die in Zeit gemessen wird!), und doch behauptet er, dass der Wert keine Arbeit und keine Arbeitszeit sei, weil es für ihn Arbeit nur in Aktion gibt. Er will nicht akzeptieren, dass der Wert der Ware materialisierte (angehäufte) abstrakte Arbeit im gesellschaftlich notwendigen Umfang ist, der in Zeit gemessen wird. Wert ist Arbeit nicht als Tätigkeit, sondern als Ergebnis von Tätigkeit, ist eine „ruhende Eigenschaft“. (MEW 23:195)

Meine mathematische Idee, dass das Produkt aus der tatsächlichen geleisteten Durchschnittsarbeit mit ihrem Kompliziertheitsgrad die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ergibt, bezeichnet Quaas als „eine reine Erfindung.“ Sie stünde im “Widerspruch zu der von Marx wiederholt niedergelegten Auffassung, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeit anhand der Zeit (Tag, Stunde etc.) gemessen werden muss.“ Nein, sie ist kein Widerspruch zu dieser Auffassung, sondern der einzig mögliche Weg, unterschiedlich komplizierte Arbeiten in einfache Arbeiten umzurechnen, die Marx bei der Bestimmung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit stets unterstellt. Wie schwer der praktische Vollzug auch immer sein mag.

Mir scheint, ein Grund für die falsche Wiedergabe der Marxschen Werttheorie durch Quaas liegt in der semantischen Auslegung des Verbs „bestimmen“. Er legt das Wort „bestimmen“ deterministisch aus: Wer oder was (anderes) bestimmt, könne nicht zugleich das andere, das zu Bestimmende sein. Ergo: die (gesellschaftlich notwendige) Arbeitszeit bestimme den Wert der Ware, könne folglich nicht selbst der Wert sein. Aber das Wort „bestimmen“ kann man nicht nur im deterministischen Sinne verstehen. Es hat auch die Bedeutung von „angeben“, „benennen“, „nennen“, „beziffern“, „offenbaren“ …. Das sind keineswegs, wie Quaas meint, „umgangssprachliche“, für wissenschaftliche Diskussionen ungeeignete Auslegungen. Akzeptiert man sie, dann kommt man zu einer anderen, in der marxistischen Community weithin akzeptierten Interpretation der Marxschen Sätze: Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit gibt den Wert der Ware an, sie beziffert ihn, offenbart ihn, sie ist die Wertgröße. Diese Deutung der Marxschen Wertbestimmung ist für Quaas eine „lendenlahme Definition“, eine „nichtssagende Tautologie“.

Quaas‘ Antwort enthält mehr Strittiges und Absurdes, auf das in einem Kurzkommentar nicht eingegangen werden kann. Deshalb nur ein Letztes. Er behauptet, meine Darstellung des Systems der Arbeitswerte durch die Berechnung der vollen Arbeitszeit mit Hilfe der Input-Output- Rechnung sei „schräg“. Weiß Müller nicht, „dass die Berechnung der Arbeitswerte auf der Grundlage des Arbeitseinsatzes mit Hilfe der Input-Output-Rechnung eine neoricardianische Theorie ist?“ Ich frage zurück: Weiß Quaas nicht, dass die Marxschen Reproduktions-Modelle mühelos in Form von Input-Output-Modellen geschrieben werden können? Ist er der Meinung, dass Methoden per se falsch sind, weil auch Neoricardianer sie anwenden? Input-Output-Modelle eignen sich für Arbeitszeitrechnungen und die Darstellung stofflicher Verflechtungen zwischen den Produktionsbereichen gleichermaßen.

Fazit: Ich bin Georg Quaas dankbar, dass er sich die Mühe macht, auf meine Kritik seiner werttheoretischen Auffassungen zu antworten. Meine Einwände weist er zurück. Sie seien „irrelevant“, „schräg“, „reine Erfindungen“, „lendenlahme Definitionen“ und „nichtssagende Tautologien“. Herablassende Urteile aber, lieber Georg Quaas, sind keine Sachargumente, geschweige denn, ernst zu nehmende.

[1] „Demnach sind Wert und Arbeitszeit quantitativ gesehen durch einen Proportionalitätsfaktor verbunden, der den Kompliziertheitsgrad der Arbeit erfasst.“ Georg Quaas, Arbeitszeit und Wert in der ökonomischen Theorie von Karl Marx, in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 128, Dezember 2021, S.78.