Zur begrifflichen und kausalen Struktur des Kerns der Arbeitswerttheorie. Eine Gegendarstellung zu Klaus Müller in Z 130

von Georg Quaas

Klaus Müller gehört zu den aktivsten Autoren, die sich um eine Verbreitung und Anwendung der ökonomischen Theorie von Karl Marx im deutschen Sprachraum bemühen. In Z 130 hat er – und das nicht zum ersten Mal – zu der Marx-Interpretation von Michael Heinrich Stellung genommen.[1]  Nebenbei reagiert er in dieser Stellungnahme auf meine Kritik an seiner These, dass die Begriffe „Wert“ und „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ identisch seien.[2] Wer bisher meinte, dass es sich dabei um einen sprachlichen Lapsus handelt, den man mit ein paar Zitaten aus dem „Kapital“ und mit dem Spruch „Wenn Marx ‚Wert‘ sagt, dann meint er auch Wert und nicht gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ begegnen könne, muss sich eines Besseren belehren lassen. In seiner Replik versucht Müller zu begründen, dass Marx „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ meint, wenn er ‚Wert‘ sagt. Von den sieben oder acht von mir ausführlich dargelegten Argumenten, dass es sich um zwei verschiedene Begriffe handelt, greift Müller nur ein einziges heraus, um daran anknüpfend seine eigene Auffassung und seine Kritik an meiner Darstellung zu entwickeln: „Stolperstein des Dissenses“ zwischen uns beiden sei mein Argument, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit die Wertgröße nicht bestimmen könne, wenn beide identisch wären. (Quaas in Z 128: 77) Müller, möglicherweise in Unkenntnis der Diskussion um diesen meta-theoretischen Begriff,[3] hält das Wort ‚bestimmen‘ für einen umgangssprachlichen Ausdruck und argumentiert: „‚Bestimmen‘ hat nicht nur die semantische Bedeutung, die Quaas dem Wort zuordnet. Andere Synonyme sind: festlegen, festsetzen (wissenschaftlich) erklären, definieren.“ (Müller in Z 130: 153) Und Müller weiß, welche „Lesart“ die richtige ist, nämlich die, wonach der „Wert“ durch den Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit definiert wird: „Ich bin mir sicher, dass Marx mit der Aussage, die Wertgröße werde bestimmt durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, ausdrücken will, was für ihn Wertgröße ist, also den Begriff definiert und nicht, wie Quaas annimmt, nur eine Determinante der Wertgröße nennt.“ (Ebd.)

Nur eine „Determinante der Wertgröße“? Der von Marx hochgeschätzte griechische Philosoph Demokrit „hat, wie es heißt, selbst den Ausspruch getan, er wolle lieber eine einzige Ursachenerklärung finden als König über die Perser werden.“[4] Und Marx soll eine in der werttheoretischen Tradition zentrale These in eine lendenlahme Definition verwandelt haben? Wenn die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit keine Determinante der Wertgröße ist, was determiniert den Wert dann? Ist sich Müller nicht bewusst darüber, dass er mit seiner Interpretation die Marx’sche Theorie von einer wesentlichen Ursache-Wirkungs-Beziehung zu entkleiden versucht? Welchen Sinn hätten wohl Marx’ seitenweise Erörterungen über die deterministische Beziehung zwischen gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit und Wert (MEW 23: 54-55, 60-61), wenn es sich um identische Begriffe handeln würde? Nur ein Beispiel: „Der Wert einer Ware verhält sich zum Wert jeder andren Ware wie die zur Produktion der einen notwendige Arbeitszeit zu der für die Produktion der anderen notwendigen Arbeitszeit.“ (MEW 23: 24) Dieser Satz wäre eine grobe Irreführung der Leser und Leserinnen, wenn es sich um eine nichtssagende Tautologie handeln würde. Warum kreiert Marx überhaupt eine Wertrechnung und keine, dem Praktiker viel leichter verständliche Arbeitszeitrechnung? Warum werden in der für das Marx’sche Werk zentralen Theorie des Mehrwerts die Warenwerte (unter Voraussetzung einer Identität von Wert- und Preisrelationen) in Pfund Sterling angegeben, und parallel dazu die entsprechenden (als gesellschaftlich notwendig angenommenen) Arbeitszeiten? (MEW 23: 226 ff.) Müsste man dann nicht zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die Arbeitszeiten als Preise erscheinen? Und wie weit ist es von da noch bis zu der Theorie, dass sich die Warenwerte in Löhne auflösen? (Vgl. dazu MEW 26.1: 69 ff. sowie MEW 25: 830 ff. und MEW 24: 372)

Wenn Müller meint, dass Wert und gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ein- und derselbe Begriff sind, so übersieht er, dass Marx’ ökonomische Theorie im Unterschied zu den Theorien des modernen ökonomischen Mainstreams Systemcharakter aufweist. Eine falsche Interpretation grundlegender Kategorien wie „Gebrauchswert“, „Wert“ etc. hat weitreichende Konsequenzen, sodass Marx’ Theorie falsch oder zumindest „schräg“ wiedergeben wird. Schräg ist beispielsweise Müllers Darstellung des Systems der Arbeitswerte durch Berechnung der „vollen Arbeitszeit“, die die Produktion einer Ware kostet, mit Hilfe der Input-Output-Rechnung.[5] Weiß er nicht, dass die Berechnung der Arbeitswerte auf der Grundlage des Arbeitseinsatzes und mit Hilfe der Input-Output-Rechnung eine neoricardianische Theorie ist?[6]  

Es ist also nicht damit getan, eine andere „Lesart“ eines partiellen, wenn auch grundlegenden Zusammenhangs geltend zu machen. Vielmehr muss man schauen, wie sich dies auf das Verständnis der anderen Begriffe und Aussagen auswirkt.

Müllers Kritiken im Einzelnen

„Georg Quaas vertritt die Auffassung, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit die Wertgröße bestimme, aber nicht identisch mit ihr sei. Er bezieht sich auf wörtliche Passagen des Marx’schen Originals und bietet eine zunächst logische, in sich schlüssige Argumentation.“ (Müller in Z 130: 152) Wahrscheinlich bezieht sich diese Aussage nicht so sehr auf meinen Beitrag in Z 128, sondern vor allem auf meine mathematische Modellierung, die seit 1983 in zahlreichen Veröffentlichungen zur Diskussion gestellt worden ist und deren Zusammenfassung 2016 im Metropolis-Verlag erschien.[7] Müller jedoch bezweifelt, dass Marx eine Ursache-Wirkungs-Beziehung gemeint hat. Sein wohl stärkstes Argument lautet so: Wenn Quaas recht hätte, „…müsste dann nicht irgendwo bei ihm [bei Marx] eine Aussage zu finden sein, aus der hervorgeht, was die Wertgröße dann ist, wenn sie keine Arbeitszeit ist? Ich habe bei Marx nicht die geringsten Anhaltspunkte dafür gefunden, die a) erkennen ließen, dass die Wertgröße keine Arbeit ist und/oder b) dafür, dass und wie die Wertgröße anders als durch Arbeitszeit definiert werden könnte.“ (Müller in Z 130: 152 f.) 

Positiv behauptet Müller, dass es „unzählige Textstellen“ gäbe, „die belegen, dass für Marx die Wertgröße identisch mit der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit ist.“ (Ebd.: 153) Da alle diese Textstellen unmöglich in einem Heft Platz finden können, beschränkt er sich auf eine Auswahl von drei. Schauen wir uns zunächst Müllers Beleg Nr. 1 an:

„Derselbe Wert, d.h. dasselbe Quantum vergegenständlichter gesellschaftlicher Arbeit…“ (MEW 23:  172)

Doch wo ist in diesem „Beleg“ von „gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit“ oder wenigstens nur von „Arbeitszeit“ die Rede? Nirgends! Überhaupt wechselt Müller in seiner Argumentation ständig von der Arbeitszeit zur Arbeit und von da zurück zur Arbeitszeit, als ob das ebenfalls identische Objekte wären. Die Arbeitszeit misst die Dauer der, wie Marx oft sagt, lebendigen Arbeit. Die Arbeitszeit ist nur ein einziges Merkmal der Arbeit, dem viele andere begleitende Eigenschaften gegenüberstehen, wie die Leichtigkeit, Intensität, Produktivität, Kompliziertheit, Organisiertheit, Sicherheit etc. der Arbeit. Leider muss man Müller die Trivialität ins Stammbuch schreiben: Arbeit ist nicht gleich Arbeitszeit! Müllers Argument greift aber auch deshalb zu kurz, weil niemand, der das „Kapital“ gelesen hat, auch nicht Quaas, bezweifelt, dass für Marx der Wert „vergegenständlichte gesellschaftliche Arbeit“ ist. Wobei Marx, das muss man unbedingt hinzufügen, klar zwischen Arbeit und vergegenständlichter Arbeit unterscheidet: „…menschliche Arbeit bildet Wert, aber ist nicht Wert. Sie wird Wert in geronnenem Zustand, in gegenständlicher Form.“ (MEW 23: 65)

Müller (Z 130: 153) kritisiert, „dass Quaas den Wert als Merkmal der Ware, des fertigen Produkts und die Arbeitszeit nur als ein Merkmal des Prozesses gelten lässt sowie zwischen Prozess und Ding streng unterscheidet. So muss er zwingend zur Auffassung gelangen, dass die (gesellschaftlich notwendige) Arbeitszeit kein konstitutives Merkmal des Wertes ist.“

Die letzte Aussage ist eine Erfindung Müllers. Die (gesellschaftlich notwendige) Arbeitszeit ist nach Quaas die wesentlichste Determinante des Werts und damit selbstverständlich „konstitutiv“ für den Wert.[8] Doch das ganze Argument gibt Anlass zu starken Bedenken. Muss man einem „Traditionsmarxisten“[9] tatsächlich erklären, dass der Wert für Marx eine (gesellschaftliche) Eigenschaft der Ware ist? Nach der Abstraktion vom Tauschwert (MEW 23: 51) und vom Gebrauchswert einer Ware (ebd.: 52) bleibt von den betrachteten Waren „nur noch eine Eigenschaft, die von Arbeitsprodukten“ übrig (ebd.). „Diese Dinge stellen nur noch dar, dass in ihrer Produktion menschliche Arbeitskraft verausgabt, menschliche Arbeit aufgehäuft ist. Als Kristalle dieser ihnen gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Substanz sind sie Werte – Warenwerte.“ Ich wiederhole: WARENWERTE! Wie kann ein gestandener Arbeitswerttheoretiker daran zweifeln, dass für Marx der Wert ein Merkmal der Waren ist?

Müller räumt ein: „Natürlich ist der Wert keine Arbeitstätigkeit, kein Arbeitsprozess. Er ist, wozu die Tätigkeit führt, das Prozessergebnis. Von welcher Art ist das Ergebnis der Arbeit(stätigkeit)? Es ist, vom Gebrauchswert abgesehen, geronnene, vergegenständlichte (in einen Gegenstand verwandelte) Arbeit oder ‚kristallisierte Arbeitsmasse‘. […] Und so sieht es Marx: Die Ware verkörpert ‚nicht Arbeitszeit als Arbeitszeit, sondern materialisierte Arbeitszeit; Arbeitszeit nicht in der Form der Bewegung, sondern der Ruhe, nicht des Prozesses, sondern des Resultats.‘“ (Müller in Z 130: 154, Verweis auf MEW 42: 78)

So sah es Marx 1857/58! Aber auch wenn dieser Text keine Instanz ist, an der eine Entscheidung in Sachen einer strittigen Interpretation des „Kapital“, das einen mindestens 9 Jahre reiferen Erkenntnisstand repräsentiert, herbeigeführt werden kann, ist er doch aufschlussreich, weil er deutlich macht, wie Marx darum ringt, einen rationalen Ausdruck für das Maß der vergegenständlichten Arbeit zu finden. Arbeitszeit, die nicht als Arbeitszeit existiert, ist natürlich etwas anderes als Arbeitszeit. Aber was? Die Antwort liegt klar auf der Hand, auch wenn Müller sich darunter nichts vorstellen kann: „Wert“! Ein Begriff, zu dem sich Marx erst durchringen musste.

Nun werde ich aber mit folgendem Vorwurf konfrontiert: „Wenn die Wertgröße nicht die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ist, was ist sie dann? […] Quaas, der eine multiplikative Beziehung zwischen der Arbeitszeit und der Wertgröße annimmt, kann die Frage nicht beantworten.“ (Müller in Z 130: 153)

Marx’ Begriff des Arbeitsprozesses

Dieser Begriff macht nicht nur deutlich, dass es Marx ist, der exakt zwischen Prozess und Ding unterscheidet, sondern auch, wie seine Definition der Wertgröße einzuordnen ist. Wenn im Folgenden dieser Begriff nur auszugsweise zitiert wird, dann nur, um Platz zu sparen, aber nicht, weil der Verfasser der Meinung wäre, das Ausgelassene wäre unwichtig.

„Die einfachen Momente des Arbeitsprozesses sind die zweckmäßige Tätigkeit oder die Arbeit selbst, ihr Gegenstand und ihr Mittel. […] (MEW 23: 193) Das Arbeitsmittel ist ein Ding [sic!] oder ein Komplex von Dingen [sic!], die der Arbeiter zwischen sich und den Arbeitsgegenstand schiebt und die ihm als Leiter seiner Tätigkeit auf diesen Gegenstand [der offenbar ebenfalls ein Ding oder ein Komplex von Dingen ist] dienen.“ (MEW 23: 194)

„Im Arbeitsprozeß bewirkt also die Tätigkeit des Menschen durch das Arbeitsmittel eine von vornherein bezweckte Veränderung des Arbeitsgegenstandes. Der Prozeß erlischt im Produkt. Sein Produkt ist ein Gebrauchswert, ein durch Formveränderung menschlichen Bedürfnissen angeeigneter Naturstoff. Die Arbeit hat sich mit ihrem Gegenstand verbunden. Sie ist vergegenständlicht, und der Gegenstand ist verarbeitet. Was auf seiten des Arbeiters in der Form der Unruhe erschien, erscheint nun als ruhende Eigenschaft, in der Form des Seins, auf seiten des Produkts. Er hat gesponnen, und das Produkt ist ein Gespinst.“ (MEW 23: 195)

Wie definiert Marx den Wert?

Obwohl Marx in MEW 23: 192 ff. ausschließlich die physische Struktur des Arbeitsprozesses analysiert, sollte doch die Parallelität zu der von Müller aus den „Grundrissen“ von 1857/58 zitierten Stelle auffallen, die den Wert als Resultat des Arbeitsprozesses darstellt. Wert und Gebrauchswert, die beiden Eigenschaften, mit deren Hilfe Marx den wissenschaftlichen Begriff der Ware definiert, sind beide ein Resultat oder – in philosophischer Sprache – eine Vergegenständlichung menschlicher Arbeit. Mithin kann die Charakteristik des Wertes als vergegenständlichte oder materialisierte Arbeit keine vollständige Definition des Wertes sein. Um den Wert inhaltlich zu definieren, genügt es aber, diese Charakteristik zu ergänzen, indem man den Unterschied zwischen Wert und Gebrauchswert angibt. Was finden wir dazu bei Marx? Die Forderung, (i) von den nützlichen Eigenschaften der Ware und von ihren mannigfachen Tauschwerten abzusehen (MEW 23, S.51 f.), (ii) die Ware als Arbeitsprodukt, als Resultat unterschiedsloser menschlicher Arbeit zu betrachten, (iii) dabei aber die quantitativen Unterschiede zu beachten, die darin bestehen, dass unterschiedlich viel menschliche Arbeit in den Arbeitsprodukten aufgehäuft ist (ebd.: S.52 f). Der letzte Aspekt wird von Marx auf der Grundlage von (i) und (ii) besonders hervorgehoben, indem er, wie man heute sagen würde, eine operationale Anweisung gibt, wie man den Wert zu messen hat: „Ein Gebrauchswert oder Gut hat also nur einen Wert, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm vergegenständlicht oder materialisiert ist. Wie nun die Größe seines Werts messen? Durch das Quantum der in ihm enthaltenen ‚wertbildenden Substanz‘, der Arbeit. Die Quantität der Arbeit mißt sich an ihrer Zeitdauer, und die Arbeitszeit besitzt wieder ihren Maßstab an bestimmten Zeitteilen, wie Stunde, Tag usw.“ (MEW 23: 53)

Was ist also der Wert? Eine quantitative und gesellschaftliche Eigenschaft der Waren, die in einer warenproduzierenden Gesellschaft von der Arbeit erzeugt wird, weil menschliche Arbeitskraft verausgabt werden muss, um die Ware herzustellen; die Größe des Werts hängt davon ab, wie lange im Schnitt bei ihrer Herstellung gearbeitet werden muss. Auf einem Markt wird der Wert einer Ware mehr oder weniger exakt durch den Tauschwert oder den Preis dargestellt.[10]

Müller irrt, wenn er behauptet, dass es im „Kapital“ keine Definition des Wertes gibt, die „die Wertgröße anders als durch Arbeitszeit definiert…“ (Müller in Z 130: 153) Nur wird der Wert nicht in der Form einer Real- oder Nominaldefinition eingeführt, sondern durch Beschreibung der sachlichen und der erkenntnismäßigen Zusammenhänge, in denen der Wert existiert und zum Objekt gemacht werden kann.

Warum Wert keine Arbeit ist

Müller hat das Problem, zu verstehen, wie Quaas folgender Meinung sein kann: „Wert ist vergegenständlichte Arbeit – ja, Arbeit misst sich in Zeit – ja, Wert misst sich in Zeit – nein.“ (Müller in Z 130: 153) Der Sinn dieser nicht ganz exakten Kurzfassung meiner Position erschließt sich auf dem Hintergrund des Marx’schen Arbeitsbegriffs, insbesondere auch die Trivialität, die Müller für eine „überraschende These“ hält (ebd.), dass nämlich Wert keine Arbeit ist.

Als Momente des Arbeitsprozesses benennt Marx die Arbeitskraft, deren Betätigung die zweckmäßige Tätigkeit oder „die Arbeit selbst“ ist, die ihrerseits mit Hilfe von Arbeitsmitteln den Arbeitsgegenstand (auf der Grundlage erkannter Naturgesetze) in ein Arbeitsprodukt transformiert. – Alle Momente des Arbeitsprozesses werden mit Begriffen bezeichnet, die in ihrer verbalen Formulierung das Wort ‚Arbeit‘ verwenden: Arbeitskraft, Arbeit als zweckmäßige Tätigkeit, Arbeitsmittel, Arbeitsgegenstand, Arbeitsprodukt. Auf der Grundlage dieser Begrifflichkeit muss man feststellen, dass Arbeitskraft, Arbeitsmittel, Arbeitsgegenstand und Arbeitsprodukt keine Arbeit sind! Denn als Arbeit bezeichnet Marx nur die zweckmäßige Tätigkeit im Arbeitsprozess und gelegentlich auch den gesamten Arbeitsprozess. Auf diese Weise erschließt sich, warum der Wert zwar als „vergegenständlichte Arbeit“ bezeichnet werden kann, aber selbstverständlich keine Arbeit ist: Vergegenständlichte Arbeit liegt immer in Form eines Arbeitsproduktes vor, das Arbeitsprodukt ist ein Moment des Arbeitsprozesses, aber ein anderes Moment als die Arbeit (zweckmäßige Tätigkeit). Im Rahmen der Marx’schen Begrifflichkeit gilt also, dass (i) der Wert zwar vergegenständlichte Arbeit, aber keine Arbeit ist, und dass (ii) er erst recht keine (gesellschaftlich notwendige) Arbeitszeit sein kann, die ein Maß für die lebendige Arbeit ist. 

Die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit

Die Erklärung der Größe des Werts einer Ware durch die Arbeitszeit wirft mindestens zwei grundlegende Probleme auf: (i) Das Problem des faulen Arbeiters: „… je fauler oder ungeschickter ein Mann, desto wertvoller seine Ware, weil er desto mehr Zeit zu ihrer Verfertigung braucht.“ (MEW 23: 53) Dieses Problem löst Marx durch Reduktion auf die „in der Produktion einer Ware … im Durchschnitt notwendige oder gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit…“ (Ebd.) Die Definition dieses Begriffs stellt auf die „vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit“ ab. (Ebd.) Davon, dass auch die Kompliziertheit der Arbeit in diesem Begriff eine Rolle spielen könnte, ist bei Marx nicht die Rede. Was ist nicht alles in diesen Begriff hineinphilosophiert worden! Schon kurz nach Erscheinen des „Kapital“ ist in der Sozialdemokratie ein Streit darüber entbrannt, ob nicht auch die gesamtgesellschaftliche Nachfrage in diesem Begriff enthalten ist – eine Interpretation, der Marx eine Abfuhr erteilt.[11] Wie es scheint, wärmt Müller mit seiner Behauptung, dass Marktwert und Wert Synonyme seien, diese Debatte wieder auf. (Müller in Z 130: 157, Fußnote 38)

Der Kompliziertheitsgrad

Im „Kapital“ wirft Marx ein weiteres Problem auf: „Wie nun in der bürgerlichen Gesellschaft ein General oder Bankier eine große, der Mensch schlechthin dagegen eine sehr schäbige Rolle spielt …, so steht es auch hier mit der menschlichen Arbeit. Sie ist Verausgabung einfacher Arbeitskraft, die im Durchschnitt jeder gewöhnliche Mensch, ohne besondere Entwicklung, in seinem leiblichen Organismus besitzt. Die einfache Durchschnittsarbeit selbst wechselt zwar in verschiednen Ländern und Kulturepochen ihren Charakter, ist aber in einer vorhandnen Gesellschaft gegeben. Kompliziertere Arbeit gilt nur als potenzierte oder vielmehr multiplizierte einfache Arbeit, so daß ein kleineres Quantum komplizierter Arbeit gleich einem größeren Quantum einfacher Arbeit.“ (MEW 23: 59) 

Marx vereinfacht die Darstellung, indem er diesem Problem (zunächst) nicht weiter nachgeht, sich also die Mühe der Reduktion komplizierter auf einfache Arbeit erspart. (Ebd.) Fakt aber ist, dass Marx durchaus der Meinung war, dass sich die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit nicht bei der Produktion jeder Ware 1:1 in Wert umsetzt. In diesem Punkt unterscheidet sich die Marx’sche Werttheorie von anderen Werttheorien, die nahezu durchgängig homogene Arbeit unterstellen.[12] Doch wenn nicht nur die direkt geleistete Arbeit unterschiedlich kompliziert ist, sondern auch die Produktionsmittel mit unterschiedlich komplizierter Arbeit hergestellt werden, dann lässt sich zwar formal die „volle Arbeitszeit“ als Summe „direkter“ und „indirekter Arbeit“ berechnen, sie hat dann aber nichts mehr mit dem tatsächlichen Wert der Ware zu tun, da das unterschiedliche Gewicht der Arbeitszeiten im Wertbildungsprozess nicht beachtet wird. Darum muss Marx’Arbeitswerttheorie u.a. von neoricardianischen Modellen unterschieden werden.  

Für Müller ist der Wert identisch mit der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit. Zugleich erkennt er an, dass eine Arbeitsstunde eines Ingenieurs so viel Wert schaffen kann wie drei Stunden eines Straßenfegers.[13] Ihm bleibt also nichts anderes übrig, als die Kompliziertheit der Arbeit im Begriff der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit zu verankern. Deshalb hält er es für möglich, dass „die Kompliziertheit der Arbeiten bereits in die Kategorie der gesellschaftlich notwendigen Arbeit eingeflossen ist“ (Müller in Z 130: 153), bringt dafür über keinen einzigen Beleg. Seine mathematische Idee, „dass das Produkt aus der tatsächlich geleisteten Durchschnittsarbeit mit ihrem Kompliziertheitsgrad erst die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit ergibt […]“ (ebd.), ist eine reine Erfindung. Sie steht im Widerspruch zu der von Marx wiederholt niedergelegten Auffassung, dass die gesellschaftlich notwendige  Arbeit anhand der Zeit (Tag, Stunde etc.) gemessen werden muss. Bekanntlich messen Uhren zwar die Zeit, sind aber nicht in der Lage, den Kompliziertheitsgrad der Arbeit zu messen.

Müller schlägt vor, die anhand der Durchschnittsarbeit (!) gemessene Zeit mit dem Kompliziertheitsgrad zu multiplizieren, um die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit einer komplizierten Arbeit zu bestimmen. Doch wie soll das denn gehen? Werte werden durch die abstrakt menschliche Arbeit gebildet, die ihrerseits stets an die konkrete Arbeit gebunden sind – was Müller ebenfalls so sieht. (Z 130: 150 f.) Der Umfang der abstrakten Arbeit kann nur anhand der Dauer der mit ihr verbundenen konkreten Arbeit gemessen werden. Wie will man denn die (durchschnittliche und gesellschaftlich erforderliche) Dauer einer konkreten und komplizierteren Arbeit eines Ingenieurs anhand der einfachen Durchschnittsarbeit eines Straßenfegers bestimmen? Selbst wenn man genau wüsste, dass die Bildungskosten der Arbeitskraft eines Ingenieurs dreimal so hoch sind wie die eines Straßenfegers, heißt das ja nicht, dass der Straßenfeger dreimal so lange wie der Ingenieur benötigt, um dieselbe Arbeit zu leisten! Vielmehr wird es so sein, dass er sie überhaupt nicht zuwege bringt. Man kann die (gesellschaftlich notwendige) Arbeitszeit des Arbeitsprozesses eines Ingenieurs unmöglich anhand der Dauer des Arbeitsprozesses einer durchschnittlichen Arbeitskraft messen. Das muss man auch nicht, da Marx davon ausgeht, dass die Dauer genau derjenigen Arbeit maßgeblich ist, die den Wert einer bestimmten Ware produziert hat. Das schließt die Einbeziehung des Kompliziertheitsgrades in die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit aus.

Zu den restlichen Kritiken

(i) Argumente, die sich nicht auf Belege aus dem „Kapital. Erster Band“ stützen, betrachte ich prinzipiell für weniger relevant, auch wenn ich sie hin und wieder kommentiere und als Beispiel heranziehe. Diese Einstellung hat nichts mit einer Missachtung editorischer Arbeit und dogmengeschichtlicher Akkuratesse zu tun, sondern im Gegenteil, sie dient dieser Akkuratesse. Mein Anspruch, die ökonomische Theorie von Marx mathematisch modelliert zu haben, bezieht sich ausschließlich auf die deutschsprachige Fassung des „Kapital. Erster Band“ in der 4. Auflage von 1890 und auf einen winzigen Teil des dritten Bandes. Hinweise, dass der eine oder andere Sachverhalt in den Vorarbeiten anderes dargestellt wird, sind irrelevant, weil ein späterer Erkenntnisstand zwar durch einen früheren besser verstanden, aber niemals korrigiert werden kann. Müller räsoniert, ob und inwiefern ein bestimmter Satz in der französischen oder in der englischen Ausgabe einen Beitrag zur Entscheidung unseres Streits beitragen kann. Es ist aber nicht sehr wahrscheinlich, dass das Weglassen oder Hinzufügen einer einzigen Aussage etwas an einem Modell ändern könnte, aus dem Dutzende von Aussagen korrekt abgeleitet worden sind, die sowohl in der deutschen als auch in der englischen und französischen Ausgabe zu finden sind.

(ii) Im Übrigen drückt der von Müller als „unzweideutig“ hervorgehobene Satz (Z 130: 155) sehr gut auch meine Position aus. Der Satz lautet: „Wir kennen jetzt die Substanz des Werths. Es ist die Arbeit. Wir kennen sein Größenmaß. Es ist die Arbeitszeit.“ (MEGA II/5: 21) So wie das Größenmaß der Leinwand keine Leinwand ist, sondern ein anderes Ding, mit der man ihre Größe messen kann, so ist auch das Größenmaß des Werts ein anderes Ding, mit dem man die Größe des Werts messen kann, und das ist die Arbeitszeit. Eine Messung wäre nicht einmal vorstellbar, geschweige denn möglich, wenn Arbeitszeit und Wert identisch wären.

(iii) Eine Reihe von Argumenten Müllers erledigen sich, wenn man die Konsequenzen aus der obigen Darstellung zieht. Beispiel ist Müllers zweiter Beleg für die „unzähligen Textstellen“, die seine Position stützen sollen: „Als Werte sind alle Waren nur bestimmte Maße festgeronnener Arbeitszeit.“ (MEW 23: 54) Festgeronnen und vergegenständlicht ist die (abstrakte) Arbeit, deren Maß ist die (durchschnittliche und notwendige) Arbeitszeit. Marx verwendet den Begriff des Maßes im Unterschied zu Hegel (Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 107) in der Bedeutung eines Objekts, dass das Quantum eines anderen Objekts misst. Dieser Begriff verbindet also stets unterschiedliche Objekte miteinander: Das Maß der Leinwand ist für Marx die Elle, und nicht selbst wieder Leinwand.

(iv) Der dritte Beleg Müllers ist nach Punkt (i) zwar irrelevant, lässt sich aber kommentieren: „Der in der Ware enthaltene Wert ist gleich der Arbeitszeit, die ihre Herstellung kostet…“ (MEW 25: 52)

Marx ist Dialektiker. Die Gleichheit basiert bei ihm auf der Verschiedenheit der Objekte, die gleichgesetzt werden. Man denke zum Beispiel an die einfache Wertform, die auch durch das Gleichsetzen verschiedener Objekte (Waren) zustande kommt. Von einer definitorischen Identität ist dabei niemals die Rede. Marx hat keine Theorie geschaffen, die auf lauter analytischen (definitorischen) Wahrheiten beruht, sondern eine gehaltvolle Theorie, die etwas über die ökonomische Realität einer warenproduzierenden Gesellschaft und ihre kausalen Zusammenhänge aussagt.

Fazit

Die Arbeitszeit zur Herstellung einer Ware ist für Marx und die gesamte werttheoretische Tradition eine wesentliche Determinante ihres Werts und damit auch ihres Tauschwerts. Im Unterschied zu seinen Vorgängern präzisiert Marx diesen kausalen Zusammenhang mit Hilfe der gesellschaftlichen Notwendigkeit eines bestimmten Arbeitsaufwandes und durch eine quantitativ exakte Erfassung weiterer werttheoretisch relevanter Aspekte wie Produktivität, Intensität und Kompliziertheit der Arbeit. Die von Müller behauptete Identität von Wert und gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit sowie die ständige Verwechslung von Arbeit und Arbeitszeit beruhen auf einer ungenügenden Berücksichtigung der Marx’schen Begrifflichkeit. Sie führen zu einer Reihe von vermeidbaren Problemen bei der Interpretation des „Kapital“ – u. a. zu der in Müllers Büchern anzutreffenden Arbeitszeitrechnung, die Marx’ Wertrechnung verkürzt und damit verzerrt darstellt.

[1] Klaus Müller, Wert, Preis und Arbeitszeit – einige Ergänzungen, in Z 130 (Juni 2022), S. 149-159.

[2] Georg Quaas, Arbeitszeit und Wert in der ökonomischen Theorie von Karl Marx, in Z 128 (Dezember 2021), S. 75-81.

[3] Wolfgang Fritz Haug, Vorlesungen zur Einführung ins ‚Kapital‘, Köln 1974, S. 58 ff.

[4] Dionysios (Bischof von Alexandria) bei Eusebios, Vorbereitung auf das Evangelium, in: Griechische Atomisten, Texte und Kommentare zum materialistischen Denken der Antike, Leipzig 1973, S.124.

[5] Klaus Müller, Auf Abwegen. Von der Kunst der Ökonomen, sich selbst zu täuschen, Köln 219, S. 168 ff.

[6] Vgl. Luigi L. Pasinetti, Vorlesungen zur Theorie der Produktion, Marburg 1988.

[7] Georg Quaas, Die ökonomische Theorie von Karl Marx, Marburg 2016.

[8] Georg Quaas, Die ökonomische Theorie…, a.a.O., S. 70 ff.

[9] Klaus Müller, Knut Hüller, Der Dialog. Ein Gespräch über Sinn und Unsinn der politischen Ökonomie, Kassel 2023, Klappentext.

[10] Vgl. dazu Georg Quaas, Wertform-Analyse und Zeitmessung, Peter Rubens Messtheorie reloaded, Marburg 2023.

[11] Friedrun Quaas, Georg Quaas, Zum Verhältnis von Wert, Preis und Grundrente im "Kapital" von Karl Marx, in: Arbeitsblätter zur Marx-Engels-Forschung, Heft 21, Halle (Saale) 1986, S. 60-69.

[12] Vgl. z.B. Luigi L. Pasinetti, Vorlesungen…, a.a.O., S. 97. Ebenso Schefold, Steedman, Morishima, Seton, Bródy – um nur einige Namen zu nennen.

[13] Klaus Müller, Georg Quaas, Kontroversen über den Arbeitswert. Eine polit-ökonomische Debatte, Potsdam 2020, S. 186 ff.