Nach wie vor stehen die Zeichen auf Krise: Dies gilt für
die Fortdauer der „Großen Krise“ des
Finanzmarktkapitalismus, die Ende 2007 über die
kapitalistische Welt hereinbrach, für die sich abzeichnende
konjunkturelle Krise in Europa, die Krise der Eurozone und der EU
insgesamt. Welche Rolle spielen die bundesdeutschen Gewerkschaften
in dieser Krise, welche Rolle weisen sie sich selber zu, welche
Rolle könnten sie spielen? Das ist Thema des Schwerpunktes des
vorliegenden Heftes „Gewerkschaften und
‚Systemfrage’“.
Ausgangspunkt der Überlegungen von Frank Deppe ist die
Tatsache, dass die Gewerkschaften im letzten Viertel des 20.
Jahrhunderts in den alten Zentren des Kapitalismus mit dem
Siegeszug des Neoliberalismus deutlich geschwächt wurden.
Gegenwärtig wird auf europäischer Ebene mit der
Fokussierung auf die Staatsschulden dieses Programm weiter
umgesetzt. „Fiskaldiktatur“, Demokratieabbau und das
Anziehen des Nationalismus sind Stichworte. Deppe verweist darauf,
dass auch in der herrschenden Politik von einer
„Systemkrise“ gesprochen wird, in der systematische
Alternativen gefordert sind. Dieser Systemkrise müssten sich
die Gewerkschaften stellen und eigenständige Antworten
entwickeln. Es komme darauf an, „die Systemfrage mit der
konkreten Interessenvertretung und mit der Alltagserfahrung der
arbeitenden Menschen sowie der Prekären und Ausgegrenzten zu
vermitteln“.
Hans-Jürgen Urban fragt, ob die Gewerkschaften als
Interessenorganisationen derer, die zu Opfern der Finanzmarktkrise
geworden sind, „Träger einer neuen
Kapitalismuskritik“ sein können. Er konstatiert bei den
Gewerkschaften eine sukzessive Abkehr von dezidierter Systemkritik
(z.B. im DGB-Grundsatzprogramm von 1996) und eine Rücknahme
ihrer Gestaltungsansprüche auf die Interessenwahrnehmung der
Lohnabhängigen innerhalb der jeweiligen Kapitalismusformation.
(Urban setzt sich in diesem Rahmen kritisch mit neueren Arbeiten
des Gewerkschaftstheoretikers Müller-Jentsch auseinander.)
Zweifellos gebe es Zeichen einer Revitalisierung der Gewerkschaften
im Zusammenhang mit keineswegs selbstverständlichen
Defensiverfolgen im Zuge der Krisenbekämpfung. Aber sie seien
mit Verzicht auf „systemoppositionellen Widerstand sowie
soziale und politische Militanz“ erkauft. Angesichts der
Krisenerfahrungen ist, so Urban, „eine Erneuerung der
gewerkschaftlichen Kapitalismuskritik“ angesagt, die die
kapitalistischen Eigentumsstrukturen und die finanzkapitalistische
Profitlogik nicht weiter als Tabus akzeptiert.
Felix Syrovatka geht der strategischen Orientierung der
bundesdeutschen Gewerkschaften auf einen
„Wettbewerbskorporatismus“ kritisch nach, die er als
eine – zwar immer umstrittene und umkämpfte, aber
letztlich dominierende – Reaktion der Gewerkschaften auf den
offenen Siegeszug des Neoliberalismus seit den frühen 1980er
Jahren charakterisiert. Sie bewirkte de facto eine Integration in
das „Exportmodell Deutschland“ und ließ die
Gewerkschaften ohne wirksame strategische Gegenstrategie in einer
Position der Defensive verharren. Mit dem Ausbruch der Finanz- und
Wirtschaftskrise 2008/2009 nahm sie die Form eines
„Krisenkorporatismus“ an, der zwar dazu beitrug, allzu
massive Arbeitsplatzverluste abzufangen, der sich aber auch
zunehmend als strategische Sackgasse erwies und den Bedarf nach
einer Revitalisierung gewerkschaftlicher Strategien
offenbarte.
Grundlage der Artikel von Achim Bigus und Thomas Goes sind zwei
aktuelle sozialwissenschaftliche Studien zum Arbeiterbewusstsein in
der Krise. Während Bigus die Ergebnisse auch vor dem
Hintergrund gewerkschaftlicher Kämpfe bei dem mittlerweile
stillgelegten Osnabrücker Automobilzuliefererwerk Karmann
vorstellt und diskutiert, ist Thomas Goes’ Zugang von der
Leitfrage „Wie ist es um die mit der Lohnarbeitsfrage
verbundenen Legitimationsprobleme im Gegenwartskapitalismus
bestellt?“ geprägt. Bigus unterstreicht u.a. das in den
Studien konstatierte erhebliche Protestpotenzial und die
„adressatenlose Wut“. Er ergänzt diese Diagnose um
die Beobachtung, dass die aktive Beteiligung an Kämpfen, den
Blick von Beschäftigten auf gesellschaftliche
Zusammenhänge auszuweiten imstande ist. Er plädiert
insofern für eine Politisierung der Gewerkschaftsarbeit und
ein Abrücken von Stellvertreterpolitik. Goes zufolge lassen
sich derzeit durchaus Legitimationsdefizite in Form von
Ungerechtigkeitsgefühlen und scharf formulierter Kritik an den
Eliten konstatieren. Aber: Es komme nicht zu offenen Konflikten,
Mobilisierungspotenziale blieben blockiert. Warum das im Einzelnen
so sei, bedürfe indes weiterer Erhebungen.
Sarah Hinz und Daniela Woschnack untersuchen die Auswirkungen der
Metall-Tarifrunde 2012 auf mögliche
Revitalisierungsansätze in der Strategie der IG Metall. Sie
stützen sich dabei auf eine eigene Studie in Bereichen des IG
Metall-Bezirks Frankfurt. Die Autorinnen zeigen, wie der Tarifkampf
nach Jahren der Lohnzurückhaltung positive Ergebnisse
erbrachte und inwieweit dies mit einer erfolgreichen Mobilisierung
der Belegschaften zusammenhing. Sie betonen die Bedeutung einer
stärkeren Gewichtung qualitativer Elemente, etwa was das
Engagement für prekarisierte Beschäftigtengruppen
betrifft.
Gewerkschaftliche Ansätze zum Thema
„Wirtschaftsdemokratie“ diskutiert Paul Oehlke am
Beispiel von drei neuen Publikationen. Der Ausgangspunkt ist auch
hier die Einsicht, dass korporatistische Einbindung in den Zeiten
der neoliberalen Offensive die Gewerkschaften in eine strategische
Sackgasse geführt hat. Die Autoren der diskutierten Studien
sehen die Erosion demokratischer Sozialstaatsnormen als eine
existenzielle Herausforderung für die Gewerkschaften und
versuchen, ihr arbeitsdemokratische Impulse von unten als Grundlage
erweiterter gesellschaftspolitischer Aktivierungen und
wirtschaftsdemokratischer Transformationsbestrebungen entgegen zu
setzen.
Ideologietheorie II: Im laufenden Heft dokumentieren wir einen
Briefwechsel zwischen Jan Rehmann und Thomas Metscher, der die in Z
90 (Juni 2012) begonnene Diskussion über marxistische
Ideologietheorie fortsetzt. In ihm loten Rehmann und Metscher
Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihren Ansätzen aus
und skizzieren weiterführende Forschungsfragen. Claudius
Vellay setzt sich im zweiten Teil seines Aufsatzes zu
Lukács’ späten Überlegungen zum
Entfremdungsbegriff insbesondere mit der Rolle der Religion
auseinander. Er rekonstruiert Differenzen zwischen Lukács
und Bloch, aber auch zwischen Lukács und Gramsci, und
diskutiert kritisch Uwe Jens Heuers Neukonzeptionierung des
Zusammenhangs von Marxismus und Glauben.
Marx-Engels-Forschung: Rolf Hecker und Jörn Schütrumpf
berichten über den aktuellen Stand der Neuausgabe der
Marx-Engels-Werke (MEW). Sie legen die Editionsprinzipien offen und
gehen auf das Verhältnis dieser klassischen
„Studienausgabe“ zur Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA)
ein.
Geschichte des Sozialismus: An das Werk des marxistischen
Rechts-Theoretikers Uwe Jens Heuer erinnert Hermann Klenner. Karl
Heinz Gräfe behandelt in einer Detailskizze den repressiven
Umgang der sowjetischen Staatsmacht mit den wenig bekannten
Arbeiterunruhen in Novočerkassk im Jahr 1962. Er ist für
Gräfe ein Ausdruck der Unfähigkeit der damaligen
sowjetischen Staats- und Parteiführung, in ihnen Hinweise auf
den tatsächlichen Zustand der Gesellschaft zu erkennen und
insofern auch eine vertane Chance, Ansätze zur Erneuerung des
Sozialismus zu finden. Wurzeln autoritärer Tendenzen im
Sozialismus thematisiert Jörg Wollenberg in seinem Beitrag zu
„Basisdemokratie und Arbeiterbewegung“ aus Anlass der
Festschrift für Günter Benser. Der Konflikt zwischen
Basisdemokratie und Zentralismus ist für Wollenberg ein
durchgehendes Kennzeichen der Geschichte der Arbeiterbewegung seit
dem 19. Jahrhundert. Zahlreiche basisdemokratische Bestrebungen und
die unterschiedlichen Gründe ihres Scheiterns stellt der Autor
in seinem Beitrag vor. Z-Autor Werner Röhr hat eine
umfangreiche zweibändige Darstellung zur
DDR-Geschichtswissenschaft vorgelegt. Die Geschichtswissenschaft
der DDR hat sich, so Alexander Bahar in seiner Besprechung des
ersten Bandes, zwischen produktivem Geschichtsmaterialismus und
teleologischen Annahmen bewegt.
Weitere Beiträge: Einen Überblick zur Entwicklung der
Staatsschuldenkrise in Griechenland gibt Marcia Frangakis. Sie
verweist auf die deformierende Wirkung der Integration
Griechenlands in die EU und EURO-Zone auf die Wirtschaft des Landes
und die extremen Auswirkungen des von der Troika aufgezwungenen
Austeritätskurses. Dieter Boris setzt sich kritisch mit
verschiedenen Positionen der lateinamerikanischen Linken
auseinander, die in einem von der Rosa-Luxemburg-Stiftung
herausgegebenen Sammelband „Demokratie, Partizipation,
Sozialismus. Lateinamerikanische Wege der Transformation“
vertreten werden. Berichte und Rezensionen betreffen aktuelle
Debatten u.a. zu Fragen der Gewerkschaften und
Wirtschaftsdemokratie, zur Geschichte des Sozialismus und zur
internationalen Politik.