Editorial

Dezember 2023

In den thematischen Schwerpunkten der letzten Hefte unserer Zeitschrift spiegelt sich das mit der ungleichen Entwicklung im heutigen internationalen Kapitalismus wachsende Krisen-, Konflikt- und Gewaltpotential wider. Es schlägt sich in globalen Kämpfen um Veränderungen der Weltordnung auf den verschiedenen Feldern ökonomischer, politischer und territorialer Beziehungen und Strukturen und in regionalen Kriegen niederschlägt – zuletzt in der gewaltgeladenen Eskalation des Krieges um Gaza im Nahen Osten, mit allen Rückwirkungen auf das ideologisch-politische Klima in der Bundesrepublik und Versuchen aus dem Regierungslager heraus, Kriegsbereitschaft und -stimmung zu fördern. Das vorliegende Heft wendet sich den Krisenprozessen insgesamt zu.
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Der Begriff »Multiple Krise« – andere sprechen von »Vielfach-« oder »Polykrise« – erlebt seit einiger Zeit große Konjunktur und ist inzwischen festes Vokabular nahezu im gesamten politischen Spektrum. Daher könnte er auf den ersten Blick für substanzielle Analysen gegenwärtiger Krisenerscheinungen als unbrauchbar erscheinen. Dominik Feldmann fasst dem gegenüber die multiple Krise als Gesamtheit von Krisenphänomenen, die auf eine große Krisenperiode im Kapitalismus hindeuten, und fragt nach dem inneren Zusammenhang und der Dynamik der Krisenerscheinungen in Ökonomie, Politik und in den gesellschaftlichen Natur-Verhältnissen. Auch wenn der Formwandel des Kapitalismus für die multiple Krise eine besondere Rolle spielt, gilt es, wie Feldmann betont, eine ökonomistische Perspektive auf die vielfältigen Krisen zu vermeiden. Michael Schwan analysiert die aktuellen wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen der USA und Deutschlands. Hauptmerkmal sei eine Stärkung der wirtschaftlichen Rolle des Staates, allerdings eher im Sinne eines »de-risking« zugunsten des Privatkapitals. Ob dies zu einer Überwindung des Neoliberalismus führen werde, hänge vom Ausgang der laufenden sozialen Auseinandersetzungen ab. Einen theoriegeschichtlichen Zugang zur Analyse großer Krisen liefert Rolf Czeskleba-Dupont mit Bezug u.a. auf Jánossy, Kondratieff, Wallerstein und Jason Moores Analyse der »kapitalogenen Klimakrise« sowie Tjadens Überlegungen zu einer arbeitsorientierten Reproduktionsstrategie. Judith Dellheim zeigt in ihrem Beitrag, in welchem Ausmaß in der Bundesrepublik organisierte Kapitalvertretungen wie der BDI den wirtschaftspolitischen Kurs maßgeblich (mit)bestimmen. Sie konzentriert sich hierbei auf Rüstungspolitik und -wirtschaft und zeigt, wie die »Zeitenwende« insbesondere für die Rüstungsindustrie massive Gewinne verspricht und gleichzeitig zur Verschärfung der multiplen Krise beiträgt.

Die Corona-Krise hat das gesellschaftliche Bewusstsein für die »systemrelevante« Bedeutung reproduktiver Tätigkeiten, zugleich aber auch ihre systematische Vernachlässigung offengelegt. Lena Reichardt kritisiert, dass diese – meist von Frauen und von migrantischen Arbeitskräften verrichteten – Tätigkeiten den kapitalistischen Produktionsinteressen untergeordnet sind. Emanzipationsgewinne von Frauen durch erweiterte Erwerbsbeteiligung gehen mit ihrer systematischen Doppelbelastung, teilweise auch mit dem stärkeren Zugriff auf migrantische Dienstleistungen einher. John Bellamy Foster begründet die Notwendigkeit eines Degrowth-Postwachstums zur Eindämmung der globalen Umweltkrisen. Dies setzt gesellschaftlich-planmäßiges Vorgehen voraus. Foster stellt im ersten Teil seines Beitrags die Überlegungen von Marx und Engels zu einer solchen ökologischen Planung vor.

Die AfD kann als Produkt der Vielfachkrisen der letzten Jahre betrachtet werden. Sebastian Friedrich zeichnet Vorlauf und Aufstieg der AfD im Zuge der Finanzmarkt- und Euro-Krise nach. Zusammen mit der Krise des Konservatismus und dem massiven Vertrauensverlust einer Politik, die scheinbar jede Kontrolle über die Begleiterscheinungen des global entfesselten Kapitalismus verloren hat, ebnete sie den Weg für den Aufstieg des rechten Autoritarismus.

Eine Online-Diskussion zu diesem Heft ist für Anfang Dezember geplant; Vorankündigung / Zugang ‚ sh. unsere Social-Media-Auftritte und www.zeitschrift marxistische-erneuerung.de

Frank Deppe nimmt das Stichwort der »großen Krise« auf, wobei er betont, dass die ökomischen Krisenprozesse heute durch die Veränderungen der globalen Kräfteverhältnisse (von Klassen und Staaten) und die Auseinandersetzung um die neue Weltordnung überdeterminiert werden. Während die real existierenden Widersprüche nach gesellschaftlichen, nicht nach privatkapitalistischen, also nach sozialistischen Lösungen verlangten, seien die politischen und sozialen Kräfte, die solche Lösungen durchsetzen könnten, nach wie vor sehr schwach. Deppe ver weist mit historischem Rückgriff auf die Notwendigkeit, die unterschiedlichen Proteste gegen Austeritätspolitik, Umweltzerstörung und Krieg nicht gegeneinander auszuspielen, sondern zu bündeln und die Fragen nach Zielen und Wegen sozialistischer Transformation neu zu stellen.
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Die in Z 134 in mehreren Beiträgen nicht nur für die Bundesrepublik konstatierte Tendenz zu einer Belebung der betrieblichen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen setzte sich im ersten Halbjahr 2023 fort; Sebastian Liegl und Juri Kilroy konstatieren eine gegenüber dem Vorjahreszeitraum gewachsene Konfliktzahl und ein gleich hohes Niveau an Streikaktivitäten. Zu diesen Konflikten gehörte der intensive Arbeitskampf im Bereich der Deutschen Bahn, der mit einem auch in der Mitgliedschaft der EVG nicht unumstrittenen Schlichtungsergebnis endete.
Andreas Müller gibt einen Insider-Bericht zum Verlauf des Konflikts, der Entwicklung der Kampfbereitschaft der Belegschaften, dem sehr komplexen Schlichtungsergebnis und der Diskussion darum bei Beschäftigten und in der Gewerkschaft.
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Marx-Engels-Forschung: Konrad Lotter lotet unterschiedliche Bedeutungsdimensionen des Begriffs der »Notwendigkeit« bei Marx aus – als Gegenbegriff zur Freiheit und als Gegenbegriff zum Zufall. Im Zentrum von Lotters Überlegungen steht dabei insbesondere das Verhältnis von Notwendigkeit und Gesetzlichkeit und dessen Implikationen für ein materialistisches Geschichtsverständnis. Timm Graßmanns auf der Grundlage der MEGA vorgelegtes Buch zu Marx‘ Forschungen zur Krisenentwicklung diskutiert Sebastian Gerhard vor dem Hintergrund der krisentheoretischen Problemlagen. Weitere Beiträge: Im Kontext sich zuspitzender Verteilungskonflikte spielt die Inflation derzeit eine zentrale Rolle. Malte Kornfeld zeigt, dass es zwar einen empirischen Zusammenhang zwischen Löhnen und Preisen gibt, dass aber die gängigen, mit der Kategorie der Lohn-Preis-Spirale arbeitenden Erklärungen zu kurz greifen. Entscheidend für den Zusammenhang seien die jeweiligen Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit. Die heftigen Auseinandersetzungen um die von der Ampelkoalition zurückgestutzten Pläne zur Kindergrundsicherung haben die Debatten zum Thema Kinderarmut in Deutschland befeuert. Michael Klundt zeigt in seinem Beitrag, wie auch von Teilen der Wissenschaft und Publizistik reale Armut begrifflich und mit veränderten Berechnungsmethoden unsichtbar gemacht werden soll. Ronald Friedmann lässt in einem konzentrierten Aufsatz die Ereignisse und Konflikte des Jahres 1923 zwischen Ruhrbesetzung, weitgehend ausgefallenem »Deutschen Oktober«, Hitlerputsch und Einführung der Rentenmark, die faktisch die Hyperinflation beendete, Revue passieren.
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Zeitschriftenschau, Berichte, Buchbesprechungen: Zu diesen kleinen Formen tragen viele Autorinnen und Autoren bei, in ihnen steckt viel Arbeit. Dabei wird auch auf Fragestellungen eingegangen, die in den vorgenannten Beiträgen behandelt werden. Dies gilt z.B. für die Überlegungen zu »politischem Kapitalismus« als neues Akkumulationsregime in der „New Left Review“ (174ff.), die Berichte zur Marxistischen Studienwoche 2023 über »Multiple Krise« (180ff.), zur Geschichte spontaner Streiks (183ff.) oder zum Zivilklausel-Kongress, der sich gegen aktuelle Versuche einer Militarisierung der Hochschulen richtete (195ff.).
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Aus der Redaktion: Luca Karg und Maurice Laßhoff sind wegen anderweitiger Belastungen aus der Redaktion ausgeschieden; ihnen gilt unser Dank für ihre bisherige Beteiligung. Mit Martin Hundt und Thomas Kuczynski haben wir zwei bedeutende marxistische Forscher verloren, denen wir bemerkenswerten Beiträge zur Marx-Engels-Forschung und zur Kapitalismusanalyse verdanken. Sie werden uns fehlen.
Hinweisen möchten wir auf die neugestaltete Homepage der »Z«, die sich wie immer unter http://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/ finden lässt. Wir freuen uns über euren Besuch dort und auch darüber, wenn ihr die Seite weiterempfehlt oder verlinkt. Heft 137 (März 2024) wird die in Z 132 begonnene Diskussion zu Lohnabhängigenbewusstsein erneut aufnehmen.

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