Legitimationsprobleme im Gegenwartskapitalismus?

Überlegungen zu neueren Befunden der Arbeits- und Krisenbewusstseinsforschung

von Thomas Goes
Dezember 2012

1. Legitimationsprobleme heute?

In den frühen 1970er Jahren entwickelte sich in den deutschen Sozialwissenschaften vor dem Hintergrund von Studentenbewegung und militanteren Streikkämpfen (Stichwort: Septemberstreiks) eine Debatte über Legitimationsprobleme innerhalb des Spätkapitalismus (vgl. Offe 2006: 7-9). Legitimation bedeutet Rechtfertigung, im damaligen Zusammenhang war damit in Anlehnung an Max Weber die Rechtfertigung von Herrschaft bzw. eines konkreten (nämlich: demokratisch-kapitalistischen) Gesellschaftssystems gemeint. Die Anerkennung der Rechtfertigungsversuche lässt sich als Legitimitätsglauben der Beherrschten verstehen (vgl. Kopp/Müller 1980: 15), dessen Erzeugung und Sicherung auf Seiten der Beherrschten als eine der Grundbedingungen für die systemkonforme soziale Integration von Menschen (vgl. Bielefeld: 2008: 27-34; Habermas 1979: 12-15) gilt. Wenngleich sie nicht unumstritten blieben (vgl. z.B. Mattick 1969), waren in der damaligen Debatte doch Diagnosen prominent, die von einer weitreichenden konfliktmildernden Regulierung der mit der Lohnabhängigenexistenz verbundenen ‘sozialen Frage’ ausgingen. Die Institutionalisierung des Klassenkonfliktes durch ein integrativ wirkendes System betrieblicher und überbetrieblicher ‘industrieller Beziehungen’ und ein auf die Funktionsstörungen von Märkten ausgerichteter keynesianischer Staatsinterventionismus schienen in der Lage zu sein, dem strukturell gegebenen Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital (bzw. deren jeweiligen Fraktionen) die Spitze zu nehmen. Dem Klassenkonflikt selbst wurde in der akademischen Debatte kaum mehr zugetraut, Legitimationsprobleme hervorzubringen und Anlass einer Radikalisierung der ArbeiterInnenbewegungen zu werden.

Und heute? 40 Jahre später scheinen sich Entwicklungstrends, die in der damaligen Debatte für stabil gehalten wurden, umgekehrt zu haben. Wie der französische Ökonom Michel Husson feststellt, strebt der Gegenwartskapitalismus „in der Tendenz nach einem Funktionieren in Reinform, weil er nach und nach alle Beschränkungen abzustreifen sucht, die ihn in der Vergangenheit reguliert oder gefesselt haben. [….]. Diese Bewegung entwickelt sich in zwei großen Tendenzen: Die Arbeitskraft wird neuerlich zu einer reinen Ware gemacht und es bildet sich ein wirklicher Weltmarkt heraus. Es handelt sich somit um einen Kapitalismus ohne Wenn und Aber [….]“ (Husson 2009: 7), genauer gesagt: ‘Kapitalismus pur’. Das gilt vergleichbar auch für die Bundesrepublik, wobei sich pointiert folgende Entwicklungen unterscheiden lassen: Der Sozialstaat straft und aktiviert die aus der Kapitalverwertung ‘freigesetzte’ Arbeitskraft, Arbeitsmärkte wurden dereguliert und eine Wettbewerbsstaatlichkeit (vgl. Hirsch 1996) durchgesetzt. Arbeitskräfte konkurrieren heute in globalem Maßstab (vgl. exemplarisch Moody 2001). Auf unternehmerischer und betrieblicher Ebene entwickelten sich Regime, die auf einer maximalen Mobilisierung der Arbeitskraft für den Arbeitsprozess basieren, gleichbedeutend mit einer Intensivierung des Ausbeutungsprozesses. Stichpunktartig sei hier auf neue Formen der Marktsteuerung der Lohnarbeit (z.B. durch Profit-Cost-Center), Leistungsbewertung und Arbeitssteuerung (z.B. auf kontinuierliche Verbesserung abzielendes Qualitätsmanagement), schlanke Produktion und stärker auf prekäre Arbeitsverhältnisse setzende unternehmerische Personalstrategien hingewiesen. Parallel zu dieser Optimierung und Flexibilisierung betrieblicher Ausbeutungsprozesse gewannen Lohnzurückhaltung (niedrige bzw. moderate Tarifabschlüsse) und Niedriglohnstrategien an Bedeutung. Und auch das institutionelle Regulationsgefüge des heutigen Kapitalismus scheint in geringerem Maße dazu in der Lage zu sein, Interessen und Ansprüche von Teilen der abhängig Beschäftigten zu repräsentieren oder gar zu befriedigen. Das betrifft das politische System[1], scheint aber auch für die Interessenrepräsentation innerhalb der ‘industriellen Beziehungen’ zu gelten.

Ist vor diesem Hintergrund die Hoffnung (der einen) bzw. die Angst (der anderen) auf/vor eine/r Renaissance von an die ‘soziale Frage’ geknüpften Legitimationsproblemen berechtigt? Erschöpfen sich gar infolge von Prekarisierung, marktzentrierter und flexibler Ausbeutung der Arbeitskraft sowie wachsender sozialer Ungleichheit die Legitimitätsressourcen der Marktwirtschaft? Und: Können diese Legitimationsprobleme möglicherweise in eine Wiederbelebung von Gewerkschafts- und ‘ArbeiterInnenbewegung’ münden?

2. Befunde der Arbeits- und Krisenbewusstseinsforschung: Neue Legitimationsprobleme?

Wenngleich sie nicht unter dem Vorzeichen der Analyse der Legitimationsprobleme innerhalb des heutigen Kapitalismus, sondern konkreter unter dem Gesichtspunkt durchgeführt bzw. veröffentlicht wurden, wie die Wirtschaftskrise verarbeitet wird, geben neuere Ergebnisse der Arbeits- und Arbeiterbewusstseinsforschung (vgl. Detje u.a. 2011a, 2011b; Dörre u.a. 2011; Holst/Matuschek 2011)[2] erste Hinweise auf eine tastend zu formulierende Antwort. Ihre Stärke – beispielsweise gegenüber Untersuchungen aus dem Feld der Gerechtigkeitsforschung (vgl. Sachweh 2010: 31-76) – liegt gerade darin, dass Deutungen der Beschäftigten in den Blick rücken, die sich sowohl auf den Betrieb wie auf ‘die Gesellschaft’ richten.

2.1 Krise ohne Konflikt?

Einer der in meinen Augen wichtigsten Befunde, die Richard Detje, Wolfgang Menz, Sarah Nies und Dieter Sauer in ihrer Studie ‘Krise ohne Konflikt?’ präsentieren, lautet, dass sich Krisenerfahrungen für heutige Beschäftigte normalisiert haben, also zu einem gewöhnlichen Bestandteil des Alltags geworden sind. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise ist zwar etwas Neues; ihre Bedeutung gewinnt sie allerdings für abhängig Beschäftigte vor dem Hintergrund verfestigter und permanenter betrieblicher Krisenerfahrungen. Seit Jahrzehnten schon habe der ökonomische Druck in den Betrieben zugenommen. Erfahren werde von den Befragten „ein Wettbewerbsregime, das sich durch permanente betriebliche Restrukturierungsprozesse mit neuen Prozess- und Produktinnovationen, Standortverlagerungen, Outsourcing, Umdefinition von Kerngeschäftsfeldern usw. auszeichnet“ (Detje u.a. 2011a: 62).

In das Zentrum ihrer Untersuchung stellen die AutorInnen die Frage, wie Lohnabhängige auf die anhaltende Wirtschaftskrise reagieren. Ihr Hauptaugenmerk gilt dabei Konfliktpotenzialen, die aus den von ihnen empirisch rekonstruierten Interessen- und Handlungsorientierungen der Befragten folgen könnten.[3] Seltenheitswert hat die Studie allein deshalb schon, weil sie versucht, an die Tradition einer an Konflikt- und Kollektivitätspotenzialen interessierten Lohnabhängigenbewusstseinsforschung anzuschließen, die einst – mit einem theoretischen und publizistischen Höhepunkt in den 1970er Jahren – zu den Kerngebieten der deutschen Soziologie gehörte (vgl. z.B. Kudera u.a. 1982; Thomssen 1982).

Während andere ebenfalls klassenorientierten Untersuchungen zum Bewusstsein von ArbeiterInnen heute deren Deutungen in erster Linie (und durchaus fruchtbar) innerhalb außerbetrieblicher Erfahrungszusammenhänge erkunden (vgl. z.B. Bell 2009), stellen Detje u.a. von vornherein den Betrieb als Erfahrungszusammenhang in den Mittelpunkt ihrer Arbeit, wodurch er als Ort von Interessenkonflikten und Konflikterfahrungen sichtbar gemacht werden kann. Im Fokus stehen daher die betriebsbezogenen Deutungen der Befragten, ohne dass dabei gesellschaftliche und politische Zusammenhänge ausgeblendet werden (vgl. Detje u.a. 2011a: 26-33). Gerade dieses Vorgehen legt den Blick frei auf eine Kontinuität von Krisenerfahrungen.

Die zentralen Befunde der mit 150 Seiten schmalen qualitativen Untersuchung lassen sich bündig zusammenfassen.

Erstens machen die Befragten eben nicht erst seit Ausbruch der anhaltenden Wirtschaftskrise Krisenerfahrungen. Die „Krise“, verstanden als eine permanente Verunsicherung, gehört vielmehr zum sich verfestigenden Bestand betrieblicher Alltagserfahrungen. „Krise“ bedeutet für die Befragten zunächst einmal der „fortwährende Druck und die permanente Unsicherheit von Beschäftigung, Einkommen und Arbeitsbedingungen […]. Als ‚Krise’ wird die beständige Restrukturierung der Abläufe im Betrieb bezeichnet: Verlagerung, Outsourcing, Kostensenkungsprogramme, zunehmende Intensität der Arbeit usw.“ (Ebd.: 137) Mit anderen Worten: Über die Jahre sei ein krisengeprägter (kollektiver) Erfahrungsschatz entstanden, der die Verarbeitung der heutigen Wirtschaftskrise beeinflusst. Auf ihm ruhend wird die gegenwärtige Krise gedeutet. Sie wird zwar als erkennbare Zäsur durch die Beschäftigten gesehen, „ordnet sich aber in zyklusübergreifende Krisenerfahrungen ein“ (ebd.: 62). Mehr noch, die Wahrnehmung der Wirtschaftskrise wird „maßgeblich gesteuert durch die jeweilige betriebliche Situation im eigenen Fall“ (ebd.: 63). Die globale Wirtschaftskrise aktualisiere diese grundsätzlichen Krisenerfahrungen gewissermaßen nur.

Zweitens beschränken sich diese Krisenerfahrungen, so die Studie, nicht allein auf betriebliche Probleme, sondern entfalten sich zu Formen einer Legitimationskrise des gesamten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems. Gerade weil die unternehmerischen Eliten im eigenen Betrieb von den Befragten nicht für die Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht werden können, verschiebt sich die Kritik auf Gesellschaft, Staat und Politik. Vorherrschend sei bei den ArbeiterInnen eine Grundhaltung der Wut und Angst: „Wut auf die Banker, auf den Staat und die Politiker und Angst, die eigene Existenz nicht mehr sichern zu können.“ (Ebd.: 102)

Drittens entwickeln sich vor dem Hintergrund bereits früher gemachter Verunsicherungen im Zuge der Wirtschaftskrise neue Angsterfahrungen, die sich mit einer Art Zukunftspessimismus verbinden. Die als permanent gedeuteten betrieblichen Krisenprozesse münden, auch aufgrund nur geringen Zutrauens in die eigene Handlungsmacht, eher in Resignation. Diese Resignation bzw. die ihr zugrunde liegenden Ohnmachtsgefühle speisen sich gerade aus einem nüchternen Realitätssinn der Befragten, aus einer „realistischen Einschätzung der ökonomischen Abhängigkeiten und der sozialen Macht- und Kräfteverhältnisse“ (ebd.: 104).

Viertens werden die Legitimationsprobleme von Staat und Politik durch Ohnmachtsgefühle und fehlendes Orientierungswissen blockiert. Sinnstiftendes Wissen, das beispielsweise die Frage beantworten kann, worin Ursachen und Triebkräfte der Wirtschaftskrise zu finden sind, fehlt insofern (vgl. Detje u.a. 2011b: 48f.). Dies ist ein wichtiger Befund, der auf das Verhältnis zwischen Erfahrung und den für ihre Verarbeitung verfügbaren Deutungsangeboten und sozialen Deutungsmustern hinweist.

Fünftens: Typisch sei schließlich eine Art Hin- und Herwechseln zwischen „abstrakter Protestorientierung und konzessionsförderlichen Ohnmachtserfahrungen“ (Detje u.a. 2011a: 107). Allerdings, darauf weisen die AutorInnen der Studie ausdrücklich hin, sollten diese Ohnmachtsgefühle nicht mit „Fatalismus“ verwechselt werden. Diese Feststellung ist zentral, da sie Implikationen für die Bewertung der politischen Handlungsperspektiven enthält, die die Verfasser entwickeln. Ich zitiere die zentrale Schlussfolgerung daher im Zusammenhang: „[...] es wird zugleich erhebliches, allerdings recht diffuses Protestpotenzial sichtbar. Die erhobenen Aussagen signalisieren eine sehr große Unzufriedenheit, die sich in vielen Fällen mit wenig Hoffnung auf baldige Veränderung verbindet. Dennoch lässt diese Wut weder auf Apathie noch Fatalismus schließen. Es handelt sich um hoffnungslose Unzufriedenheit, um Einrichten in die Lage, um den Wunsch, diese zu verändern und um die Ratlosigkeit darüber, wie das gehen könnte. Die Wut ist schon länger da, auch schon vor der Krise, und sie hat sich aufgestaut. Aber sie hat meist keinen konkreten Adressaten und wenn, dann scheinen die Adressaten meist unerreichbar. Für die meisten der Befragten finden sich die ‘Schuldigen’ – die Verursacher der Krise – nicht im Betrieb. [….] Aber daraus folgt keine Distanzlosigkeit zum Arbeitgeber und zu betrieblichen Herrschaftszusammenhängen. Der Interessengegensatz wird auch auf betrieblicher – und nicht nur gesellschaftlicher – Ebene wahrgenommen. Die Konzessionen an das Unternehmen erfolgen eher ‘zähneknirschend’ anstatt mit Überzeugung, mit dem lokalen Management in einem Boot zu sitzen.“ (Ebd.: 140f.) Mehr noch, Wut und Empörung richten sich auf Gesellschaft, Staat und Politik, wodurch plastische Widerstandsphantasien genährt werden. Insbesondere Staat und Politik „kommen […] sehr schlecht weg. [….] Politiker sind korrupt und der Staat generell machtlos […].“ (Ebd.: 144) Die Autoren nennen diese Art von Wut an anderer Stelle „adressatenlos“ (ebd.: 142). Obwohl sich so Empörung und Wut nicht nur empirisch nachzeichnen, sondern als Hinweise auf manifeste Legitimationsprobleme von Staat und Politik deuten lassen, gipfeln sie kaum in betrieblichen oder überbetrieblichen Formen kollektiver Interessenpolitik, sondern „lediglich“ in Protestphantasien. Was damit aber indirekt auch gesagt wird: Mobilisierungen, kollektive Kämpfe scheitern nicht so sehr an der Hegemoniefähigkeit der unternehmerischen Eliten, die die Beschäftigten in betriebliche (und wirtschaftssektorale) Bündnisse einbinden, indem sie deren Interessen innerhalb eines tragenden Konsens befriedigt. Im Gegenteil, es sind laut der Studie eher fehlendes Orientierungswissen und verbreitete Ohnmachtsgefühle, die verhindern, dass aus Wut und Empörung Widerstand wird.

2.2 Guter Betrieb – schlechte Gesellschaft?

Inhaltlich haben sich Detje u.a. mit ihren Befunden nicht zuletzt gegenüber Thesen abgegrenzt, die von einer Forschergruppe in Jena auf der Basis eigener quantitativer und qualitativer Untersuchungen ausgearbeitet wurden.[4] Der vordergründig zentrale Dissens betrifft die Integrationsfähigkeit und – das ist die (interessen-) politisch Pointe – damit die (de-)mobilisierende Rolle der betriebsbezogenen Deutungen von befragten ArbeiterInnen. Die Jenaer Soziologen Hajo Holst, Ingo Matuschek, Anja Hänel und Klaus Dörre entwickeln die plausible Annahme, dass der Betrieb vor dem Hintergrund einer gleichzeitig bei befragten Beschäftigten rekonstruierbaren Empörung über gesellschaftliche Entwicklungen (ja: Gesellschaftskritik), als eine Art „sicherer Hafen“ in einer ansonsten stürmischen – gesellschaftlichen – See wahrgenommen werde.[5] Demnach sind „Ungerechtigkeits- und Missachtungserfahrungen [...] bei deutschen Arbeitern und Angestellten reichlich vorhanden. Doch offenkundig fehlt ein mit Handlungsperspektiven verknüpftes intellektuelles Bezugssystem, das solche Stimmungen politisch bündeln könnte. Zwischen identitätsstiftendem Betriebs- und kritischem Gesellschaftsbewusstsein besteht subjektiv kein Zusammenhang.“ (Dörre u.a. 2011: 22) An anderer Stelle ist von einer Art ‘Verbetrieblichung’ des Arbeiterbewusstseins die Rede. Empirisch rekonstruiert werden konnte demnach „eine Form eines ‘verbetrieblichten’ Arbeitsbewusstseins. Vor dem Hintergrund einer dezidiert kritischen Perspektive auf die gegenwärtige Gesellschaft, die als Ort der Ungerechtigkeiten und Unsicherheiten wahrgenommen wird, gerät der Betrieb zum primären Bezugspunkt. Im Vergleich mit anderen Untersuchungen fällt jedoch die hohe normativ positive Identifikation der Belegschaft mit dem Standort auf: Der Betrieb stellt nicht einfach nur eine Einheit im Nahbereich dar, auf deren Entwicklung man im Gegensatz zur weitläufigen und undurchdringbaren Gesellschaft mit dem eigenen Handeln Einfluss nehmen kann, sondern wird normativ positiv als Ort der Stabilität und Sicherheit wahrgenommen – nicht zuletzt aufgrund der erfolgreich bearbeiteten Krisen, der fest verankerten Mitbestimmungskultur und der hohen Beschäftigungsstabilität.“ (Holst/Matuschek 2011: 174) Während sich zwar eine Art auf die Gesellschaft bezogene Kapitalismuskritik herausbilde, entfalte der Betrieb trotz Konflikterfahrungen eine größere Integrationskraft – eine Feststellung, die gleichwohl nicht gleichbedeutend ist mit der Unterstellung eines harmonischen „Betriebsbewusstseins“, wie die ForscherInnen mit Blick auf die Verarbeitungsweisen der befragten ostdeutschen ArbeiterInnen wissen lassen. Denn auch diese Beschäftigten seien durchaus unzufrieden mit der Situation innerhalb des Betriebes, nicht zuletzt fehle Leistungsgerechtigkeit (vgl. ebd.: 170). Außerdem sähen sie mehrheitlich den eigenen Beschäftigungsstatus als unsicher an (vgl. Dörre u.a. 2011: 29) – denn grundsätzlich, wie es weiter heißt, „wissen alle Befragten, dass es selbst in diesem für Ostverhältnisse überaus renommierten und wirtschaftlich stabilen Unternehmen keine längerfristige Sicherheit gibt. Die Krise ist daher für viele Beschäftigte letztlich ein Zustand in Permanenz. Ein Betriebsteil hat immer Probleme, weshalb der Zeithorizont für Arbeitsplatzsicherheit stets ein begrenzter ist. Insofern gründet sich das subjektive Sicherheitsempfinden primär auf der eigenen Qualifikation und Leistungsbereitschaft sowie die daran gekoppelte Antizipation individueller Chancen auf dem Arbeitsmarkt.“ (Ebd.: 30)[6]

Allerdings führen weder die konstatierbaren Unzufriedenheitsgefühle noch die Wahrnehmung von Beschäftigungsunsicherheit bei den Befragten zu einer Erosion ihrer grundsätzlich positiven Charakterisierung des ‘eigenen Betriebes’. Selbst eine permanente Verunsicherung führt demnach nicht zu Auflösungserscheinungen ihres Sonderbewusstseins (vgl. ebd.: 30f.). Das Unternehmen bleibe „für die Befragten ein Hort der Stabilität inmitten einer stürmischen See [...], den es – punktuell auch gegen die eigene Unternehmensspitze – zu verteidigen gilt.“ (Ebd.: 31) Paradoxerweise sei es zugleich dieser positive Betriebsbezug bzw. die Art des rekonstruierten ‘Sonderbewusstseins’, aus dem sich eine Kritik am globalen Kapitalismus und dessen Tendenzen speist, denen die soziale Orientierung des Unternehmens zum Opfer fallen könnte (vgl. ebd.: 32).. Was Dörre u.a. hier bezogen auf die Beschäftigten des ostdeutschen Untersuchungsbetriebs formulieren, gilt in der Tendenz auch für westdeutsche ArbeiterInnen. Auch ihnen ist eine hohe Identifikation mit dem Konzern, insbesondere mit den Unternehmensteilen in der eigenen Region eigen (vgl. ebd.: 36); auch die westdeutschen Arbeiter verfügen über ein gesellschaftskritisches Bewusstsein (ebd.: 37), die „Beschäftigten agieren vor allem als Alltagskritiker des Finanzmarktkapitalismus und seiner Verwerfungen.“ (Ebd.: 38)

Die Unterschiede zwischen den in ‘Krise ohne Konflikt?’ vorgetragenen und den Jenaer Befunden sind insbesondere dann zentral, wenn ihre möglichen interessenpolitischen Konsequenzen diskutiert werden. Denn die Analyse von Dörre u.a. macht einen ganz besonderen interessenpolitischen Handlungskorridor sichtbar, der sich möglicherweise öffnet: Die Angst vor dem Verlust betrieblicher „Errungenschaften“ kann disziplinierend wirken; die anhaltende Stabilität des empirisch umrissenen ‘Sonderbewusstseins’ stellt laut Dörre u.a. schließlich eine Quelle dar, aus der sich Loyalität und Leistungsbereitschaft speisen (vgl. ebd: 31). Darüber hinaus neige ein Teil der befragten westdeutschen ArbeiterInnen zu exklusiven Formen der Solidarität. Den Hintergrund dafür bildet eine Wahrnehmung, wonach man selbst vor dem Hintergrund der erfahrenen betrieblichen Veränderungen zu den Übriggebliebenen gehört (vgl. ebd.: 39). Damit verbunden seien zwei Grundorientierungen: Erstens vertrauen Beschäftigte darauf, dass der Sprung in relativ sichere Verhältnisse geschafft wurde, dennoch werde aber Vorsorge für den Notfall getroffen; zweitens die Orientierung bei einer Mehrzahl der Befragten, dass in Zukunft nicht jeder so mitgenommen werden könne (vgl. ebd.). Kurz: So zeichnen sich Konturen einer exklusiven Solidarität ab, wonach die eigene Chance auf Festanstellung dann wächst, wenn der Anteil der Festangestellten an der Gesamtbelegschaft möglichst klein gehalten und durch einen flexiblen Puffer prekär Beschäftigter ergänzt wird (vgl. ebd.). Wie Holst und Matuschek an anderer Stelle hervorheben, entwickelt ein Teil der Beschäftigten so eine Form der ‘kompetitiven Solidarität’, die auf die Wettbewerbsfähigkeit des ‘eigenen’ Unternehmens zielt (vgl. Holst/Matuschek 2011: 178), sich nur auf diejenigen erstreckt, die nützliche Leistung erbringen (vgl. ebd.: 189) und insofern innerhalb der Belegschaft ausgrenzend wirkt. „Für Leistungsverweigerer wird die Luft auf diese Weise auch unter den Kollegen tendenziell dünner.“ (Ebd.: 189)

Insgesamt ist vor diesem Hintergrund die pessimistische Schlussfolgerung interessant, die Matuschek und Holst mit Blick auf die interessenpolitischen Mobilisierungspotenziale des rekonstruierten Arbeitsbewusstseins ziehen: Ungerechtigkeitserfahrungen und Gesellschaftskritik gehen nicht mit einer mobilisierenden Handlungsperspektive einher. Vielmehr dominieren auch in den Jenaer Befunden Ohnmachtsgefühle und die Einschätzung, die Dinge ließen sich nicht ändern (vgl. ebd.: 177).

3. Legitimationsprobleme heute? Ungerechtigkeitsgefühle, Konkurrenz und Ohnmacht

Wie ist es also um die mit der Lohnarbeitsfrage verbundenen Legitimationsprobleme im Gegenwartskapitalismus bestellt? Kann heute noch gelten, was Jürgen Habermas als Charakteristikum des Spätkapitalismus auswies, nämlich dass dieser „durch eine die Loyalität der lohnabhängigen Massen sichernde Entschädigungs-, und das heißt: Konfliktvermeidungspolitik so sehr definiert [ist, T.G.], daß der mit der privatwirtschaftlichen Kapitalverwertung nach wie vor in die Struktur der Gesellschaft eingebaute Klassenkonflikt derjenige ist, der mit der relativ größten Wahrscheinlichkeit latent bleibt und daher hinter anderen Konflikten zurücktritt, die [….] nicht mehr die Form von Klassenkonflikten annehmen können“? (Habermas 1970: 32)

Die unter 2.1 und 2.2 diskutierten empirischen Forschungsergebnisse sprechen erst einmal eine andere Sprache. Ungerecht erscheinen Beschäftigten nicht nur betriebliche, sondern auch gesellschaftliche Entwicklungen im Allgemeinen. Von einer empörten Kritik an Politik und Banken ist die Rede. Dörre u.a. sprechen sogar von „Alltagskritikern des Finanzmarktkapitalismus“ (vgl. Holst/Matuschek 2011: 176f.). Demnach ist der Gegenwartskapitalismus durchaus mit Legitimationsproblemen in Form von Ungerechtigkeitsgefühlen auf Seiten der abhängig Beschäftigten und z.T. scharf formulierter Kritik an den ökonomischen und politischen Funktionseliten konfrontiert. Unklar ist allerdings, inwiefern Betrieb und ‘Gesellschaft’ davon in gleicher Weise betroffen sind. Von einer auf Anerkennung und Befriedigung beruhenden Einbindung der Lohnabhängigeninteressen in ein hegemoniefähiges Klassenbündnis kann, folgt man den beiden Studien, in keinem Fall die Rede sein. Andererseits führen die Legitimationsprobleme nicht zu offenen Konflikten, Mobilisierungspotenziale bleiben blockiert. Hieraus ergeben sich weitergehende Fragen, z.B.: Wie tief gehen, wie weit reichen die sichtbar werdenden Legitimationsprobleme? Wird tatsächlich „der“ Kapitalismus hinterfragt? Was trägt dazu bei, dass Legitimationsprobleme nicht zu solidarischen Mobilisierungen der doch sichtlich unzufriedenen Lohnabhängigen führen?

Das Ausmaß an Übereinstimmungen zwischen den beiden Studien ist beachtlich.

- Beide Forschergruppen konstatieren ein erhebliches Maß an Ungerechtigkeitsgefühlen bei den befragten ArbeiterInnen. Sie diagnostizieren aber zugleich wirksame Ohnmachtsgefühle, die Konflikthandeln blockieren.

- Darüber hinaus weisen sie übereinstimmend darauf hin, dass handlungsmotivierende politische Deutungsangebote fehlen, die als Voraussetzung dafür erachtet werden, dass aus Wut und Empörung Handlung werden kann. Dörre u.a. weisen auf fehlende ‘intellektuelle Bezugssysteme’ hin, Detje u.a. sprechen von fehlendem Orientierungswissen.

- Schließlich wird übereinstimmend nachgezeichnet, dass sich Ungerechtigkeitsgefühle sowohl auf betriebliche als auch auf gesellschaftliche Entwicklungen beziehen.

- Mit Blick auf die Virulenz der auf betriebliche Entwicklungen bezogenen Kritik zeigt sich ebenfalls Übereinstimmung: In ‘Krise ohne Konflikt’ wird eine Verschiebung von Wut und Empörung von betrieblichen bzw. unternehmerischen Eliten auf gesellschaftliche Akteure wie ‘die Politiker’ und ‘die Banken’ konstatiert (vgl. Detje u.a. 2011b: 54), in den Jenaer Untersuchungen eine Diskrepanz zwischen allgemeiner Gesellschaftskritik und positivem Bezug auf den eigenen Betrieb. In beiden Fällen sind es nicht in erster Linie die unternehmerischen Eliten, die Gegenstand von Kritik werden.

Die Differenzen zwischen den Befunden der beiden Forschergruppen betreffen zwei Aspekte: Erstens, welche sozialen und (interessen-)politischen Integrationspotenziale den Unternehmen bzw. Betrieben attestiert werden müssen, und zweitens, worin die Quellen und die charakteristische Dynamik der Legitimationsprobleme zu sehen sind. Beides hat direkte Konsequenzen für die erwartbaren Mobilisierungspotenziale, die mit den Legitimationsproblemen zusammenhängen.

Einig sind sich beide Arbeitsgruppen darin, dass der betriebliche Alltag heute als durch permanente Umstrukturierungsprozesse und auch beschäftigungspolitische Verunsicherung charakterisiert werden muss. Während Detje u.a. eine Kontinuität zwischen betriebs- und gesellschaftsbezogener Unzufriedenheit hervorheben, diagnostizieren Dörre u.a. einen qualitativen Bruch zwischen beidem – hier ein positives Betriebsbewusstsein, da ein negatives Gesellschaftsbewusstsein. Wird in ‘Krise ohne Konflikt’ der Betrieb als Unruheherd und zentraler Erfahrungsraum kollektiver Interessenkonflikte porträtiert, hebt die Jenaer Forschergruppe trotz des durch die Beschäftigten empfundenen Drucks und vor dem Hintergrund allgemeiner Verunsicherung die Integrationsfähigkeit des Betriebes hervor.

Die Reichweite dieser Differenz zwischen beiden Studien und ihre (interessen-)politischen Folgen lassen sich allerdings nur ermessen, wenn die zweite oben erwähnte Kontroverse ebenfalls in Betracht gezogen wird. Auch die Erklärung der gesellschaftsbezogenen Kritik der Beschäftigten unterscheidet sich:

Detje u.a. verstehen die in ihren Interviews zu Tage getretene Gesellschaftskritik als eine Art Verschiebung der Kritik an der Wirtschaftskrise von der Ebene des Betriebes (auf der Verantwortliche kaum ausgemacht werden können) auf die Ebene der Gesellschaft (Adressaten sind Politik und Banken). Wenn aber Kritik verschoben werden kann, dann muss sie bereits vorhanden sein. Mit anderen Worten: Die Zustände in den Betrieben selbst müssen die Interviewten unzufrieden machen. Anders bei Dörre u.a.: Gerade aus der positiven Identifizierung mit dem jeweiligen Betrieb folgt die Kritik an einem Finanzmarktkapitalismus, der als Bedrohung der betrieblichen Errungenschaften wahrgenommen wird. Mit Blick auf solidarisches interessengeleitetes Handeln im Rahmen betrieblicher Konflikte wirkt das von ihnen gefundene ‚Sonderbewusstsein’ demobilisierend. Stachelt es also einerseits zur Kritik an den Folgen des Gegenwartskapitalismus an, so kann es zugleich zu exklusiver Solidarität und betrieblichen Wettbewerbsbündnissen anregen.

Aus beiden Kontroversen lassen sich eine Reihe weitergehender Fragen ableiten:

Erstens: Die Frage nach den Quellen der (Gesellschafts-)Kritik macht weitere qualitative Untersuchungen wünschenswert. Nicht zuletzt müssten Ursachen, Struktur und Dynamik der neuen Legitimationsprobleme weiter erforscht werden. Zu konstatieren, dass es Ungerechtigkeitsgefühle und Gesellschaftskritik gibt, ist das eine. Aber: Woran entzündet sich das Gefühl, es ginge ungerecht zu? Welche Gerechtigkeitsvorstellungen unterliegen dem? Welche als legitim erachteten Erwartungen gegenüber unternehmerischen und politischen Eliten werden gehegt? Und nicht zuletzt: In welchem Zusammenhang stehen diese Deutungen innerhalb des Alltagsbewusstseins, das in sich widersprüchlich und ungleich entwickelt ist? Dieser Vielschichtigkeit der subjektiven Dispositionen und der sozialen Deutungsmuster (vgl. Dörre u.a. 2009: 562; Holst/Matuschek 2011: 170; Goes 2010: 73-77) sowie dem den Menschen verfügbaren Alltagswissen wäre im Rahmen einer stärker qualitativen Soziologie der Legitimationsprobleme nachzuspüren.

Zweitens ist zu fragen, welche Prozesse auf betrieblicher Ebene die trotz nachweisbarer Wut oder Empörung das Umschlagen in offene Konflikte verhindern und solidarische kollektive Mobilisierungen für eine gemeinsame Interessenpolitik blockieren. Dies betrifft u.a. die subjektiven und kollektiven Integrationsleistungen von Menschen, denen ausweislich empirischer Ergebnisse gerade kein harmonisches Interessen- und Gesellschaftsbewusstsein unterstellt werden kann, sowie konkrete betriebliche Vergemeinschaftungspolitiken, die auf die Einbindung von Beschäftigten in einen Konsens mit dem Management zielen.

Drittens: Insbesondere in den prekären Sektoren geht eine greifbare Gesellschaftskritik durchaus mit harscher Betriebskritik einher (vgl. Goes 2012). Dabei treffen Schuldzuschreibungen sowohl die ‘eigene’ Unternehmensleitung als auch politische und ökonomische Eliten im weiteren Sinne. Im Zentrum dieser aneinander gekoppelten Betriebs- und Gesellschaftskritik stehen weitreichende Missachtungsgefühle, denen der Wunsch nach Respekt und Würde sowie nach Anerkennung von erbrachten Leistungen und formulierten Interessen zugrunde liegt. Und zum anderen eine permanent enttäuschte Erwartungshaltung gegenüber Management und Politikern als verantwortliche Problemlöser und Kümmerer, deren tatsächliches Agieren gerade wegen dieser Enttäuschung als kritikwürdiges Fehlverhalten angesehen wird. Die betrieblichen Konflikte werden zugleich als Ursachen einer aufwühlenden Unruhe im jeweils eigenen Leben erkennbar. Nicht nur die Gesellschaft ist ungerecht, auch die betrieblichen Verhältnisse sind es – und gerade aus dem scheinbar alternativlosen Zurückgeworfensein auf diese Sphäre der Ungerechtigkeit erwächst ein besonderes subjektives Unruhepotenzial. Eine weitreichende positive Identifikation der Beschäftigten mit ihrem Betrieb, die möglicherweise aus der Vergangenheit rührt und ein Charakteristikum des von Dörre u.a. empirisch rekonstruierten Sonderbewusstseins ausmacht, findet sich so kaum wieder. Zwar ist auch in diesen Fällen das Erreichte – und sei es der prekäre Arbeitsplatz als Niedriglohnbeschäftigter oder Leiharbeitskraft – den Einzelnen mehr wert als das eventuell Mögliche: Auch für sie ist der betriebliche Arbeitsplatz ein Strohhalm, an den es sich zu klammern gilt. Dabei zeichnen sich z.B. Mechanismen der ‘Problemreduzierung- und -relativierung’ innerhalb der Deutungsmuster von Beschäftigten ab, durch die trotz empfundener Ungerechtigkeit die offene Artikulation von Wut und Empörung verhindert wird. Sie ermöglichen Anpassungen an die eigenen Handlungsbedingungen, die zwar nicht mit Einverständnis zu verwechseln sind, gleichwohl aber einer kritischen Auseinandersetzung mit den eigenen Arbeits- und Lebensverhältnissen vorbeugen. Insofern können subjektive Arrangements Unzufriedenheit mit herrschaftskonformen Integrationsbemühungen in Übereinstimmungen bringen. Dies und die Frage, wie stabil derartige Arrangements sind, wäre es wert, empirisch untersucht zu werden.

Viertens: Von Belang sind unternehmerische und betriebliche Vergemeinschaftungsregime, die in Anlehnung an Michael Burawoy als ‘Politics of Production’ verstanden werden können.[7] Demnach ist der Betrieb als Raum von Hegemoniekämpfen zu verstehen, die sich auch auf das Bewusstsein der Beschäftigten auswirken. Für diese ‘Politics of Production’ sind drei Faktoren von besonderer Bedeutung. Die durch die Personalstrategien der Unternehmen ins Werk gesetzten Konkurrenzbeziehungen auf den betriebsinternen Arbeitsmärkten; die (Un-)Möglichkeit für die Arbeitskräfte, sich alltäglich mit ihrer Beschäftigung zu identifizieren; die Institutionen der betrieblichen Konfliktregulierung („ein Set von Institutionen, die Kämpfe über Beziehungen in der Produktion organisieren, transformieren und hemmen”, Burawoy 1979: 110).

Wie wichtig diese Aspekte sind, wird klar, wenn man sich die unterschiedlichen betrieblichen Realitäten in Betrieben der Automobilindustrie, der Feinmechanik oder des Maschinenbaus einerseits und in prekären Dienstleistungsbranchen wie Großhandel, Logistik oder Systemgastronomie andererseits vor Augen führt. Es ist immerhin eine plausible Grundannahme, dass die unterschiedlichen Personalstrategien der Unternehmen, die konkreten Arbeits- und Lohnbedingungen der Beschäftigten und beispielsweise die Art und Weise, wie Interessenkonflikte ausgetragen werden können (oder: ob sie überhaupt ausgetragen werden können), sich darauf auswirken, wie die betriebliche und auch gesellschaftliche Realität gedeutet wird. Hajo Holst und Ingo Matuschek haben z.B. darauf hingewiesen, dass das von ihnen nachgewiesene positive Betriebsbewusstsein vermutlich nicht zuletzt durch die ausgesprochen guten interessenpolitischen Mitbestimmungsmöglichkeiten innerhalb des Untersuchungsbetriebes mitverursacht worden sei (vgl. Holst/Matuschek 2011: 175f.). Die vergleichsweise hohen Lohn- und Beschäftigungsstandards und das – zumindest in den westdeutschen Bundesländern – relativ hohe Maß an interessenpolitischer Gegenmacht, wie sie in den von Detje u.a. und von Dörre u.a. untersuchten Betrieben aus dem Organisationsbereich der IG Metall vorfindbar sind, dürfte längst nicht als Normalität der bundesrepublikanischen Erwerbsgesellschaft gelten.

Literatur

Artus, Ingrid (2008): Prekäre Vergemeinschaftung und verrückte Kämpfe. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. Nr. 1. S. 27-49. Münster.

Bell, Günter (2009): ‘Ein Stadtteil, in dem die Arbeiterklasse zu Hause ist’? Klassenbewusstsein und Klassensolidarität in sozial-räumlichen Milieus? Hamburg.

Bielefeld, Ulrich (2008): Wie weiter mit Max Weber? Hamburg.

Braverman, Harry (1977): Die Arbeit im modernen Produktionsprozeß. Frankfurt/Main und New York.

Burawoy, Michael (1985): The Politics of Production. London.

Burawoy, Michael (1979): Manufacturing Consent. Chicago.

Crouch, Colin (2008): Postdemokratie. Frankfurt/Main.

Detje, Richard/Menz, Wolfgang/Nies, Sarah/Sauer, Dieter (2011a): Krise ohne Konflikt. Interessen- und Handlungsorientierungen im Betrieb – die Sicht von Betroffenen. Hamburg.

Detje, Richard/Menz, Wolfgang/Nies, Sarah/Sauer, Dieter (2011b): Ohnmacht und adressatenlose Wut im Betrieb. Interessen- und Handlungsorientierungen in der Krise – die Sicht von Betroffenen. In: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung. S. 46-60. Frankfurt/Main.

Deutschmann, Christoph (2002): Postindustrielle Industriesoziologie. Weinheim und München.

Dörre, Klaus/Hänel, Anja/Holst, Hajo/Matuschek, Ingo (Hg.) (2012): Das Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen. Hamburg.

Dörre, Klaus/Hänel, Anja/Holst, Hajo/Matuschek, Ingo (2011): Guter Betrieb, schlechte Gesellschaft? Arbeits- und Gesellschaftsbewusstsein im Prozess kapitalistischer Landnahme. In: Koppetsch, Cornelia (Hg.): Nachrichten aus den Innenwelten des Kapitalismus. Zur Transformation moderner Subjektivität. S. 21-50. Wiesbaden.

Dörre, Klaus/Behr, Michael/Eversberg, Dennis/Schierhorn, Karen (2009): Krise ohne Krisenbewusstsein? Zur subjektiven Dimension kapitalistischer Landnahme. In: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. Nr. 4. S. 559-577. Münster.

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[1] Hinsichtlich der Selektivität des politischen Systems sei auf Colin Crouchs ‚Postdemokratie’ verwiesen. Seine leitende These geht von einer außerordentlichen Zunahme des Einflusses privilegierter Eliten aus (vgl. Crouch 2008: 13). ‘Postdemokratie’ bezeichnet Situationen, in denen sich „Langeweile, Frustration und Desillusionierung breitgemacht haben; in denen die Repräsentanten mächtiger Interessengruppen, die nur für eine kleine Minderheit sprechen, weit aktiver sind als die Mehrheit der Bürger, wenn es darum geht, das politische System für die eigenen Ziele einzuspannen [….].“ (Ebd.: 30) Umgekehrt verringern sich die Einflusschancen subalterner Bevölkerungsteile.

[2] Als der Artikel geschrieben wurde, lag das Buch ‘Das Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen’ (vgl. Dörre u.a.: 2012) noch nicht vor.

[3] Als empirische Basis der Studie dienen fünf Gruppendiskussionen und 20 Einzelinterviews, die mit Betriebsräten und Vertrauensleuten aus Betrieben der Metall-, Elektro-, Textil- und Bekleidungsindustrie geführt wurden.

[4] Im Text werden, um den gemeinsamen Forschungszusammenhang hervorzuheben, Ausführungen der Jenaer Gruppe in der Regel auch dann mit ‘Dörre u.a.’ bezeichnet, wenn explizit Einzelpublikationen zitiert werden.

[5] Die empirische Basis ihrer Untersuchung sind 450 Befragte aus einem Betrieb in Ostdeutschland und 1.600 Befragte aus einem Unternehmen der Autoindustrie aus Südwestdeutschland (vgl. Dörre u.a. 2011: 28). Anders als bei Detje u.a. handelt es sich um „Normalbeschäftigte“, nicht um betriebliche Funktionäre (Betriebsräte, Vertrauensleute).

[6] Dörre u.a. bilden für diesen Befund vier Untertypen: (a) Kritische Optimisten; (b) Unsichere Wechselbereite; (c) Sichere Loyale; (d) Passive Bleiber.

[7] Wichtige Anregungen hierzu finden sich in Arbeiten der Erlanger Soziologin Ingrid Artus. Im Fokus ihrer Untersuchungen ‘prekärer Dienstleistungsunternehmen’ steht dabei ein Vergemeinschaftungs­regime, das ein hohes Maß an interessenpolitischer Repression mit Strategien der ‘Integration durch symbolische Anerkennung’ kombiniert. Dieser ‘Herrschaftsmodus repressiver Integration’ beruht insofern auf einer Mischung repressiver Kontrollmethoden und vergemeinschaftender Sozialintegration (vgl. Artus 2008: 29). Typisch sei dabei, dass „im betrieblichen Alltag einen Gemeinschaftsmythos inszeniert [wird, T.G.], auf den sämtliche Betriebsmitglieder normativ verpflichtet werden [...]“ (ebd.: 45). Organisiertes Interessenhandeln der Beschäftigten werde seitens der Unternehmensleitung eher unterdrückt (ebd.: 34). Beschäftigte werden dadurch allerdings keineswegs automatisch der Managementseite (interessen-)politisch entfremdet. Im Gegenteil: „Die Integrationsangebote und symbolischen Anerkennungspolitiken besitzen erhebliche Anziehungskraft gerade für Menschen, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft im wenig attraktiven Segment der Jedermannarbeitsmärkte zu verkaufen. Die Vergemeinschaftungspolitiken werden zudem über Strategien der Zwangsvergemeinschaftung abgesichert und in ihrer Wirksamkeit ergänzt.“ (Ebd: 45)