Das jüngste Buch des japanischen Associate Professors für Philosophie an der Universität Tokio Kohei Saito markiert einen Einschnitt in der Geschichte des Ökosozialismus. Ausschlaggebend dafür ist, dass dieser mit der Publikation endgültig im linken Flügel des bürgerlichen Blocks angekommen ist. In Japan wurden mehr als 500.000 Exemplare des Buchs verkauft und auch in Deutschland firmiert es bereits als Bestseller. Anlass zur Freude ist das nicht: Saito hat nämlich eine Version des Ökosozialismus in die Welt gebracht, für die er zielsicher die theoretisch am wenigsten überzeugenden Elemente des Diskurses mit einer zweifelhaften Interpretation des marxschen Werks und dem politischen Common Sense der grünsozialdemo- kratischen Bewegungslinken kombiniert hat.
Dabei fängt das Buch vielversprechend an: mit einer Polemik gegen die UN-Sustainable Development Goals (SDG). Sie als zeitgenössisches
»Opium des Volks« (9) einzustufen, mag etwas hoch gegriffen sein, ist aber ein heilsames Antidot gegen Ideen, die SDG als Maßstab für die Qualität gesellschaftlicher Verhältnisse und deren Entwicklungsdynamik zu nutzen. Auch an Saitos Kritik des »Klima- Keynesianismus« (45) – gemeint sind die diversen Ideen eines Green New Deals – und »kapitalistischer« (77) Degrowth-Varianten im zweiten und dritten Kapitel ist wenig auszusetzen. Kurzgefasst: Erste gründeten immer noch auf Wirtschaftswachstum und damit letztlich auf weiterer Naturzer- störung. Letztere könnten nicht überzeugend darlegen, wie Minus-Wachstum und Naturschutz im Kapitalismus funktionieren sollen, weil beide dessen Funktionsweise unterminierten. Dass es allerdings eine »Degrowth-Theorie der neuen Generation« gebe, die mit der alten breche und »die Überwindung des auf Ausbeutung und Herrschaft basierenden Klassengegensatz« (104) anstrebe, ist eher unter Wunschdenken zu verbuchen.
Komplett daneben greift Saito, wenn es im ersten Kapitel darum geht, die ökologische Krise des Kapitalismus zu erklären. Statt als Resultat der sozia- len Relationen der Klassen zueinander und zur Natur erscheint sie nämlich wahlweise als eine der imperialen Lebensweise, der Externalisierungsge- sellschaft oder des »ökologischen Imperialismus« (37). Saito popularisiert also gerade die schwächsten Ansätze der deutschen Debatte. Entsprechend der offenkundigen und viel diskutierten Unzulänglichkeiten der Originale von Ulrich Brand und Markus Wissen respektive Stephan Lessenich landet auch Saito immer wieder beim Nord- Süd-Gegensatz als sozialökologischem Hauptwiderspruch. Oder beim Konsum des Globalen Nordens statt bei der Produktion, was dazu führt, dass er später im Buch noch die »imperiale Produktionsweise« (221, Herv. C.S.) einführt, welche aber völlig unvermittelt mit der Ursachenanalyse bleibt. Dasselbe gilt für die Ausbeutung der Arbeiterklasse, die Saito zwar erwähnt, aber für seine Theorie keine Relevanz hat – eine Kontinuität zu seiner Arbeit »Natur gegen Kapital« (2016). Naturzerstörung kommt im Buch entsprechend als das Ergebnis wieder- kehrender ursprünglicher Akkumulation und Marktexpansion, ungleicher internationalen Beziehungen und der Auslagerung von sozialökologischen Problemen daher. Natürlich tragen all diese Prozesse zur Naturzerstörung bei. Aber sie darauf zuzuschneiden entspricht eben jener zirkulations- und machttheoretisch verkürzten Lesart des Kapitalismus, wie sie mittlerweile auch in der deutschsprachigen ökosozialistischen Diskussion vorherrscht.
Das zentrale Anliegen des Buchs ist allerdings nicht die Ursachenanalyse. Saito verfolgt vielmehr, wie er im Vorwort erklärt, die Absicht, »mit der passenden Strategie die richtige Richtung einzuschlagen« (12). Sein Vorschlag dafür ist der »Degrowth-Kommunis- mus« (207). Kapitel vier soll dafür den theoretischen Grundstein legen. Darin behauptet er – frei nach Althusser – einen neuen »epistemologischen Bruch« (146) in Marx’ Werk. Von den 1840er- bis in die 1850er-Jahre sei Marx ein eurozentristischer, geschichtsteleologisch denkender Produktivist gewesen. In den 1860ern habe er sich dann dem Ökosozialismus zugewendet, aber immer noch die Entwicklung der Produktivkräfte als Motor sozialen Fortschritts betrachtet. Mit Beginn seines Studiums der Naturwissenschaften (gemeint ist vor allem die Bodenöko- logie) und vorkapitalistischer Gesellschaften nach der Veröffentlichung des ersten Kapital-Bands (1867) habe er jedoch die Möglichkeit einer Gleichgewichtswirtschaft auf Basis gerechter kommunaler Gemeinschaften entdeckt und daraufhin endgültig mit Produktivismus, Eurozentrismus und deterministischer Geschichtsphiloso- phie gebrochen.
Saitos Beweisführung ist sowohl hinsichtlich der harschen Anwürfe als auch der Begründung des Degrowth-Kommunismus für einen Marx-Experten unzulässig dünn. Ein, zwei Textstellen aus abertausenden Seiten, teils mutwillig eindimensional und entkontextualisiert interpretiert, reichen ihm aus, um die klassischen Vorhaltungen des Linksliberalismus und von Teilen der Neuen Linken wieder aufzuwärmen und sie Marx zu machen. Dabei gälten sie, wenn überhaupt, einem gewissen, mittlerweile marginalisierten Marxismus. Ähnlich viel Phantasie bringt Saito auf, um in den Briefentwürfen an die russische Sozialdemokratin Wera Sassulitsch oder in der »Kritik des Gothaer Programms« eine Vorstellung des Kommunismus in Form von kleinen selbstverwalteten Dorfgemeinden aufzusuchen.
Saitos Ass im Ärmel: Marx’ »Neuinterpretation der Vision einer zu- künftigen Gesellschaft« habe »nicht einmal Engels« (147) verstanden. Auch könne man den »theoretischen Wandel aus den aktuell erhältlichen Ausgaben des ›Kapitals‹ nicht herauslesen«, weil Engels die unvollendeten Passagen »verheimlicht« (115) habe. Diese anti-Engels Argumentation in der Tradition der Neuen Marx-Lektüre gipfelt in folgender Bemerkung: »Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dass dieses Missverständnis die Marxsche Ideologie einerseits verzerrt und das Monster des Stalinismus hervorgebracht hat, andererseits aber auch die Ursache dafür ist, dass die Menschheit mit einer schrecklichen Umweltkrise zu kämpfen hat.« (116) Aber zum Glück gibt es »eine Handvoll Experten«, die Marx’ »Forschungsnotizen studiert haben« (116) – Experten wie Kohei Saito. Es ist selbstverständlich ein Verdienst Saitos, Marxens Exzerpthefte zu den Agrarwissenschaften und zur politischen Ökonomie ausgewertet und damit die marxsche Ökologie untermauert zu haben. Aber er kann nicht einmal ein paar unzweideutige Aussagen anführen, die seine neoalthusserianische Deutung der marxschen Werk- entwicklung rechtfertigten.
Saitos Aufheben um den mutmaßlichen Bruch bei Marx erschließt sich im Laufe der weiteren Darstellung besser, wird dadurch aber nicht plausibel. Zunächst plustert er in Kapitel fünf den »linken Akzelerationismus« (153) am Beispiel von Aaron Bastanis 2019 publizierten Manifests für einen »Fully Automated Luxury Communism« zum großen innerlinken Antagonisten auf. Die Gründe: dessen Produktivkraftfetischismus und auf Wahlen, Parlaments- und sogar Regie- rungsbeteiligung angelegte Strategie des sogenannten Luxuspopulismus. Bastanis Reformulierung traditionell sozialdemokratischer Positionen ist in der Tat unhaltbar, wird in der heutigen Linken im Westen aber nur (noch) von Minderheiten vertreten. Dennoch nutzt Saito Akzelerationismus und das hypothetische Zukunftsszenario eines »Klima-Maoismus« – eine »zentralistische Diktatur (…), die möglicherwei- se ›effektivere‹ und ›egalitärere‹ Kli- maschutzmaßnahmen forciert« (87) –, gemeint ist wohl China, als Folie, gegen die er seine eigene Strategie in den letzten drei Kapiteln entwickelt. Um es vorwegzunehmen: Akzelerationismus bzw. Klima-Maoismus und Degrowth- Kommunismus sind kommunizieren- de Röhren. Wo der eine A sagt, sagt der andere Nicht-A – und umgekehrt.
Saitos Argumentation läuft schlussendlich darauf hinaus, dass sich kleine Gemeinden sukzessive die Produktionsmittel als öffentliche Güter, sogenannte Commons, »zurückholen« (191) sollen, um dann »selbstbestimmt, mit flachen Hierarchien und gemeinsam« (192) die öffentlichen Güter zu verwalten. Dazu gehört, dass diese »anderen Überfluss« (171) erzeugten und »freiwillige ›Selbstbeschränkung‹« (203) leisteten, um »den Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft« (194) zu erreichen. Hier zeigt sich der zeit- genössisch-legitimatorische Charakter von Saitos Marx-Exegese. Die »Überwindung des Kapitalismus« könne, so der Philosoph, gelingen, »indem der Bereich der Commons immer mehr ausgeweitet« (109) wird. Dieser »Übergang zu einer Postwachstumsgesellschaft« solle »freiwillig« (105) geschehen. Als Ansätze in diese Richtung interpretiert er unter ande- rem »Bürgerversammlungen« (159), Arbeiterkooperativen und -genossenschaften sowie munizipalistische In- itiativen wie die der »Fearless Cities« (247). Die Träger einer Transformation für einen »partizipatorischen So- zialismus« (215) – dessen Abgrenzung zum Degrowth-Kommunismus (Herv. C.S.) nicht erklärt wird – seien »soziale Bewegungen« (222), unter anderem die »weltweit ›revolutionären‹ Umweltbewegungen« (94) wie Extinction Rebellion oder das Sunrise Movement. In anderen Worten: Saito reproduziert unter neuem Namen klassische Vorstellungen der grünsozialdemokratischen, libertären Bewegungslinken – mit all ihren Fehlern. Es gibt keinen Bruch, sondern ein allmähliches Hinüberwachsen in eine andere Gesellschaftsformation. Dabei wird die Machtfrage ausgeblendet. Kulturrevolution ersetzt die Eroberung des Staates – anstatt beide als komplementäre Elemente einer sozialistischen Strategie zu begreifen. Soziale Bewegungen werden idealisiert, nicht klassentheoretisch analysiert und – wie der Staat – als Feld und Taktik sozialistischen Klassenkampfs erschlossen. Das Subjekt der Veränderung wird politizistisch bestimmt, nicht sozio- ökonomisch hergeleitet. Die Klassen sind ohnehin reduziert auf Zierde elo- quenter Rhetorik. Eine eigenständige Organisationsperspektive für Sozialisten und Kommunisten gibt es nicht. Angesichts solcher Probleme ist der Bestseller auch kein Hoffnungsschimmer am Firmament.