Zwei Dinge haben die Wahlergebnisse der AfD bei den Landtagswahlen in Bayern und Hessen offensichtlich gemacht: Die Partei kann gegenwärtig Umfragen auch in Wahlergebnisse umsetzen – in beiden Ländern lagen die Umfragen noch knapp unter den tatsächlichen Ergebnissen – und die AfD ist, was schon immer klar war, kein Problem Ostdeutschlands. Zwar gibt es eine ostdeutsche Spezifik, aber 14 bzw. 18 Prozent in zwei ökonomisch starken Bundesländern verdeutlichen die Dimension des Problems insgesamt.
Sieht man sich die politischen Reaktionen am Wahlabend und danach an, dann spricht wenig dafür, dass diese Dimension von der politischen Klasse erkannt wird. Die Migrationspolitik, genauer, ihre Verschärfung im Sinne der AfD, wird hier als zentraler Hebel angesehen, um dem Problem von rechts beizukommen. 2018 ff. hatte diese „Strategie“ (Seehofer: „Migration ist die Mutter aller Probleme“) die AfD auf ihr damaliges Hoch von 18 Prozent katapultiert. Niemand aus dem Politikbetrieb beantwortet die Frage, warum Wähler:innen dieser Partei angesichts der hohen Wirksamkeit ihrer Wahl davon ablassen sollten, wenn andere denselben Weg einschlagen. Wahrscheinlicher ist es, dass man es mit weiteren Themen genauso probiert – z.B. der Klimapolitik.
Kein Grund besteht jedoch für Linke, sich über den unbeholfenen Umgang des Mainstreams zu erheben, denn auch diese Wahlen haben einmal mehr deutlich gemacht, dass zentrale Zielgruppen linker Politik zu den wichtigsten Wähler:innengruppen der AfD gehören. Infratest ermittelte für die ARD, dass 40 Prozent der Arbeiter:innen (die zur Wahl gegangen sind) AfD gewählt hätten. Bei der Forschungsgruppe Wahlen im ZDF sind es „nur“ 29 Prozent und dieser gravierende Unterschied wird nicht erklärt. Bei beiden Instituten ist die AfD deutlich stärker in dieser Gruppe als die Parteien der gesellschaftlichen Linken zusammen (Infratest: SPD 14, Grüne 5, Linke 3 Prozent; FW: SPD 15, Grüne 7, Linke 3 Prozent). Arbeiter (die männliche Form stimmt in der Tendenz) wählen rechts, diese verkürzte Formel ist nicht neu, wird aber drängender, denn nach ARD-Zahlen hat die AfD hier einen Zuwachs von satten 16 Prozent.
Die Vielfachkrisen der letzten Jahrzehnte hinterlassen ihre Spuren und zahlen vor allem auf das Konto der extremen Rechten ein (vgl. den Beitrag von Sebastian Friedrich in diesem Heft). Die zunehmende Verunsicherung und das Versagen der Politik, darauf adäquate Antworten zu finden, tragen dazu genauso bei, wie eine vielleicht bis heute unterschätzte Durchdringung der Bevölkerung mit neoliberalen und konkurrenzbasierten Gesellschaftsvorstellungen, wie sie im letzten Vierteljahrhundert hegemoniale Verbreitung fand.
Von manchen Linken wird dieser Befund mit der Feststellung gekontert, die Linke (Partei(en) und Bewegung) machten einfach keine Klassenpolitik mehr, müssten die Themen Ungleichheit, Reichtum-Armut, oben-unten und die Eigentumsfrage nur offensiver artikulieren, um den berechtigten Protest der Leute nach links zu lenken. Wahrscheinlich wissen viele, die so reden, dass solche Wahrheiten zu einfach sind und die Lage komplizierter ist. Wirft man einen Blick auf die Themen, die für Wähler:innen der AfD wichtig sind, dann stehen Arbeit und Soziales sehr weit hinten. Klassische linke Themen der Umverteilung, wie Vermögens- und Erbschaftssteuer oder gar die Eigentumsfrage, stoßen hier nicht auf Begeisterung. Teils vielleicht aus Resignation, dass sich eine wirksame Politik der Umverteilung von oben nach unten ja doch nicht durchsetzen ließe, teils aber auch, weil die neoliberale Ideologie der letzten Jahrzehnte in die Köpfe eingesickert und zu politischen Überzeugungen geronnen ist.
Das korrespondiert mit dem für AfD-Wähler:innen zentralen Thema, der Zuwanderung. Konkurrenzrassismus ist ein zentrales Motiv für sie und dürfte gerade für die, die sich Sorgen um ihre wirtschaftliche und soziale Sicherheit machen, von hoher Bedeutung sein. Was Wilhelm Heitmeyer in seiner Studie „Deutsche Zustände“ als „rohe Bürgerlichkeit“ bezeichnete, findet sich auch in Teilen der Arbeiter:innenklasse. Abgrenzung, aber auch Wut und Hass richten sich auf diejenigen, die real oder vermeintlich nichts zum Wirtschaftsstandort beitragen und nicht den Normen der Leistungsideologie entsprechen. Dazu passt die in der vorletzten Leipziger Autoritarismus-Studie festgestellte Überidentifikation mit der wirtschaftlichen Leistung Deutschlands, mit dem Standort – gerade bei Arbeitern. Individuelle Zufriedenheit wird hier stark mit der ökonomischen Stärke des Landes verbunden. Steht letztere zur Disposition, wie aktuell, dann schlägt das unmittelbar auf Demokratiezufriedenheit und die Bereitschaft für autoritäre Lösungen durch.
Dennoch ist die AfD natürlich keine Arbeiterpartei, wie zuletzt auch die DGB-Vorsitzende Fahimi in einem Interview unterstrich, und das nicht nur, weil sie objektiv vor allem die Interessen des Eigentumsblocks vertritt. In einer kurzen DIW-Studie zeigt Marcel Fratzscher, dass die reale Politik der AfD in den Parlamenten vor allem gegen die wirtschafts- und sozialpolitischen Interessen der Unterklassen gerichtet ist, und dass sie zusammen mit FDP und Union für einen Abbau sozialer Sicherungssysteme und eine Stärkung „des Marktes“ gegenüber dem Staat eintritt. Leider ist auch bei einer Verbreitung solcher Erkenntnisse bei den davon betroffenen Wähler:innen der AfD nicht davon auszugehen, dass sie der Partei in Scharen den Rücken kehren. Ihre Erwartung an die AfD ist anders motiviert und diese Erwartung wird durch den Konkurrenzrassismus befriedigt. Nicht umsonst ergänzt die Partei ihre marktradikale Haltung immer wieder um Elemente einer ethnisch konnotierten Thematisierung sozialer Fragen.
Dennoch führt kein Weg an einer verstärkten inhaltlichen Auseinandersetzung mit der AfD vorbei, vor allem wenn man sich vergegenwärtigt, dass mehr als 80 Prozent ihrer Wähler:innen in Hessen und Bayern angegeben haben, es sei ihnen egal, dass es sich um eine Partei der extremen Rechten handelt. Eine vor allem moralisch begründete Ablehnung der AfD – ‚Nazis wählt man nicht‘ – trägt nicht mehr und scheint eher das Gegenteil zu bewirken. Die Angriffe des Establishments auf Hubert Aiwanger in der sog. Flugblattaffäre waren in den Augen seiner Wähler:innen die sicherste Gewähr dafür, die richtige Wahl zu treffen. Für Nichtwähler:innen, Unentschlossene und den Teil der ideologisch nicht festgelegten Protestwähler:innen der Partei kann es dennoch sinnvoll sein, sie über die sozialpolitische Ausrichtung der AfD-Politik zu informieren.
Gerd Wiegel