Thomas Metscher hatte in Z 90 (Juni 2012, S. 66-79) in seinem Beitrag „Der Komplex Ideologie“ u.a. eine „Kritische Notiz zum Projekt Ideologietheorie (PIT)“ eingefügt. Jan Rehmann, einer der früheren Mitarbeiter und Autoren des PIT, reagierte mit einem Brief an Thomas Metscher, den wir zusammen mit der Antwort von Thomas Metscher auf Anregung beider Autoren gerne veröffentlichen.
(Redaktion)
5. Oktober 2012
Lieber Thomas Metscher,
erst jetzt habe ich Ihren Aufsatz zum „Komplex Ideologie“ in der Zeitschrift „Z“ gelesen und mir auch gleich das zugrundeliegende Buch Logos und Wirklichkeit besorgt. Ich habe mich sehr gefreut über die Differenziertheit, mit der Sie sich dem Komplex des Ideologischen annähern und die freundliche Sachlichkeit, in der Sie sich mit dem Ansatz des Projekts Ideologietheorie (PIT) auseinandersetzen, einschließlich meiner weiteren Arbeiten zum Thema. Wir hätten schon früher die Gelegenheit nutzen sollen, über unsere Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu debattieren. Dass es dazu nicht gekommen ist, liegt sicherlich an mir. Ich habe für meine Einführung in die Ideologietheorie zwar Erich Hahns und Werner Seppmanns Einwände berücksichtigt, nicht aber Ihre Position. Dies liegt vermutlich daran, dass ich Sie immer nur als maßgeblichen „Kulturtheoretiker“ wahrgenommen und – im Rahmen unserer internen Arbeitsteilung – aus meinem Gesichtskreis ausgeklammert habe. Eine Rechtfertigung ist dies natürlich nicht. Ich werde versuchen, mein Versäumnis bei der englischen Ausgabe meiner Einführung wieder gutzumachen – das Buch ist noch nicht im Satz.
Überrascht bin ich zunächst vom hohen Grad der Übereinstimmungen. Denn zum einen suchen Sie nach einem Ideologiebegriff, der über Bewusstseinsformen hinaus auch soziale Institutionen, Vergesellschaftungsformen, psychische Dispositionen, Alltagspraxen, auch gesellschaftlich Unbewusstes umfasst – Sie nennen es ähnlich wie das PIT einen „Komplex des Ideologischen“. Zum anderen geben Sie – anders als Erich Hahn und neuerdings erstaunlicherweise auch der von mir geschätzte David Salomon (in M 2012, 104) – deutlich zu erkennen, dass der Ideologiebegriff „seiner Geschichte nach“ (und das heißt wohl v.a. bei Marx und Engels) ein kritischer Begriff ist, weshalb Sie Lenins neutrale Begriffsverwendung nicht mehr verwenden würden (M 2012, 67, A3). Daher argumentieren Sie – ganz im Sinne der Deutschen Ideologie –, dass Ideologie „historisch-genetisch an Arbeitsteilung und Klassenverhältnisse gebunden“ ist; und auch innerhalb der Klassengesellschaften ist nicht alles Bewusstsein ideologisch (z.B. in Wissenschaft und Kunst), sondern kann sich durch kritische Selbstreflexion vor ideologischer Indienstnahme schützen (M 2012, 67). Sehr unterstützen möchte ich, dass Sie den Marxismus, wenngleich er immer auch in die ideologischen Formen seiner Zeit eingebunden ist, aufgrund seiner Fähigkeit zur kritischen Selbstreflektion als epistemologische Kritik an „jeder sich ideologisch setzenden Weltanschauung und Theorie“ verstehen (M 2012, 69).
Es war gerade diese Kombination von materialistischem (sozialwissenschaftlich orientiertem) und kritischem Ideologiebegriff, die den ideologietheoretischen Ansatz des PIT sowohl von Althusser als auch von Stuart Hall unterschieden hat. Ersterer behauptete unter Berufung auf die lacansche Psychoanalyse eine „Ewigkeit“ der Ideologie im Allgemeinen und verblieb damit in gewissem Sinne auch innerhalb des „neutralen“ Ideologieparadigmas des Marxismus-Leninismus, zweiterer interpretierte Gramscis Ideologiebegriff ebenfalls „neutral“ als „mentalen Rahmen“ für verschiedene Klassen. Diese Gramsci-Interpretation ist weit verbreitet, und das zeigt sich auch in Ihrer Auffassung, Gramscis Ideologiebegriff bezeichne die materielle Existenzweise, soziale Funktion und Verkörperung von Bewusstsein (M 2012, 73). Ich renne schon seit einiger Zeit gegen diese Lesart an (auch gegenüber der früheren Interpretation durch das PIT), da ich sie für einseitig halte: sie verdrängt den kritischen Ideologiebegriff, den Gramsci v.a. von Labriola übernommen hat und den er parallel zu seinem „positiven“ Begriff organischer Ideologien durchgängig benutzt – v.a. als Gegenbegriff zur „Philosophie der Praxis“, aber auch im Hinblick auf das Alltagsbewusstsein, passive Revolution, Korporatismus, Puritanismus. Da Sie selbst an einem kritischen Ideologiebegriff festhalten wollen, müssten Sie sich eigentlich für diese bemerkenswerte (wenn auch nur wenig bemerkte) ideologiekritische Seite bei Gramsci interessieren.
Bevor ich zu Ihrer expliziten PIT-Kritik gelange, möchte ich über ein methodisches Problem sprechen, mit dem ich mich selbst beim Schreiben meiner Einführung mit einigen Schwierigkeiten herumgeschlagen habe: gehören der von Marx kritisierte „Fetischismus“ der Ware, des Geldes, des Lohns, des Kapitals, des Zinses und die entsprechenden „objektiven Gedankenformen“ in den Ideologiebegriff hinein oder bilden sie sozusagen den Unterbau, die Rohstoffbasis und den Resonanzboden des Ideologischen? Philologisch ist das nicht leicht zu entscheiden: einerseits verwendet Marx den Ideologiebegriff nicht im Zusammenhang mit seinen Fetischismusanalysen, andererseits arbeitet er durchgängig mit der Analogie der religiösen Verkehrung, bis zu dem Punkt, dass er schließlich in Kapital III. im Zusammenhang mit den Mystifikationen der „Trinitarischen Formel“ den bedeutsamen Begriff einer „Religion des Alltagslebens“ einführt.[1]
Da ich mich in meinem Buch für eine neue Vermittlung der Traditionen der Ideologiekritik und der Ideologietheorie interessiere, habe ich gerade an dieser Stelle einen Dialog organisiert, und zwar zwischen der PIT-Position und der von Sebastian Herkommer (R 2008, 44-5), die nach meinem Verständnis der Ihrigen recht nahe kommt: während nach Haug die von Marx analysierten „objektiven Gedankenformen“ selbst noch keine Ideologie sind, da sie nicht „von oben“ über ideologische Apparate geregelt werden, betrachtet Herkommer die mystifizierten Gedankenformen als „erste Stufe“ der Ideologie, die dann von den ideologischen Apparaten weiterverarbeitet werden. Ich sah bei Herkommers Argumentation die Gefahr eines erneuten Reduktionismus, bei dem die Weiterverarbeitung durch die ideologischen Mächte nur gradualistisch als „Potenzierung“, „Erweiterung“, „Verstärkung“ etc. konzipiert wurde, während ich andererseits gegenüber einer ausschließlichen Bindung des Ideologiebegriffs an die ideologischen Mächte zu Bedenken gab, dass damit gerade das von Haug hervorgehobene „Do it yourself der Ideologie“ im Alltag begrifflich nicht gefasst ist.
Ich selbst schlug dann vor, die Frage nach der terminologischen Eingrenzung des Ideologiebegriffs offen zu lassen und die Verzahnung und Vermittlung von ideologischen Apparaten/Feldern und „objektiven Gedankenformen“ ins Zentrum der Untersuchungen zu rücken: „Entscheidend ist nicht, wie genau die terminologische Abgrenzung vollzogen wird, sondern die Entwicklung einer Untersuchungsmethode, die die verschiedenen Seiten des Wirkungszusammenhangs nicht reduktionistisch aufeinander bezieht.“ (R 2008, 45) In diesem Sinne habe ich auch die Warenästhetik, obwohl sie sich parasitär zu jeder spezifischen Ideologie verhält, als „ideologieförmige Macht“ behandelt.
Ich berichte dies, weil ich anders als Sie in der Frage der genauen Abgrenzung des Ideologiebegriffs auch keine gewichtige theoretische Kontroverse zwischen uns entdecken kann. Sie betrachten den Warenfetisch, die Idole des Markts und Fetische des Alltagslebens als „Elementarformen des Ideologischen“ bzw. als „ideologische Elementarmächte“, die die Arbeit der ideologischen Mächte (Staat, Recht, Religion, Bildung etc.) „fundieren und ergänzen“ (M 2012, 74f). Da es mir v.a. um einen Brückenschlag zwischen unterschiedlichen Ausprägungen des kritischen Ideologiebegriffs geht, halte ich dies für eine mögliche terminologische Entscheidung. Man könnte sie interpretieren als Versuch, den umfassenden Verdinglichungsansatz in Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein mit dem Anliegen der „ideologietheoretischen Wende“ der 1970er und 80er Jahre zu vermitteln. Ob die ideologische Vergesellschaftung ihren „Ursprung“ immer in „Basisprozessen“ und ihren warenästhetischen Erscheinungen hat, was Sie im Begriff der „‘ursprünglichen’ Vergesellschaftung“ zum Ausdruck bringen (M 2012, 75), möchte ich dahingestellt lassen. Ähnlich wie bei der entgegengesetzten Vorstellung, bei der es so aussieht, als stellte das „Do it yourself der Ideologie“ im Alltag nur eine Ablagerung organisierter Ideologien dar, hätte ich erhebliche Zweifel, ob man dies überhaupt allgemeintheoretisch vorentscheiden kann. Engels’ Hinweis auf permanente Wechselwirkungen scheint mir da zutreffender. Zu vermeiden wäre jedenfalls die Vorstellung, das Ideologische wüchse sozusagen organisch aus den mystifizierten „objektiven Gedankenformen“ heraus und würde dann von den ideologischen Mächten lediglich „ausgedrückt“, allenfalls modifiziert. Dies wäre ein reduktionistisches Denkmodell, bei dem das Ideologische der „ideologischen Mächte“ wieder nur als Manifestation der „ideologischen Elementarmächte“ fungierte, so dass die Erforschung der „idealistischen Superstrukturen“ (Marx), ihrer Apparate, Formen, Intellektuellen, Praxen und Rituale sich im Grunde erübrigte.
Dies ist sicherlich nicht Ihre Intention. Aber warum ist es nicht ebenso möglich, den Zusammenhang zwischen den mystifizierten „objektiven Gedankenformen“ der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften und der ideologischen Vergesellschaftung „von oben“ in einer anderen terminologischen Anordnung zu bearbeiten? Wenn das PIT anknüpfend am späten Engels den Begriff des Ideologischen mit den aus der Gesellschaft herausgehobenen „ideologischen Mächten“ verbindet, verwendet es ihn bewusst als eine analytische Kategorie, die eine begrenzte Schneise durch die widerprüchliche Gemengelage der empirischen Vergesellschaftungsformen schlägt. Beansprucht ist ja gerade nicht, mit einem solchen Ideologiebegriff die Gesamtheit des Alltagsbewusstseins oder auch nur seiner mystifizierenden Anteile zu erfassen. Thematisiert ist nur eine Dimension, die mit anderen Dimensionen, z.B. denen der „horizontalen Selbstvergesellschaftung“, des Kulturellen, des Proto-Ideologischen, der fetischisierten Verarbeitungsformen im Alltagsverstand, der Warenästhetik etc., in komplementären oder widersprüchlichen Wechselbeziehungen steht. Ob ich mir nun vornehme, den Wirkungszusammenhang in dieser Terminologie oder in der von Ihnen vorgeschlagenen terminologischen Anordnung ideologische Elementarformen/Elementarmächte – ideologische Mächte zu bearbeiten, macht für sich genommen noch keinen theoretischen Unterschied aus.
Wenn Sie also das PIT dafür kritisieren, es reduziere den „komplexen“ Begriff der Ideologie (d.h. Ihren eigenen) auf einen seiner Aspekte, auf den einer Vergesellschaftung „von oben“, müssten Sie aufzeigen, warum und inwiefern diese engere Bestimmung nicht geeignet ist, um das von Ihnen vorgeschlagene Untersuchungsproblem, den (widersprüchlichen) Zusammenhang zwischen mystifizierten Gedankenformen und ideologischen Apparaten, zu erfassen. Mit der Entscheidung, beide unter den Begriff der „ideologischen Vergesellschaftung“ zu subsumieren, lösen Sie ja noch keineswegs das Problem, wie diese Verzahnung sich vollzieht. Warum also sollte es verfehlt sein, das widersprüchlich überdeterminierte Empirische analytisch in verschiedene „abstrakte“ Dimensionen auseinanderzulegen, um anschließend ihre Überlagerungen, wechselseitigen Durchdringungen im Konkreten zu untersuchen?
Statt dies forschungsstrategisch zu erklären, zeitigt Ihre explizite PIT-Kritik eine Reihe von Missverständnissen. Es ist z.B. nicht zutreffend, dass die ideologische Vergesellschaftung beim PIT zu einem „rein negative[n] Begriff“ wurde, der lediglich Prozesse der Subordination und Entfremdung bezeichnet (M 2012, 78). Ein kritischer Begriff im marxschen Sinne ist ja dank der ihm innewohnenden Dialektik nicht dasselbe wie ein „rein negativer“! So haben die Staatskritiker Marx und Engels z.B. den Staat, auf dessen „Absterben“ im Kommunismus sie setzten, zugleich als transitorische Notwendigkeit in Klassengesellschaften verstanden. Nahezu alle spezifischen PIT-Begriffe bezeugen, dass es sich beim Ideologischen keineswegs um ein „rein negatives“ Phänomen handelt: die von Freud übernommene Kategorie der Kompromissbildung, bei der gegensätzliche Kräfte (z.B. das Über-Ich und die verdrängten Triebwünsche des Es) kompromisshaft in einem Symptom verdichtet werden, die „antagonistische Reklamation des Gemeinwesens“, bei der dieselben ideologischen Instanzen und Werte von den antagonistischen Klassen und Gruppen jeweils entgegengesetzt ausgelegt und in Anspruch genommen werden, die immer wieder betonte Möglichkeit, dass subalterne Klassen und fortschrittliche Bewegungen ideologische Werte auch gegen die herrschende Ordnung „anrufen“ können. Die Dialektik des Ideologischen, die Sie als Verschränkung von Wahrem und Falschem beschreiben (M 2012, 71), fassten wir dahingehend, dass es kompensatorisch zur Herrschaftsreproduktion nur beitragen kann, indem es, wie verschoben auch immer, auch die Befreiung von Herrschaft „bedeutet“. Um wirksam zu sein, muss es ein Stück Bezug aufs „Gemeinwesen“ enthalten, wenn auch in verkehrter oder verschobener Weise. Daraus folgt eine neue Aufgabenstellung der Ideologiekritik, nämlich die im Ideologischen repräsentierten Gemeinwesenfunktionen zu entziffern, herauszulösen und für die Entwicklung alternativer gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Angewandt auf die Religion, bedeutet dies z.B., dass eine Religionskritik mit dem „Hinterland“ einer Ideologietheorie (Haug) nicht mehr den Nachweis versuchen sollte, dass die Religion als Ganzes ein „verkehrtes Bewusstsein“ oder „Opium des Volks“ ist. Vielmehr geht es um die analytische Aufgabe, die sozialen Antagonismen und Kämpfe im religiösen Feld zu entziffern und die emanzipatorischen Gehalte freizusetzen.
Kann es sein, dass Sie im Abschnitt zur PIT-Kritik unter der Hand wieder zu einem „neutralen“ Ideologiebegriff übergewechselt bzw. zurückgegangen sind? Von diesem aus gesehen wäre aber auch Ihr eingangs eingeführter kritischer Ideologiebegriff mit seiner Elementarform des Warenfetischs ein „rein negativer“. Dem PIT vorzuwerfen, sein Begriff des Ideologischen weise eine „omnihistorische, statische Struktur“ auf (M 2012, 78), verwechselt offenbar die Gesamt-Geschichte mit der Geschichte staatlich verfasster Klassengesellschaften. Das PIT selbst hat jedenfalls die Vorstellung einer Omnihistorizität der Ideologie durchgängig kritisiert, nicht nur gegenüber dem ML, sondern auch gegenüber Stuart Hall, Althusser und der Wissenssoziologie. Gegenüber der Gefahr, die eigenen Kategorien des „Vertikalen“ und „Horizontalen“, des „Von-Oben“ und des „Von-Unten“ zu empirischen Identitäten zu verdinglichen, hat es immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich lediglich um abstraktiv herausgefilterte Dimensionen handelt. Ich sehe nicht, warum unter diesen Bedingungen historische Differenzierungen nicht mehr als „qualitative“ möglich sein sollen (M 2012, 78). Wenn Sie das PIT wegen seiner „utopistischen Konstruktion“ einer kommunistischen Perspektive kritisieren, die auf horizontaler Vergesellschaftung basiert (ebd.), stellt sich die Frage, ob Sie diese Kritik nicht ehrlicher Weise gegen Marx und Engels und ihre Perspektive einer freien Assoziation freier Individuen richten müssten. Auch in diesem Zusammenhang haben wir vorsichtig darauf hingewiesen, dass es sich hier um einen heuristischen Grundsatz der Analyse und nicht um eine empirische, geschweige denn „realpolitische“ Voraussage handelt (z.B. R 2008, 153). Tatsächlich gibt es hier eine empfindliche Lücke bei Marx und Engels, nämlich dass sie die Perspektive einer klassenlosen, herrschafts- und staatsfreien Gesellschaft betonen, ohne gleichzeitig Transformationsstrategien zur Demokratisierung des Staates zu entwickeln. Dass dies eine gefährliche Schwachstelle darstellte, die sogar zum Einfallstor des Stalinismus werden konnte, haben sowohl Poulantzas als auch Haug herausgearbeitet.
Erstaunt hat mich Ihr Vorwurf, das PIT konstruiere einen undialektischen strukturellen Gegensatz zwischen Ideologie und Kultur und könne daher nicht berücksichtigen, dass Prozesse kultureller Bildung sich in ideologischer Form vollziehen (M 2012, 78f). Dabei war in diesem Zusammenhang nie von der Institution (oder dem soziologischen Feld) der „Kultur“ die Rede, sondern vom „kulturellen Moment“. So spricht Haug auch jüngst in der Kulturellen Unterscheidung vom „kulturellen Moment“, bzw. dem „kulturschöpferischen Moment“, der „Quellform der Kultur“ oder dem „Kulturellen in der Kultur“, und gemeint ist eine schöpferische, nach Lebensgenuss strebende Dimension, die nicht in der ideologischen Form aufgeht (obwohl auch sie permanent ideologisch überformt wird), sondern auf einer „anthropologischen Basisebene“ angesiedelt ist (H 2011, 40, 44ff). Dagegen kann schon an der lateinischen Wortgruppe cultura/colere abgelesen werden, wie die Kultur in und nach der neolithischen Revolution von der Agrikultur in die Stadt wandert (parallel zum landwirtschaftlichen Mehrprodukt, das den Bauern abgepresst wurde) und dort gegen ihren ländlichen Ursprung, gegen den „barbarischen“ und ungebildeten rusticus gewandt wird (ebd., 65f). Von nun an vollzieht sich die Kultur in ideologischen Formen, ohne jemals darin aufzugehen. Wo genau wäre hier die theoretische Kontroverse zwischen Haug und Metscher?
Ich kann jetzt nicht alle weiteren Punkte durchgehen. Dass z.B. das PIT die „Dialektik des Ideologischen“ als kompromisshafte Verdichtung von Fremdvergesellschaftung und Gemeinwesenbezug bestimmte, während Sie den gleichen Begriff als Verklammerung von „Wahrem“ und „Falschen“ definieren (M 2012, 71), verweist darauf, dass wir über das Verhältnis zwischen Ideologietheorie und einer historisch-materialistischen Erkenntnistheorie debattieren müssten. Ein gemeinsamer Ausgangspunkt könnte vielleicht sein, dass Sie selbst die ideologische „Verkehrung“ des Bewusstseins von der Frage seiner „Wahrheit“ methodisch trennen, so dass komplexe Ideologien „Wahrheit in verkehrter Form [...] enthalten“ und es darum gehen muss, die Wahrheit „der Form der Verkehrung abzuringen“ (M 2012, 70).
Ich bin zuversichtlich: Wenn es uns gelänge, die Missverständnisse zwischen unseren Ansätzen auszuräumen bzw. in Forschungsfragen zu verwandeln, würden sowohl die theoretischen Übereinstimmungen als auch die verbleibenden Unterschiede klarer hervortreten. Ich glaube, wir sollten in unserer Diskussion versuchen, terminologische Fragen und Fragen der theoretischen Begriffsbildung klarer voneinander zu unterscheiden. Die Verwendung eines „kritischen“ oder „neutralen“ Ideologiebegriffs ist in meinem Verständnis z.B. eine grundlegende begriffsstrategische Frage, da sie schon im Ansatz bestimmt, wonach man bei der Ideologie überhaupt sucht. Das gleiche gilt für die Frage, ob man unter Ideologie nur Bewusstseinsformen oder auch die ihnen zugrunde liegenden „materiellen“ gesellschaftlichen Anordnungen begreift – an diesem Punkt unterscheidet sich z.B. ein ideologietheoretischer Ansatz, wie man ihn in nuce bei Marx und Engels finden kann, von der traditionellen Ideologiekritik eines „Priestertrugs“. Aber die Frage, wo und wie man innerhalb des gemeinsamen Feldes einer materialistischen und ideologiekritischen Methode den Umfang des vom Ideologiebegriffs Bezeichneten bestimmt, ist m.E. eine Frage der Terminologie, die man nicht überbewerten sollte. Hier käme es auf die Fähigkeit und Bereitschaft an, unterschiedliche „Sprachen“ ineinander zu übersetzen. Dass dies nicht im Verhältnis 1:1 geht, ist ja kein Beinbruch, sondern macht das Interessante theoretischer Debatten aus.
Herzliche und solidarische Grüße
Jan Rehmann
15. Oktober 2012
Lieber Jan Rehmann,
über Ihren Brief habe ich mich sehr gefreut – und das aus zwei Gründen. Zum einen manifestiert sich in ihm eine unter Linken selten gewordene Kultur des kritischen Dialogs, die, ohne die Differenzen zu negieren, auch nach dem Gemeinsamen und Verbindenden der unterschiedlichen Positionen fragt, den Anderen nicht als geheimen Gegner, sondern als in den Zielen Gleichgesinnten ansieht – als Mit-Streitenden in gemeinsamer Sache. Aus einer solchen Haltung heraus formuliert, wird auch die Kritik dort solidarisch bleiben, wo sie Unterschiede der Auffassung benennt. Ich hoffe, daß auch meine Antwort diesem guten Geist entspricht.
Noch in einem zweiten, sehr konkreten Sinn habe ich mich über Ihren Brief gefreut. Denn es ist nun fast dreißig Jahre her, daß ich eine erste Kritik an der ideologietheoretischen Konzeption Haugs und des PIT veröffentlichte, im Argument unter dem Titel „Ideologie, Literatur, Philosophie. Anmerkungen zu einer innermarxistischen Kontroverse“ (M 1983). Das ‚innermarxistisch’ hatte damals durchaus einen strategischen Sinn; es wendete sich gegen Bestrebungen im eigenen Hause, Das Argument aus dem Marxismus auszugrenzen. Meine Position zu Haug war damals meiner heutigen sehr ähnlich. Viele seiner Arbeiten schätze ich als Werke hohen analytisch-theoretischen Niveaus, viele seiner Auffassungen teile ich mit Widerspruch in Fragen des Details (so auch die eines ‚pluralen Marxismus‘), bei anderen habe ich sehr grundlegende Einwände – so eben bei seiner Auffassung zu Ideologie, Literatur, Philosophie, die ich damals behandelte. Meine Kritik am PIT habe ich noch mehrfach vorgetragen: in einer zusammen mit Robert Steigerwald verfaßten Arbeit von 1982, in einem Beitrag zur verrufenen Argument-Kritik von 1984 (M 1984) (der Band hatte im Konzept seiner Herausgeber nie das Ziel, ‚das Argumentfertigzumachen’, wie vielfach kolportiert; er war die Antwort auf Kritiken an Positionen, die Verfasser des Bandes vertraten, also eine kritische Reaktion auf Kritik und in den zentralen Beiträgen auch in diesem Sinne verfaßt). Zuletzt habe ich das Ideologieproblem in einem Buch von 2010 behandelt (M 2010). Der Artikel in Z resümiert das in dem Buch sehr viel ausführlicher Gesagte. Auf alle diese Kritiken war meines Wissens nie eine Antwort erfolgt. Auch im Literaturverzeichnis der Ideologieartikel im HKWM taucht mein Name nicht auf. Ich mußte schließen, daß meine Kritik nie rezipiert wurde – das ist nicht als Klage oder Anklage gemeint, ich konstatiere allein einen Tatbestand. Um so überraschter – und um so mehr erfreut – war ich, als ich jetzt Ihren Brief erhielt. Nicht nur erfreut mich die darin ausgedrückte Wertschätzung meiner Versuche, mehr noch das theoretische Niveau Ihrer kritischen Einwände und der solidarische Geist, der aus ihm spricht.
Die Ideologietheorie, da haben Sie recht, ist nie mein Arbeitsschwerpunkt gewesen. Dieser liegt neben literaturwissenschaftlicher Arbeit auf Ästhetik und Kunsttheorie, angeschlossen die Theorie der Kultur. Zur Ideologietheorie wurde ich von der Sache her getrieben. Wenn man Kunsttheorie materialistisch betreiben will, kommt man am Ideologieproblem nicht vorbei. So ist dann aber auch von der Arbeitsökonomie her die Ideologietheorie für mich immer ein Nebenschauplatz geblieben, dem gleichwohl in meinem theoretischen Selbstverständnis eine große Wichtigkeit zukommt. Das hatte freilich zur Folge, daß ich, aus banalen Gründen der Zeit, wichtige Texte nicht oder nicht mit gebührender Sorgfalt studiert habe. So wurde mir bei der Lektüre Ihres Briefs klar, daß ich das eine Buch, das ich ganz sicher gründlichst hätte lesen sollen, nicht angemessen rezipierte, und das ist Ihr Buch zur Ideologietheorie. (Ein anderes, das fehlt und dessen Erarbeitung in jede systematische Ideologietheorie gehört, ist die späte Ontologie von Lukács, und es fehlt aus dem gleichen Grund.) Ihr Buch habe ich ‚angelesen’, auch daraus zitiert, fand dann aber nicht die Zeit, es systematisch durchzuarbeiten. Möglicherweise hätte ich dann den einen oder anderen Punkt meiner Kritik, manche Argumente in Ihrem Brief legen es nahe, korrigieren müssen. Diese ‚Schuld’ gestehe ich ein und will geloben, Ihr Buch genauestens zu lesen, bevor ich mich wieder systematisch mit Ideologietheorie befasse. In dieser Antwort freilich muß ich mich noch auf den Text-Corpus beschränken, der auch meiner zuletzt geäußerten Kritik zugrunde lag. Es sind dies die im Argument erschienenen Publikationen zum Thema, die Artikel zu Ideologie im HKWM, Haugs Elemente einer Theorie des Ideologischen, seine Kulturelle Unterscheidung (in Teilen gelesen) sowie diverse kleinere Arbeiten (auch aus Ihrer Feder), die sämtlich in der Bibliographie meines Logos-Buchs (M 2010) verzeichnet sind. Mit der Ausnahme Ihres Buchs ist damit aber wohl das Wesentliche der PIT-Position erfaßt; zumindest so viel, um darauf eine Kritik (die ja in meinem Verständnis von ihrem Charakter her immer auch korrigierbar ist), gründen zu können.
Seit meiner ersten Publikation dazu ist meine Kritik am PIT in den Kernargumenten die gleiche geblieben – mit einer nicht unwesentlichen Ausnahme. Den ‚neutralen’ Ideologiebegriff (wie Sie ihn nennen), den ich noch in meiner Arbeit von 1984 verteidigt hatte, vertrete ich jetzt nicht mehr: Ideologie ist heute auch für mich ein im Wesentlichen kritischer Begriff. Dies aus folgenden Gründen.
So halte ich theoretisch-argumentativ wie politisch einen kritischen Begriff von Ideologie, wie ihn ja auch die Deutsche Ideologie exponiert, für unverzichtbar. Ideologie ist von positivem Wissen (so auch wissenschaftlichem Wissen) und ‚richtigem Weltbewußtsein’ zu unterscheiden. Der Begriff bezeichnet auch dort, wo er dem Bewußtseinsgegenstand ‚Wahrheit’ nicht abspricht, den Tatbestand einer Deformation oder Verkehrung wie auch das Ideologische als Vergesellschaftungsform, wie immer gefaßt, das Moment der Deformation (‚Entfremdung’) notwendig einschließt. Nur mit einem kritisch akzentuierten Ideologiebegriff kann ich die Arbeit der Kritik leisten, die von marxistischer Theorie gefordert ist. Die Frage des Ideologiebegriffs, kritisch oder neutral, ist nicht zuletzt auch eine ganz pragmatische Frage – eine solche der Pragmatik der Argumentation. Ich kann argumentativ nicht mit zwei Ideologiebegriffen arbeiten, einem neutralen und einem kritischen, wenn ich verständlich über Ideologie reden will. Dies führt unausweichlich zu Unklarheiten meiner Argumentation. Der neutrale Ideologiebegriff universalisiert in einer Weise, daß die Trennschärfe des kritischen Begriffs, ja seine analytisch-kritischen Potentiale verloren gehen. Seinen Inhalt, wie von Lenin und dem späten Lukács entwickelt, teile ich durchaus, nur sollte er mit einem anderen Begriff als dem der ‚Ideologie’ bezeichnet werden; warum nicht, statt Sozialismus als „Ideologie des proletarischen Klassenkampfs“ (Lenin, Werke 6, 155): Sozialismus als praktische Weltanschauung des Proletariats?
In diesem Punkt besteht fraglos eine Gemeinsamkeit unserer Positionen, auch dann, wenn meine Begründungen nicht in allem Ihre Zustimmung finden sollten, und ich stimme Ihnen zu, daß sie forschungsstrategische Bedeutung besitzt. Meine Positionsverschiebung ergab sich zu allererst aus der konkreten Arbeit mit ideologischen Materialien, es ist aber auch richtig zu sagen, daß ich in ihr vom PIT gelernt habe.
Für das weitere Gespräch halte ich es für wichtig, gerade auch, wollen wir nach dem Gemeinsamen wie dem Trennenden fragen, mich auf die Gesichtspunkte zu konzentrieren, die für mich die Hauptproblemfelder der von Ihnen bzw. vom PIT vertretenen Theorie bilden.
1. Ich möchte bei dem ansetzen, was Sie ein „methodisches Problem“ nennen, was aber für mich weit mehr als ein nur methodisches ist: die Frage, ob die „objektiven Gedankenformen“ in den Ideologiebegriff hineingehören oder nicht. Unter ‚objektiven Gedankenformen’ verstehe ich (an Haug anschließend) strukturell determinierte Denk- oder Bewußtseinsformen, „die dem praktischen Verhalten in bestimmten Verhältnissen entspringen und denen bestimmte Praxisformen entsprechen“ (HKWM 2, 589). Sie selbst formulieren das Problem mit Blick auf die Fetischismusanalysen. Es stellt sich aber nur, wenn man das Ideologische, wie im PIT geschehen, als ‚Vergesellschaftung von oben’ versteht und der ‚Vergesellschaftung von unten’ (‚horizontale Vergesellschaftung’, vulgo Kultur) entgegensetzt. Wenn man, wie ich es vorschlage, den Ursprung des Ideologischen in Basisprozessen aufsucht, folglich Warenfetisch, Idole des Markts und Fetische des Alltagslebens als Elementarformen des Ideologischen bzw. ideologische Elementarmächte begreift, stellt sich das Problem nicht. Die „spontanen, unwillkürlichen Bewußtseinsformen“ (Haug, ebd.) – ‚objektiven Denkformen’ – gehören in dieser Betrachtung von Beginn an organisch dem Ideologischen zu – wie auch das Unbewußte als weitere Komponente in die Elementarformen des Ideologischen gehört. An dieser Stelle kann man sehr deutlich den Zusammenhang von ‚Bewußtsein’ und ideologischer Vergesellschaftung demonstrieren (wie auch den Zusammenhang von Bewußtsein und Unbewußtem im Prozeß der Vergesellschaftung selbst). Es geht hier also, in meiner Sicht, um mehr als „terminologische Entscheidungen“; es ist dies der Dreh- und Angelpunkt meines Ideologieverständnisses. Ich bin, mit Haug und Ihnen, durchaus der Ansicht, daß man sinnvoll das Ideologische, in einem bestimmten Umfang zumindest, als „ideelle Vergesellschaftung“ verstehen sollte (H 1993, 72), doch aber als eine solche, die sich in primärer Form von unten nach oben vollzieht (wenn man die Metapher des ‚Unten und Oben’ übernimmt). Ich meine auch, daß dies die Auffassung von Marx war. So ist die Religion, wie ich ihn lese, zwar das Ergebnis bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse (‚der Sozietät’), solcher der Entfremdung; sie wird aber von den tätigen Menschen, als Reaktion auf diese Verhältnisse, produziert: Sie ist „Seufzer der bedrängten Kreatur“. Sie ist also, wie bewußtlos auch immer, Verarbeitungsform der Erfahrung entfremdeten Lebens, tritt nicht von außen oder oben in dieses hinein (das wäre schließlich ein Modus der Priestertrugstheorie). Zugleich ist sie „Opium“: illusionäre Befriedigung und wird als solche von der ideologischen Macht Religion institutionell ausgearbeitet und organisiert. Religion als ‚Vergesellschaftung von oben’ tritt so als historisch-genetisch Zweites hinzu; zu welchem historischen Zeitpunkt, wäre religionshistorisch festzustellen. – Dies ist ein Versuch der Rekonstruktion, der vielleicht nicht in allen Punkten mit dem Ihren übereinstimmt. So überließen Sie mir freundlich einen noch unveröffentlichten Aufsatz zur Religion (R 2012), der mich bei der ersten Lektüre sehr beeindruckte; wir sollten, in Fortführung unseres Gesprächs, unsere Argumentation vergleichen, das Gemeinsame und das Trennende wären so am konkreten Beispiel zu erörtern.
In der Frage der ‚ersten Stufe’ der Ideologie stimme ich, wenn ich es recht sehe, mit Herkommers Position überein. Auf der anderen Seite aber unterschätze ich keineswegs die Macht der ideologischen Apparate. Sie sind mehr als nur ‚Potenzierung’, ‚Erweiterung’ und ‚Verstärkung’ (obwohl sie dies auch sind, wie das Beispiel der Religion zeigt), geschweige denn daß sie der bloße ‚Ausdruck’ der mystifizierten Gedanken wären. Sie sind reale Gewalten von großer Wirkkraft, die in entwickelten Klassengesellschaften in der Tat den Charakter selbständiger Mächte annehmen. Sie formieren den ideologischen Prozeß (wer dies nicht sieht, ist historisch blind). Sie formieren ihn ‚von oben’, doch nicht ‚von außen’ (wie eine von Ihnen verwendete Formulierung nahe legt: R 2008, 153, 155), denn sie sind nicht der Gesellschaft ‚ausgelagert’, sondern wirkender Teil von ihr. In jedem Fall sind sie, in meiner Sicht, nicht das Erste und Ursprüngliche im ideologischen Prozeß. Vielleicht ließe sich hier von einer primären und einer sekundären Vergesellschaftung sprechen. Das Verhältnis beider, dies sei als Hypothese formuliert, ist historisch variabel, es läßt sich empirisch allein historisch-analytisch bestimmen. Es gibt durchaus historische Fälle, in bestimmten Gesellschaftsformen mag dies die Regel sein, wo die Formierung von oben die im empirischen Sinn primäre Determinante ist. Wenn ich von primärer Vergesellschaftung spreche, so ist dies genetisch zu verstehen.
Ich möchte ein Beispiel aus meinem Forschungsgebiet geben. Ich beziehe mich auf Haugs Theorie des ästhetischen Raums in seinem Ideologiebuch (H 1993, 136-50). In subtiler Analyse erfaßt Haug die „Einräumung des Ästhetischen im Gefüge von Arbeitsteilung, Klassenherrschaft und Staat“, damit auch die Konstitution ästhetischer Autonomie, als Akt ideologischer Vergesellschaftung von oben. Der ästhetische Raum ist ideologisches Konstrukt. Vieles des dort Gesagten überzeugt, und niemand, der am Prozeß der Institutionalisierung von Kunst interessiert ist, wird an Haugs Argumenten vorbeigehen können. Was er aber ausblendet, ist für mich das Wichtigste (weil es das genetisch Primäre ist): daß sich ästhetische Räume (ästhetische Raumkonstitution), wie auch elementare Formen der Institutionalisierung von Kunst, zunächst organisch aus der ästhetischen Produktion selbst, dem besonderen Produktionszweig Kunst ergeben. Einige einfache Beispiele. Wer Theater spielen will, braucht zumindest (so oder so ähnlich hat sich Goethe einmal ausgedrückt) vier Fässer, ein paar Bretter und einen Vorhang als elementaren Raum, also Grundform theatraler Raumbildung. Ein Bild bedarf des Raums, in dem es hängt und wahrgenommen wird. Ein Symphoniekonzert ist undenkbar ohne eine jetzt schon sehr spezifische und komplexe Raumform. Ästhetische Einräumungen wird es geben, solange es Kunst gibt (und ich wünsche mir keine Gesellschaft ohne Kunst, zuallerletzt die kommunistische); mit der zunehmenden Komplexität der Künste nehmen auch die ästhetischen Raumanforderungen zu. Auch Kunstautonomie ergibt sich primär aus dem Charakter der ästhetischen Produktion (in einem Buch, das demnächst erscheint, versuche ich, diesen Vorgang zu rekonstruieren: M 2012a). Pointiert formuliert: Die Kunst bringt den Raum hervor, nicht der Raum die Kunst. Das Erste und Grundlegende des künstlerischen Prozesses ist die künstlerische Tätigkeit – als Bewegung ‚von unten’. Dies, meine ich, ist durchaus ‚marxisch’ gedacht: das Erste ist die gegenständliche Tätigkeit, sie ist nach den Feuerbach-Thesen die Fundamentalkategorie des neuen Materialismus, und künstlerische Tätigkeitist eine gegenständliche Tätigkeit per excellence. Wohlgemerkt: auch in diesem Beispiel handelt es sich um genetische Priorität. Empirisch fungiert der ästhetische Raum in seiner ideologisch geprägten Gestalt oft als Determinante des Kunstprozesses, ja kann zur Determinante der ästhetischen Form selbst werden. So ist das Shakespeare-Theater noch stark vom theatralen Spiel her, den Anforderungen der Theaterproduktion bestimmt. Die Guckkastenbühne des bürgerlichen Zeitalters ist weit davon entfernt. Sie wirkt in der Tat ‚von oben’ auf den künstlerischen Prozeß ein. Ein extremes Beispiel ist die Geschichte des Konzertsaals. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wird dieser zum quasi-sakralen Raum, der bis zum heutigen Tag überlebt, mit dem Dirigenten (um Eisler zu variieren) als Mischung von Hohepriester und Oberkellner (man denke an Herrn Tiedemann).
An dieser Stelle läßt sich Gemeinsames und Differenz unserer Positionen, glaube ich, recht gut benennen. Ich arbeite selbst mit der Kategorie ideologischer Vergesellschaftung (so in meinem Logos-Buch) und messe dieser eine zentrale Rolle in der Ideologietheorie zu – da bin ich, wenn Sie so wollen, beim PIT in die Schule gegangen –, begreife aber ideologische Vergesellschaftung als Vorgang, der zugleich von unten nach oben und von oben nach unten verläuft, dessen Struktur also komplexer verfaßt ist als in den Theorien des PIT, soweit ich sie kenne, entwickelt wird.
2. Ein weiteres Problemfeld ist zu benennen – es betrifft einen neuralgischen Punkt unserer Differenzen. Es wurde in dem Gesagten bereits angesprochen: die Rolle und Bedeutung des Bewußtseins im Ideologischen. Ich meine nicht, daß diese umfassend und angemessen vom Begriff der ideologischen Vergesellschaftung her erfaßt werden können. Zum ideologietheoretischen Konzept des Bewußtseins gehört ein Vielfaches, das von den objektiven Gedankenformen zu Alltagsbewußtsein, Wissensformen und den ideologischen Formen (gesellschaftlichen Bewußtseinsformen) im Sinne des Marxschen Vorworts von 1859 (MEW 13, 8f.) reicht, also Recht, Politik, Religion, Kunst, Philosophie, im gewissen Sinn auch Wissenschaft (wie wir hinzufügen dürfen) einschließt. Bewußtsein bildet also einen Komplex eigener Art innerhalb des Komplexes Ideologie. Es geht also nicht nur, in meiner Sicht, um den Zusammenhang von ideologischer Vergesellschaftung und mystifizierten ‚objektiven Gedankenformen’ (wie Sie schreiben), sondern um die Frage des ‚Komplexes Bewußtsein’ innerhalb des Komplexes Ideologie, zu dem die ideologische Vergesellschaftung integral gehört. Und Teil dieser Frage ist – ich würde sagen: unausweichlich – die Frage nach dem ‚Inhalt’ der Bewußtseinsgestalten, damit die Frage nach dem Wahren und Falschen in ihnen. Ausdrücklich aber konstatiert das PIT an strategischen Punkten einen Paradigmenwechsel „vom Wahr-Falsch-Gegensatz zur Analyse der Wirkungsweise von Ideologien“ (so Sie selbst in HKWM 6/I, 718), ja Reitz formuliert apodiktisch, daß die neue Ideologietheorie „Abstand von Wahrheitsfragen nimmt“ (HKWM 6/I, 692). Wenn Bewußtsein überhaupt thematisiert wird, dann doch in recht reduzierter Form. In Haugs klassischer Formulierung wird dieser Tatbestand ja sehr präzise abgebildet: „Wir fassen das Ideologische als ideelle Vergesellschaftung von oben“ (H 1993, 72). Was jetzt im Ideologischen noch Bewußtsein ist, möchte ich pointiert sagen, ist auf das Wörtchen ‚ideell’ zusammengeschrumpft. Der Dimension des Bewußtseins und der damit organisch verbundenen Frage nach dem Inhalt des Bewußtseins wird bestenfalls im Sinn einer Nebenrolle gedacht, wenn sie nicht gänzlich ausgeblendet wird. Sehr bezeichnend dafür sind in dem oben zitierten Beispiel Haugs Ausführungen über Kant. Dort findet man sehr viel, auch viel Originelles und Interessantes über die Einräumung des ästhetischen Raums im Konzept der Urteilskraft, nicht zuletzt auch mit Blick auf das bekannte ‚interesselose Wohlgefallen’, doch kann ich kein Wort darüber entdecken, ob der Kantschen Konzeption, es handelt sich ja unstrittig um eine klassische Gestalt idealistischen Denkens, wie auch immer entstellt und verzerrt, ‚Wahrheit’ (mit Blick auf das Ästhetische und die Kunst) zukommen könnte. Dabei liegt die Frage gerade bei Kant auf der offenen Hand. Wie anders denn, möchte ich fragen, soll man Mozart-Symphonien oder Bach-Konzerte hören als im Modus eines interesselosen Wohlgefallens? Als Begleitung zum Klassenkampf sind sie so ungeeignet wie sie zur Untermalung eines Diners unpassend sind. Eigentümliche Vorstellungen von Kunst scheinen hier vorzuliegen; sie führen dann wohl dazu, daß man Biermann für den größten sozialistischen Volksdichter unserer Tage hält.
Die Zurücknahme der Bewußtseinsfrage und derVerzicht auf die Wahr/Falsch-Kategorie ist mir um so weniger verständlich, als im PIT ja der emphatische Anspruch auf eine auch philologisch genaue Marxorientierung vorliegt. Er wird in Vielem auch sicher beeindruckend eingelöst. In diesem Fall aber sehe ich in den genannten Schriften von Marx das Konzept ideologischer Vergesellschaftung höchstens implizit angelegt, doch keineswegs zentral (was seine Ausarbeitung keineswegs ausschließt). Das Hauptinteresse dieser Arbeiten liegt auf der Frage des Inhalts von Bewußtsein. Und Marx war in aller Deutlichkeit nicht nur am Falschen idealistischen Denken interessiert, er hat gerade auch dessen Leistung – also das Wahrheitsmoment in ihm – hervorgehoben (in den Pariser Manuskripten, in den Feuerbachthesen). Die Deutsche Ideologie ist, wenn ich sie nicht völlig falsch gelesen habe, in großen Teilen eine ideologiekritische Schrift, für die die Kategorien des Wahren und Falschen zentral sind. Auch in der Deutung der Religion geht es nicht zuletzt darum, daß in der Form der Verkehrung des Bewußtseins sich eine anthropologische Wahrheit ausspricht.
Für die Frage der Wahrheit aber, und damit für eine Grundfrage der Bewußtseinstheorie, liegt in den Schriften des PIT wie im Denken von Haug generell offenkundig kein Interesse vor – Sie selbst wollen die Frage in die Erkenntnistheorie delegieren. Ich frage mich warum? Es ist dies der Punkt, der mir seit meiner ersten Beschäftigung mit dem PIT die größten Kopfschmerzen bereitet hat. Warum denn ‚Paradigmenwechsel’, warum ideologische Vergesellschaftung an die Stelle von Bewußtsein gesetzt? Warum wurde die Ausarbeitung des Konzepts ideologischer Vergesellschaftung nicht von vornherein als Erweiterung der bewußtseinstheoretisch orientierten Ideologietheorien verstanden (was ja nicht ausschließt, daß dabei das zu Erweiternde im gewissen Umfang auch verändert werden muß)? Das ist keine polemische, sondern eine echte Frage. In den Schriften des PIT habe ich bislang keine wirklich überzeugende Antwort dafür gefunden. Die einzige Erklärung, die ich habe, ist keine, die mich sonderlich erfreut. Es ist die, daß, trotz der partiellen Kritik an Althusser, die ich kenne, der Schatten Althussers vom Beginn an auf dem ganzen Unternehmen lastet. Wie ein italienischer Freund, der die Arbeiten des PIT recht gut kennt, mir lapidar sagte: ‚zu viel Althusser, zu wenig Gramsci’. Ich lasse mich gern eines Besseren belehren.
3. Ein weiteres Problemfeld bildet der Zentralbegriff der von Ihnen vertretenen Theorie des Ideologischen, die ‚Vergesellschaftung von oben’. Nicht daß ich seine Bedeutung unterschätze. Er ist eine Zentralkategorie auch der von mir vertretenen Auffassung, doch steht er eben nicht (wie oben erläutert) in deren Zentrum. Doch auch als Partialkategorie des Ideologischen wirft er in der vorliegenden Verwendung Probleme auf.
Zunächst sei ein Mißverständnis geklärt. Ich sprach von der „omnihistorischen, statischen Struktur“ des Ideologischen „für staatsförmig organisierte Gesellschaften“ (M 2012, 78; hier kursiv), doch nicht für alle Geschichte (was ich für ganz unsinnig hielte). Dennoch ist die Formulierung nicht sonderlich geglückt, wenn sie ein solches Mißverständnis hervorrufen kann. Was ich meine ist dies: die Struktur der Vergesellschaftung von oben, wie ich sie aus den genannten Texten kenne, erfaßt nicht die Differenzen zwischen Formen derselben, und teilweise sind diese Differenzen enorm. So stellt die absolute Monarchie in der frühen Neuzeit geradezu die klassische Form einer Gesellschaft dar, die staatsförmig von oben organisiert ist. Der Unterschied aber zu der staatsförmig organisierten Gesellschaft im Faschismus könnte größer nicht sein. Es ist ein Unterschied zwischen Zivilisation und Barbarei. Nehmen wir die staatsförmig organisierten Gesellschaften im sog. realen Sozialismus hinzu oder staatsförmige Organisation in unserer eigenen, so kompliziert sich weiter das Problem. Nun können Sie sagen, daß es sich bei der Bestimmung des Ideologischen im PIT um eine rein formale Kategorie handelt, die allen diesen Formen gemeinsam ist. Die Kategorie ist dann ziemlich leer, doch könnte es angehen. Es bleibt aber beim PIT nicht bei dieser Formalbestimmung. Zwar widersprechen Sie mir, wenn ich sage, daß die Kategorie des Ideologischen eine rein negative Kategorie ist, doch bin ich von dem Gegenargument nicht recht überzeugt. Denn in vielfachen Formulierungen, auch bei Ihnen selbst, wird explizit der Begriff des Ideologischen an die der Entfremdung wie der Herrschaftsreproduktion gebunden. So Haug: „Das Ideologische ist die Reproduktionsform der Entfremdung, ideelle Vergesellschaftung im Rahmen staatsförmig regulierter Herrschaft.“ (Der Satz steht im Text kursiv.) „Es ist eine analytische Kategorie, die Wirkungszusammenhänge der Herrschaftsreproduktion (…) aussagt.“ (H 1993, 17) Und Sie selbst: „Das Ideologische bezeichnet die Grundstruktur ideologischer Mächte ‚über’ der Gesellschaft und damit den Wirkungszusammenhang einer ‚entfremdeten Vergesellschaftung-von-oben’.“ (R 2008, 155) Weiter sprechen Sie von ‚Fremdbestimmung/Fremdvergesellschaftung’ (im Gegensatz zu ‚Selbstbestimmung/Selbstvergesellschaftung’; so auch im Sachregister), als Werk von „aus der Gesellschaft ausgelagerten, von ihr entfremdeten Instanzen“ (ebd., 153). Gehe ich zu weit, wenn ich dies im Sinne einer ‚doppelten Entfremdung’ verstehe – ‚Fremdbestimmung/Fremdvergesellschaftung, besorgt durch von der Gesellschaft entfremdeter Instanzen’? Möglicherweise ist mir bei flüchtiger Lektüre Wesentliches entgangen, und ich lasse mich gerne aufklären. Doch was heißt hier ‚Entfremdung’ inhaltlich-konkret (nicht nur im Sinn einer Negativbestimmung)? Und was meinen Sie, wenn Sie sagen, daß die ideologischen Mächte ‚über’ der Gesellschaft stehen, aus ihr ‚ausgelagert’ sind, gar eine „’sozialtranszendente Instanz’“ (ebd., 156) bilden? Denn sind nicht die ideologischen Mächte veritabler Teil der Gesellschaft selbst? Sicher kann man hier metaphorisch von ‚oben’ sprechen, wie auch der Marxsche Überbau ein ‚Oben’ konnotiert, doch aber nicht im Sinne eines ‚über-der-Gesellschaft-Stehens’. Wie auch immer verstanden, diese Formulierungen legen mit eindringlicher Deutlichkeit den Prozeß des Ideologischen als ein Ineinander von Herrschaftsreproduktion und Entfremdung dar. Und dies ist doch, für Marxisten zumindest, negativ konnotiert. Es gehört zu Verhältnissen menschlicher Knechtung – Verhältnisse, die zu verändern, abzuschaffen sind. Für die Vorstellung einer möglichen kulturellen Bildung (die immer mit Individualitätsentwicklung und Selbstbestimmung zusammenhängt) innerhalb dieser Verhältnisse ist hier kein Platz. Die historischen Differenzen legen aber eine solche Vorstellung nahe. So spricht gerade Marx von der absoluten Monarchie als „zivilisierendem Zentrum“ in allen großen Staaten des 16. Jahrhunderts (MEW 10, 439f.). Sie war die Bedingung für die Herausbildung einer der Hoch-Zeiten der menschlichen Kultur, zu der Werke wie das Drama Shakespeares, die Philosophie Bacons, Cervantes’ Don Quichote und die klassische Malerei der Spanier gehören. Sie verdanken sich selbstverständlich nicht dem Absolutismus allein, aber ohne ihn wären sie nicht möglich gewesen.
Sie selbst verweisen auf das Konzept der Kompromißbildung, um meinen Einwand zu widerlegen. Doch ist diese nicht erst das Resultat des Zusammentretens mit dem Kulturellen als Bewegung von unten – gewissermaßen ein Kompromiß, den das Ideologische mit seinem Gegner schließt, und das zum einzigen Zweck der Herrschaftsreproduktion? Mit dem Begriff der Kompromißbildung, scheint mir, sind historisch-kulturelle Prozesse, ja ist das Ideologische als historisches Konkretum nur eingliedrig erfaßt – eben nicht als konkrete Komplexität. Sicher: in Shakespeare treffen sich plebejische Tradition, humanistische Überlieferung und Tudorideologie, mit dem Begriff des Kompromisses aber ist die gewaltige kulturelle Leistung dieses Dramas, die produktive Verarbeitung dieser Komponenten nur unzureichend erfaßt. Auch hier sage ich nicht, daß das von PIT und Ihnen Gesagte ‚falsch’ sei (das ist es nicht, und ich habe es nie behauptet), ich moniere allein einen Komplexitätsmangel. Sicher: Komplexitätsreduktionen sind bei jeder Theorie unumgänglich – sie dürfen aber nicht auf Kosten der Phänomene gehen.
Andere Fragen bleiben. Ich kann sie hier nur kurz ansprechen. So würde ich über das Verhältnis von Ideologie und Kultur, Ideologischem und Kulturellem, gern ein ausführliches Gespräch führen. Es ist dies, neben dem Gesichtspunkt des Bewußtseins, der zweite gravierendste Einwand, den ich vor allem gegen die Theorien von Haug habe. Auch hier irritiert mich die Komplexitätsreduktion. Ich sehe eine simple Opposition am Werk, und ich sehe nicht, daß sie in den vorliegenden Texten aufgelöst wird. Kann, ich deutete es an, eine Vergesellschaftung von oben auch kulturelle Momente besitzen (wobei ich das Kulturelle, im Ansatz keineswegs weit von Haug entfernt, am Moment selbstzweckhafter Kraftentwicklung, individuell-gesellschaftlicher Selbstproduktion festmache [M 2010, 389-98])? Wie steht es mit der Kultur der Aristokratie? Am Hof der Elisabeth gab es hochgebildete, auch human gebildete, auch kulturell tätige, selbstbestimmt handelnde Personen, Autoren von Rang – ich nenne Philip Sidney als Beispiel –, der ‚homo vere humanus’ war dort keine bloße Ideologie. Nach ‚unten’ hatten diese Leute sicher keinen Kontakt. Ihre Kultur hatten sie ‚von oben’, weitgehend über humanistische Bildung, die Institution der Universität usw. vermittelt. Vielleicht müßte man hier doch auf den mittlerweile vergessenen Begriff einer ‚Ersten Kultur’ zurückgreifen (der über Lenin hinaus zu entwickeln wäre)? Wie steht es überhaupt mit ‚Erziehung’? Hat bei ihr nicht notwendig ein Moment der Formierung ‚von oben’ immer einen Anteil? Sollte man nicht von einer Ambivalenz des Ideologischen auch im Sinne seines Vergesellschaftungsbegriffs sprechen? Und wie steht es mit den ideologischen Mächten selbst? Sicher: der Staat als Klasseninstitution wird ‚in kommunistischer Perspektive’ absterben, aber wird eine solche Gesellschaft als Weltgesellschaft völlig ohne ‚staatsförmige’ Institutionen auskommen können? Ich halte dies für recht unwahrscheinlich. Und wie steht es vor allem mit dem Recht? Sicher, sein ideologischer Charakter in Ihrem und dem Haugschen Sinn ist unbestreitbar und wird auch in meiner Auffassung geteilt. Aber ist damit alles über das Recht gesagt? Mit Entschiedenheit meine ich: nein. Denn das Recht ist nicht nur ideologische Macht im Sinne staatsförmiger Herrschaftsreproduktion, es ist auch eine zivilisatorische Errungenschaft (deren Begriff vielleicht noch auszuarbeiten wäre) – ich denke (nur stichwortartig) an Menschenrechte, Völkerrecht, Individualrechte etc., aber auch Institutionen wie die Gewaltenteilung. Allein die Erfahrung der Stalinherrschaft, aber auch zivilisierterer Formen sozialistischer Herrschaft sollte uns lehren, daß ein Sozialismus ohne funktionierende Rechtsverhältnisse (ich möchte gar nicht von ‚Rechtstaat’ sprechen) für die Zukunft undenkbar ist. Für mich jedenfalls ist eine klassenlose Gesellschaft (wenn je es sie gibt) nur als integrale Rechtsgesellschaft vorstellbar, d.h. als eine solche, in der fundamentale Rechte praktische Geltung besitzen und institutionell gesichert sind.
Lieber Herr Rehmann, ich schließe mit Fragen; es sind nicht wenige und ich hätte noch mehr. Ich hoffe, daß wir darüber – und natürlich auch über die Punkte unserer Differenz – im solidarischen Gespräch bleiben.
Ihr Thomas Metscher
Zitierte Literatur
H 1993: Wolfgang Fritz Haug, Elemente einer Theorie des Ideologischen, Hamburg 1993
H 2011: Wolfgang Fritz Haug, Die kulturelle Unterscheidung. Elemente einer Philosophie des Kulturellen, Hamburg 2011
HKWM: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. W.F. Haug (Hg.), Hamburg 1994ff.
MEW: K. Marx/F Engels, Werke, Berlin 1970ff.
M 1983: Thomas Metscher, Ideologie, Literatur, Philosophie. Anmerkungen zu einer innermarxistischen Kontroverse, in: Das Argument 1983, 137, 27-42
M 1984: Thomas Metscher, Anmerkungen zum Ideologiebegriff des Marxismus und zum Ideologiebegriff des ‚Projekts Ideologietheorie’, in: H.H. Holz/T. Metscher/J. Schleifstein/R. Steigerwald (Hg.), Marxismus, Ideologie, Politik. Krise des Marxismus oder Krise des ‚Argument’? Frankfurt a.M. 1984, 218-38
M 2010: Thomas Metscher, Logos und Wirklichkeit. Ein Beitrag zu einer Theorie des gesellschaftlichen Bewusstseins, Frankfurt a.M. 2010
M 2012: Thomas Metscher, Der Komplex Ideologie, in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung. 2012, 90, 66-79
M 2012 a: Thomas Metscher, Kunst. Ein geschichtlicher Entwurf, Berlin 2012
R 2008: Jan Rehmann, Einführung in die Ideologietheorie, Hamburg 2008
R 2012: Jan Rehmann, Für eine ideologietheoretische Erneuerung marxistischer Religionskritik, in: Das Argument 299/2012 (im Erscheinen).
[1] Der Begriff stammt entgegen Ihrer Annahme nicht von Gramsci (M 2012, 78).