Der erste Teil dieses Beitrags erschien in Z 92, September 2012, S. 170-184. Der Autor stellt sich, wie eingangs des ersten Teils hervorgehoben, die Aufgabe, „einen groben Überblick über die Entfremdungskonzeption der Lukácsschen Ontologie des gesellschaftlichen Seins zu geben“. Dabei wird der Religion „als dem Archetyp aller vorwiegend ideologisch vermittelten Entfremdungserscheinungen“ besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Teil I gab einen Überblick zum Aufbau der „Ontologie“ und zur – kontroversen – Debatte des Entfremdungsbegriffs. (Red.)
Jenseitige und diesseitige Notwendigkeitsreligionen
Während die wissenschaftlich-philosophische Ontologie die objektive Wirklichkeit untersucht, um den realen Spielraum für die Praxis (von der Arbeit bis zur Ethik) aufzudecken, geht die traditionelle, religiöse Ontologie von Versuchen einer Sinngebung fürs eigene (alltägliche) Leben der einzelnen Menschen aus und konstruiert ein Weltbild, welches die Befriedigung des religiösen Bedürfnisses verspricht (vgl. Lukács 1984. 131). In den Religionen wird das Schicksal der Seele, also das Wesentliche der individuellen, partikularen Persönlichkeit, unausweichlich von den transzendenten Mächten determiniert und die jenseitige Erfüllung des Menschen auf ewig garantiert. Der von Lukács als Übergangsphilosophie bezeichnete Pantheismus der Renaissance ließ zwar den transzendenten Gott aus der Ontologie verschwinden oder doch zumindest bis zur völligen Ungegenständlichkeit verblassen (vgl. Lukács 1984. 493f.). An seine Stelle trat jedoch ein Weltbild des deus sive natura: Gott oder auch Natur (Spinoza), welches das göttliche Bestimmtsein der Welt durch ihre gleichartige Selbstbestimmung vermittels der (absoluten) Notwendigkeit ersetzt.[1] Die neue Philosophie verlieh der aufstrebenden und ihren Anspruch auf Herrschaft anmeldenden Bourgeoisie ideologischen Flankenschutz, indem sie dem Begriff des (unausweichlichen) Fortschritts die weltanschauliche Weihe verlieh (vgl. Lukács 1984. 146).
Lukács’ Begriff der Gattungsmäßigkeit
Der Entfremdungsbegriff bei Lukács lässt sich aber auch als Widerspruch zwischen dem Entwicklungsniveau der „Gattungsmäßigkeit an sich“ und der zurückbleibenden Realisierung der „Gattungsmäßigkeit für sich“ beschreiben (vgl. beispielsweise Lukács 1984. 193 ff. u. Lukács 1986. 520 ff.).[2] Er unterscheidet beim Gattungswesen zwischen dem jeweils erreichten Niveau des Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse – dies entspricht einem jeweils erreichten Niveau der Produktivkräfte und den daran gebundenen Funktionszuordnungen sowie Anforderungsniveaus an die Individuen – und einer in der Entwicklungsdynamik selbst angelegten, wenn auch keineswegs automatischen Perspektive der Höherentwicklung der menschlichen Persönlichkeit in der sich entwickelnden Gesellschaft. Das jeweils erreichte Niveau nennt Lukács die „Gattungsmäßigkeit an sich“, während in der „Gattungsmäßigkeit für sich“ die Emanzipationsperspektive des menschlichen Individuums aufscheine, welche sich letztlich nur im Kommunismus voll realisieren lasse (vgl. Lukács 1986. 519).
Auf jedem Entwicklungsniveau der Gesellschaft sind die Menschen zuerst einmal auf ihre jeweilige partikulare Rolle festgelegt, auf ihre Funktion in der „Gattungsmäßigkeit an sich“. Gleichzeitig spannt die jeweils erreichte „Gattungsmäßigkeit an sich“ einen Möglichkeitsraum auf für konkrete, auf die „Gattungsmäßigkeit für sich“ gerichtete Initiativen (vgl. Lukács 1986. 529 ff. u. 592). So ist z.B. die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln nur die erste und allgemeine Grundlage des Kommunismus, d.h. sie bewegt sich noch auf der Ebene der „Gattungsmäßigkeit an sich“. Darüber hinaus auf die „Gattungsmäßigkeit für sich“, auf die Überwindung der Entfremdung zielend, sind Formen der Ausprägung der Persönlichkeit, welche einen konkreten und bewussten Zusammenhang mit der Menschengattung insgesamt herstellen (vgl. Lukács 1986. 648).
Die ideologische Ausrichtung auf eine ganzheitliche Erfüllung der Persönlichkeit in der bewussten Verknüpfung des persönlichen Schicksals mit dem der menschlichen Gattung, d.h. die Ausrichtung auf die „Gattungsmäßigkeit für sich“, erklärt Lukács zufolge auch die in manchen Fällen Jahrtausende lang anhaltende Wirkung und Faszination, welche überragende Persönlichkeiten der Geschichte auf nachkommende Generationen ausüben[3] (vgl. Lukács 1984. 73, 189 u. 207 u. Lukács 1986. 615 ff.). Als Beispiele solcher Persönlichkeiten nennt er u.a. Sokrates, die Sagengestalt der Antigone, oder auch Jesus. Bei letzterem habe die traditionelle marxistische Religionskritik einen blinden Fleck, wenn sie die christliche Botschaft nur unter dem Aspekt der bekannten Kritik der Religion als Opium des Volkes analysiere (vgl. Lukács 1986. 617).[4] Diese Reduktion auf versöhnlerische Duldsamkeit greife zu kurz und verkenne die zutiefst menschliche und humanistische Botschaft, welche der Erfüllungssehnsucht der Individuen eine Perspektive in der Orientierung auf die gesamte Menschheit biete, d.h. in Richtung der wahren „Gattungsmäßigkeit für sich“ wirke. Der französische Marxist Lucien Sève verweist darauf, dass schon für den vormarxistischen Atheismus das große Rätsel in der Vitalität der Religion bestanden habe: Wie sei es möglich, so fragt er, dass ein bloß negatives Phänomen, eine schlichte Bewusstseinsillusion, eine solche geschichtsmächtige Wirkung entfalten könne?[5] Marx erkläre mit seiner Theorie der ökonomischen Entfremdung als der historischen Matrix der menschlichen Entfremdung allgemein, inklusive der religiösen Entfremdung, nicht nur ihre Entstehung, sondern mache v.a. ihren wirklichen Inhalt bewusst, welcher in dem (entfremdeten) Protest gegen die reale Entfremdung bestünde (vgl. Sève 1974. 216f., s. auch Sève 2012).
Die Religion hält die Menschen in ihrer Partikularität gefangen
Allerdings werde Lukács zufolge der soziale Gehalt der christlichen Botschaft, wie beispielsweise die anfänglichen sozialen Hoffnungen der Unterschichten auf eine diesseitige Umverteilung des irdischen Reichtums – geknüpft an die Vorstellung der Parusie, der Wiederkunft Christi – durch das jenseitige Erlösungsversprechen grundsätzlich fehlgeleitet. Diese Hoffnungen drückten sich beispielsweise in der Aufforderung aus, die Händler aus dem Tempel zu jagen, und begründeten den sich ausbreitenden Einfluss der plebejischen frühchristlichen Sekten. Das Aufschieben der Parusie in unverbindlich zeitlose Ferne bietet hingegen die Basis für die Verwandlung der Jesus-Sekte in Israel zur Weltkirche des Christentums (vgl. Lukács 1986. 609 ff.). Die verdinglichende Vorstellung der ewigdauernden Erlösung der individuellen Seele, d.h. des eigentlichen, wahrhaft menschlichen Wesens im transzendental garantierten Jenseits, korrespondiert mit der Erstarrung der Individuen in ihrer jeweilig gegeben partikularen Persönlichkeit, im Verhaftetbleiben in der „Gattungsmäßigkeit an sich“. Die Haupttendenz der Religion bestehe daher genau darin, die Menschen in ihrer Partikularität einzufrieden (vgl. Lukács 1986. 592 ff.).
Entwicklungsgeschichtlich[6] entstehe nun die Religion aus der arbeitsanalogischen Vorstellung der direkten Beeinflussung der noch unverstandenen Naturmächte in der Magie: Aus der Erfahrung der teleologischen Struktur der Arbeit erwachse der Glaube, es sei mittels magischer Beeinflussung möglich, es beispielsweise regnen zu lassen. Dabei stellt, so Lukács, die Magie zwar eine Form der Verdinglichung dar, jedoch noch keine Entfremdungsform, da es in diesen Anfangsstadien der menschlichen Entwicklung noch nicht zur Ausprägung einer wahrhaft individuellen Persönlichkeit gekommen sei (vgl. Lukács 1986. 639). Vor dem Hintergrund des wachsenden Komplexitätsgrades der Gesellschaft zeichne sich der Übergang von der Magie zur Religion durch die Ablösung dieser arbeitsanalogischen Vorstellung einer direkten Beeinflussung der natürlichen (und zunehmend der sozialen) Umwelt aus. Stattdessen werden Götter gleichsam zwischengeschaltet, deren Gunst es durch Gebete, Opfer etc. zu gewinnen gelte (vgl. Lukács 1986. 576 ff.).
Zum Ursprung von Persönlichkeit und Entfremdung
Dieser Prozess geht einher mit dem Herauswachsen des Menschen aus der eingeborenen, schützend-sinngebenden Ur-Gemeinschaft. Erst nach Auflösung der Poliskultur – in der Polisethik stand das „Volkswohl“ im Vordergrund – wird das Privatleben zur alleinigen Daseinsweise der Einzelmenschen. Damit drängt sich für den Einzelnen nunmehr auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit des individuellen Lebens in den Vordergrund (vgl. Lukács 1986. 589f., zum Konzept der sich historisch herausbildenden menschlichen Persönlichkeit s. auch: Lukács 1986. 192 ff.). Die Religion als Urform der ideologischen Entfremdungsphänomene beruht auf der Vorstellung des teleologisch gesetzten Weltenlaufes, dem das partikulare Geschick des Einzelnen unentrinnbar unterworfen ist. Das persönliche Schicksal eines jeden Gläubigen bildet in diesem Weltbild einen Knotenpunkt im transzendent bestimmten Sein. Die Wirklichkeit wird als Ausdruck einer höheren Vorsehung aufgefasst, insbesondere angesichts schmerzhafter Ereignisse wie beispielsweise dem Tod von Angehörigen. Philosophisch bedeutet dies, so Lukács, den Zufall aus der objektiven Wirklichkeit auszuschließen und sie darüber hinaus egozentrisch zu interpretieren. Die Religion verewigt somit die Struktur der Ich-Bezogenheit des Alltagslebens – besonders deutlich wird dies in der Astrologie –, denn die eigene Person wird als Mittelpunkt des teleologisch bestimmten Weltgeschehens aufgefasst (vgl. Lukács 1963b. 781 ff.).
Ordnungsfunktion und Opium des Volks
Der Kirche – im Unterschied zur Sekte und Ketzerbewegung – kommt zunächst eine Ordnungsfunktion für die Regelung des Alltagslebens zu, welche aber nach und nach von staatlichen bzw. weltlichen Institutionen übernommen wird. Hinzu kommt eine strukturkonservative Funktion der Religion, wie sie auch in dem Diktum vom „Opium des Volks“ (Marx 1839-1844. 378) zum Ausdruck kommt: Die Orientierung auf das – ewige und vollkommene Erfüllung garantierende – überirdische Jenseits als eigentlichere Realität setzt notwendig die weltlichen Versuche des Ausbruchs aus der diesseitigen „Gattungsmäßigkeit an sich“ im Wert herab und der ideologische Kampf gegen die Entfremdung und Selbstentfremdung wird somit geschwächt (vgl. Lukács 1986. 618f.).
Drei Wege aus der Entfremdung: Wissenschaft, Kunst, Ethik
Dagegen sieht Lukács in Wissenschaft, ethisch motiviertem Verhalten und Kunst drei Formen einer möglichen Erhebung des Menschen über seine unmittelbare Partikularität (vgl. Lukács 1963b. 726f. u. 776 ff.): Erstens bringt schon die Alltagsentwicklung selbst notwendig eine zumindest teilweise Überwindung der Partikularität mit sich, da sie tendenziell zu einer objektivierenden Erkenntnis der Welt zwinge. Diese Tendenz wird in der Wissenschaft auf eine systematische Grundlage gestellt. Die Wissenschaft ist Lukács zufolge gerade durch eine auf objektive Welterkenntnis gerichtete, desanthropomorphisierende Methode gekennzeichnet, welche notwendig über die partikulare Beschaffenheit der Individuen hinausweist. Zweitens zeichnet sich Lukács zufolge ebenfalls ethisches Verhalten – das „Sichheimischfühlen im Leben selbst, die bedingungslose Hingabe an eine Idee, die für dieses Leben bestimmt ist“ (Lukács 1963b. 727) – durch die Annäherung der Individuen an einen menschheitlichen Standpunkt aus, in dem es ihnen gelingt, ein konkretes und bewusstes Verhältnis zur Gattung auszubilden. Drittens kann sich der Mensch mittels der (anthropomorphisierenden) Kunst im Katharsis-Erlebnis – der ‚Erschütterung’ und ‚Reinigung’ im Erschaffen wie in der Rezeption von Kunstwerken – über seine Partikularität hinaus erheben und eine Verbindung des eigenen Geschicks mit dem der Gattung herstellen. Genau dies ist Lukács zufolge das zentrale Merkmal „großer Kunst“ (vgl. Lukács 1986. 620 ff.).
Allerdings sind diese drei Möglichkeiten der Erfüllung der legitimen Sehnsucht nach voller Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit oftmals durch die gesellschaftliche Wirklichkeit versperrt. Dann verkümmern und erstarren die Individuen entweder in ihrer unmittelbaren Partikularität, mit den daraus folgenden Frustrationen, oder sie flüchten in eine religiöse Sublimierung mit dem jenseitigen Erlösungsversprechen der individuellen Seele. Die Schwierigkeiten des Alltagslebens bei der Realisierung des Wunsches nach einem erfüllten Leben bilden somit eine fortdauernde Basis des spontanen Entstehens des religiösen Bedürfnisses (vgl. Lukács 1963b. 726f.).
Erneuerungsbasis des religiösen Bedürfnisses
Das religiöse Bedürfnis steht Lukács zufolge mit der partikularen Person jedes Menschen in einem innigen, unzerreißbaren Zusammenhang. Es ist auf die Sinngebung und das Wesentlichmachen der Erfahrungen des partikularen Menschen, auf die Erlösung der partikularen Seele durch eine transzendente Macht ausgerichtet, wobei das jenseitig verklärte Sein als das eigentliche, echtere, höhere und würdigere Sein erscheint. Das religiöse Bedürfnis in seiner originären Form sei daher etwas primär Individuelles: die Suche des partikularen Menschen nach Erlösung und Heil seiner Seele, welche ihm seine tatsächlichen, objektiven und subjektiven Lebensumstände nicht ermöglichen. Die Art der Ausprägung des religiösen Bedürfnisses ist jedoch gesellschaftlich, wenn auch sehr variantenreich, bestimmt (vgl. Lukács 1963b. 780 ff.).
Schon im Prozess der historischen Entstehung der Religion speist sich das religiöse Bedürfnis aus unkontrollierten Affekten, welche aus der Unsicherheit gegenüber der unverstandenen Umwelt entstehen. Der (mehr oder weniger große) „Umkreis des Unerkennbaren“, der von Anfang an die teleologischen Setzungen in der Arbeit begleitet, äußert sich in Hoffnung auf das Gelingen bzw. Furcht vor den Folgen des Misserfolgs. Dies ist jedoch keineswegs nur eine vorübergehende Entwicklungsbedingung menschlicher Existenz. In der Arbeit als allgemeiner anthropologischer Existenzbedingung des Menschen treffen mit den teleologischen Setzungen und den kausalen Ablaufreihen heterogene Wirklichkeitsprozesse aufeinander. Da es grundsätzlich ausgeschlossen ist, die Komplexität der kausalen Totalität vollständig zu erfassen, kommt es zu einer prinzipiellen (mehr oder weniger großen) Nichtübereinstimmung[7] zwischen den angestrebten Zielen, welche den zwecksetzenden Entscheidungen der Individuen zu Grunde liegen, und den tatsächlichen Ergebnissen ihres Handelns in der Totalität ihrer Wirkungen (vgl. beispielsweise Lukács 1984. 9 u. 13).[8] Die prinzipielle Unmöglichkeit, alle Konsequenzen unseres Handelns zu überblicken, bildet so, über die gefühlsmäßige Verunsicherung, eine fortdauernd mögliche Erneuerungsbasis des religiösen Bedürfnisses (vgl. Lukács 1986. 639).
Epikureisch gegen Furcht und Hoffnung
Allerdings hält es Lukács für möglich, den beherrschenden Einfluss der Affekte auf die Weltsicht der Menschen mittels rationaler und praktischer Beherrschung des Alltagslebens zurückzudrängen. Er teile die epikureische Anschauung von Spinoza und Goethe, welche Furcht und Hoffnung als die Freiheit einer echten Menschlichkeit gefährdende Affekte ablehnten, schreibt er in einem Brief an seinen westdeutschen Herausgeber vom 23.01.1961 (vgl. Benseler 1986. 731). Insofern steht Lukács auch dem Blochschen „Prinzip Hoffnung“ eher reserviert gegenüber.[9] Er sprach hingegen lieber von Zuversicht in Bezug auf die Perspektive (vgl. Benseler 1986. 731f.). Darin drückt sich nicht nur eine semantische Spitzfindigkeit aus. Vielmehr ist es die Überzeugung, dass man nicht nur emotional und insofern irrational auf eine gesellschaftliche Verbesserung hoffen kann, sondern dass es möglich ist, die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht nur rational zu verstehen, sondern auch eingreifend zu verbessern und sich daraus Zuversicht gewinnen lässt. Daher wird man wohl auch kaum beim reifen Lukács einen der so oft bemühten Leitsprüche „Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens“ von Gramsci finden, welchen er bei dem französischen Schriftsteller Romain Rolland entliehen hat (vgl. Gramsci 1980. 57)[10].
Marxistischer Glauben?
Dagegen ist es folgerichtig, wenn Uwe-Jens Heuer sich in seinem Buch Marxismus und Glauben zustimmend auf die Gramsci-Passage bezieht (vgl. Heuer 2006. 295). Aus der Perspektive des reifen Lukács allerdings erweist Heuer dem Marxismus einen Bärendienst, wenn er einen Glauben jenseits – pardon: natürlich diesseits[11] – des Gottesglaubens als unverzichtbare Stütze des marxistischen Handelns verstanden wissen will.[12] Es brauche einen Glauben im Marxismus, da „Kämpfen, Handeln und gar der Einsatz des Lebens nicht auf Grund wissenschaftlicher Einsicht, sondern auf der Grundlage einer inneren Überzeugung“ erfolge (vgl. Heuer 2006. 289). Gegen „einseitige Wertungen Lenins“ bemüht er sich dabei um eine „gewisse Ehrenrettung“ von Kant und Fichte (Heuer 2006. 117). Vor allem ihre Betonung des Gewissens (vgl. Heuer 2006. 306) macht die beiden klassischen Philosophen des deutschen Idealismus für Heuer zu wichtigen Bezugspunkten der Erneuerung einer marxistischen Ethik.
Allerdings nimmt es sich verwunderlich aus, wenn Heuer sich neben Gramsci und Bloch auch auf Lukács als Referenzautor für sein erneuertes Denken über das Verhältnis von Marxismus und Religion bezieht (vgl. insbesondere Heuer 2006. 188, 199 u. 204 ff.). So beispielsweise, wenn er suggeriert, es gäbe eine Kontinuitätslinie von der neukantianischen Suche der „ethischen Sozialisten“ Max Adler und Otto Bauer nach „sittliche(r) Billigung“, welche den Kampf für den Sozialismus – jenseits der ökonomischen Notwendigkeit – motivieren könne, bis hin zu Lukács‘ Ethik, welche sich an das Verantwortungsbewusstsein und Gewissen des Einzelnen wende, von dem die (marxistische) Gesellschaftsphilosophie ihn nicht entlasten könne (vgl. Heuer 2006. 289f.).
Zwar lassen sich durchaus Ansatzpunkte beim jungen Lukács für eine solche Positionsannäherung finden, ihn jedoch pauschal zu einem Kronzeugen für die neukantianische Begründung eines ethischen Glaubens zur Motivierung des Kampfes für den Sozialismus zu machen, geht nicht nur stillschweigend darüber hinweg, dass der reife Lukács seine Frühschriften, insbesondere diejenigen, die sich der Ethik widmen, als in einem „idealistisch-utopischen, revolutionären Messianismus“ befangen kritisierte (vgl. Lukács 1968b. 17)[13], sondern ignoriert auch den Großteil seines hinterlassenen philosophischen Erbes.
Zum einen weist Lukács mehrfach explizit den Neukantianismus zurück, z.B. in der Kritik an den Positionen einiger Vertreter der Marburger Schule (beispielsweise Hermann Cohen und Paul Natorp, vgl. Lukács 1984. 147), wie auch im Rahmen der Auseinandersetzung mit Nicolai Hartmann, welcher mit der Marburger Schule brach und seine dortige ‚Kronprinzen‘-Stellung zugunsten der Hinwendung zur Ontologie aufgab (vgl. Lukács 1984. 422 ff.). Ebenso ausdrücklich kritisierte er die Strömungen um Bernstein und die Austromarxisten Otto Bauer und Max Adler (vgl. Lukács 1984. 574), welche – meist in Abgrenzung zur vorherrschenden mechanischen Verabsolutierung der Notwendigkeit der ökonomischen Zwänge, wie beispielsweise bei Kautsky oder Plechanow – den Marxismus um Kants Philosophie zu ‚ergänzen‘ trachteten und sich dabei, so Lukács‘ Urteil, bürgerlich-erkenntnistheoretisch verselbstständigten (vgl. Lukács 1984. 74f.).
Während der mechanische Materialismus (aber auch z.B. die Prädestinationslehre) das gesamte Sein einer absoluten, homogenen Notwendigkeit unterwirft, beinhaltet Kants schroffe Zweiteilung in eine reine Naturerkenntnis und eine reine Moral einen unüberbrückbaren Dualismus der Welt (vgl. Lukács 1984. 328). Dabei impliziert diese vollständige Trennung der Reiche von theoretischer und praktischer Vernunft auch eine notwendig idealistische Grundlegung und öffnet somit ein weites Feld für den (religiösen) Glauben, auf dem vielfältige Formen des subjektiven Voluntarismus sprießen können.
Erkenntnistheoretischer Flankenschutz für die Religion
Die Kantische Philosophie zeichnet sich des Weiteren durch die Wende zur Verselbstständigung der Erkenntnistheorie, Methodologie und Logik aus, welche im Neopositivismus und in der analytischen Philosophie ihre reinste Ausprägung findet und den Kern der ideologischen Auseinandersetzung in der Philosophie unserer Epoche bildet.[14] Lukács sieht die gesellschaftliche Mission der seit Kant in der Philosophie zur Vorherrschaft gelangten Erkenntnistheorie in der ideologischen Absicherung der Hegemonie der Naturwissenschaften – im Sinne einer ungehemmten wissenschaftlichen Entwicklung als wesentliche Bedingung kapitalistischer Expansion – bei gleichzeitiger Wahrung des ideologischen Spielraums für eine religiöse Ontologie, welche gesellschaftlich zur Herrschaftsabsicherung benötigt wird (vgl. Lukács 1984. 7f.). Ihre reinste Ausprägung im Neopositivismus – und hier trifft dieser sich mit dem Existentialismus – gipfelt in der Ablehnung der „metaphysischen“ Frage der Wirklichkeit. Trotz rasanten Fortschritts der wissenschaftlich-technischen Beherrschung der Natur, sichert der Neopositivismus somit, vermittels der ontologischen Abstinenz, der Religion einen Ehrenplatz in Bezug auf die Regelung des gesellschaftlichen Miteinanders der Menschen.
Die Philosophie liefert mit der Evakuierung der ontologischen Frage nach der Wirklichkeit den ideologischen Flankenschutz für die seit Bellarmin immer wieder (damals v. a. gegenüber Galileo und Giordano Bruno) aufgestellte Forderung der katholischen Kirche nach der Anerkennung einer doppelten Wahrheit, welche die Wissenschaft auf die praktische Erforschung der Welt der Erscheinungen beschränkt und das Ergründen des Wesens der Welt und des Menschen der Religion überlässt (vgl. Lukács 1984. 533). Die auf die gesellschaftliche Emanzipation und damit auf die Überwindung von Ausbeutung und Entfremdung ausgerichtete marxistische Weltanschauung habe daher auf philosophischem Terrain den Kampf gegen die – letztlich herrschaftssichernde – Hegemonie der Erkenntnistheorie zu führen.
Ethische Erneuerung des Marxismus
Zwar berührt Heuer mit seinem Anliegen einer ethischen Grundlegung, insbesondere vor dem realsozialistischen Erfahrungshintergrund, durchaus eine entscheidende Dimension der Erneuerung des Marxismus. Und er hat Recht, wenn er dem Einzelnen einen zentralen Platz einräumen will, verbunden mit Begriffen wie „Gewissen“, „Charakterfestigkeit“ und „Kraft zum Widerspruch“ (vgl. Heuer 2006. 306).[15] Allerdings irrt er deutlich in seinem Lösungsansatz der Rehabilitierung eines marxistischen Glaubens mit Bezug auf Kant und Fichte. Diesem lässt sich mit Lukács und in Anlehnung an Marx eine Ontologie der Überwindung der „metaphysischen Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit im menschlichen Handeln“ (vgl. Lukács 1984. 328) entgegensetzen[16], welche, die Spezifik des gesellschaftlichen Seins aus der Analyse des Zusammentreffens von Teleologie und Kausalität in der Arbeit ableitend (vgl. Lukács 1986. 7 ff.), eine marxistische Subjekttheorie begründen kann. Seine Ontologie des gesellschaftlichen Seins legt das materialistische Fundament einer erneuerten einheitlichen Weltanschauung, auf der sich eine durch menschliche Emanzipation auf Überwindung von Entfremdung gerichtete Ethik entwickeln lässt, ausgerichtet auf rationales Erkennen der Wirklichkeit diesseits von Religion und Glauben.
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[1] Insofern scheint es gerechtfertigt, von religiösen Zügen zu sprechen, wenn auch diesseitigen Schicksalsbestimmungen des Menschen eine absolute Notwendigkeit beigemessen wird – so beispielsweise bei sozialdarwinistischen Konzeptionen z.B. der Soziobiologen, aber ebenso gut ließe sich an absolut deterministische, beispielsweise strukturalistische Gesellschaftsanalysen denken. Ein aktuelles Beispiel eines solchen verdinglichenden Notwendigkeitsweltbildes lieferte der ehemalige rechtskonservative französische Präsident Sarkozy, als er im Wahlkampf mit der These der angeborenen Pädophilie auf Stimmenfang im Trüben ging, oder damit, dass man Kleinkinder einem Test zur Feststellung ihrer kriminellen Veranlagung unterziehen solle (vgl. Fassin 2007).
[2] Diese von Lukács verwendeten Begriffe sind in Anlehnung an die 6. Feuerbachthese von Marx zu verstehen, wonach das menschliche Wesen kein dem einzelnen innewohnendes Abstraktum, sondern das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse ist (vgl. Marx 1845-1846. 6); sowie an die Unterscheidung der Klasse an sich, also die sozial-ökonomische Herausbildung der Klasse selbst durch die gesellschaftliche Entwicklung und Produktivkraftentwicklung, und der Klasse für sich (vgl. Marx 1846-1848. 180f.) als bewusste politische Formierung zur gesellschaftsverändernden Kraft.
[3] Die dauernde Ausstrahlung großer Persönlichkeiten ebenso wie großer Kunst und Philosophie erklärt sich für Lukács aus ihrem Beitrag zur Höherentwicklung der menschlichen Gattungsmäßigkeit, welche sich ins Gedächtnis der Menschengattung eingeschrieben habe (vgl. Lukács 1984. 73f.).
[4] So wertete beispielsweise das Philosophie-Wörterbuch der DDR die christliche Aufforderung „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ausschließlich als den Versuch, den Widerstand der Ausgebeuteten gegen Betrug, Gewalt und Unrecht in einem allgemeinen Menschheitsgedusel zu ersticken (vgl. Buhr et al. 1975. 1052).
[5] Lukács kritisiert beispielsweise auch die banalisierende Äußerung Kierkegaards, der Staat könne jede beliebige Religion siegreich einführen: Ein wenig Geld und Propaganda würden genügen und nach einigen Generationen sei an Stelle des offiziellen (verlogenen) Christentums ebenso gut der Glauben an den „Mond aus grünem Käse“ durchgesetzt. Dem hält Lukács entgegen, dass kein allgemein gewordenes Verhalten – ob weltlich oder religiös – dauerhaft verbindlich bleiben könne, ohne (auf der Grundlage welch fragwürdiger Begründungen auch immer) ein gesellschaftliches Bedürfnis zu befriedigen (vgl. Lukács 1986. 568f.).
[6] Lukács’ umfangreiche Ausführungen zur Entwicklungsgeschichte der Religion, zur sich wandelnden Rolle der Religion im Verhältnis zur sich entwickelnden menschlichen Gattungsmäßigkeit und zur begrifflichen Unterscheidung von Kirche, Sekte und Ketzerbewegung etc. können hier nur angedeutet werden (vgl. Lukács 1986. 555ff. u. Lukács 1963b. 775ff.; zur Unterscheidung von Glauben im Alltag, in Magie und Religion vgl. Lukács 1963a. 118ff.).
[7] Mögliche negative Auswirkungen aufgrund der grundsätzlichen Unmöglichkeit, die Folgen des menschlichen Handelns vollständig zu antizipieren, stellen ein verbreitetes Motiv philosophischen Denkens dar. So behandelt sie beispielsweis Sartre unter dem Term der „contrefinalités“ (vgl. Sartre 1960. 233f., zitiert nach Tertulian 2005a. 69) und in der Ethik des französischen Philosophen Morin spielen sie als „Unsicherheitsprinzip“ (principe d’incertitude) in seiner „Handlungsökologie“ (écologie de l’action) eine zentrale Rolle (vgl. Morin 2006. 40ff.). Auch in den Kognitionswissenschaften spielt das Konzept eine wesentliche Rolle (vgl. beispielsweise Dörner 2002).
[8] In der Lukács-Rezeption wird generell die prinzipielle Inkongruenz von zwecksetzenden individuellen Entscheidungen und dem totalisierenden gesellschaftlichen Endergebnis als eine Grundlage der Entfremdung erkannt. Allerdings steckt hier der Teufel im Detail: Während Tertulian vorsichtig formuliert, dass sich daher „die Totalisierung selbst gegen die ursprünglich verfolgten Projekte richten“ könne (vgl. Tertulian 2006. 36, dt. Tertulian 2008), spitzt Dannemann diesen Gedanken (vielleicht allzu) deutlich zu, wenn er in der „Unaufhebbarkeit der Dialektik von Teleologie und Kausalität“ eine „gleichsam unversiegbare Quelle von Entfremdung“ sieht. Er ergänzt, dass die „resultierenden Regelmäßigkeiten und Kausalitäten [...] immer ein Moment des Sichverselbständigens“ beinhalten (vgl. Dannemann 1997. 92). Dannemanns stark vom Verdinglichungsdiskurs aus Geschichte und Klassenbewußtsein geprägte modernitätskritische Lukács-Lektüre sieht in dessen Ontologie die „Allgegenwart von Entfremdung und Verdinglichung“ nachgewiesen (vgl. Dannemann 1997. 91). Droht hier nicht, so bleibt zu fragen, ein Abgleiten in eine Mythen-Bildung, in welcher – in Lukács’ eigenen Worten (Lukács 1986. 636f.) – „als düster pessimistische ‚condition humaine‛ die Entfremdung als unüberwindlicher Naturzustand des Menschen dargestellt wird“? Wo als Kennzeichen der modernen Gesellschaft die (entfremdenden) Verdinglichungen als Teil einer ubiquitären Systemlogik verortet werden, welcher das moderne Individuum unentrinnbar ausgesetzt ist, dort bewegt man sich näher an der, dem menschlichen Dasein konsubstantiellen, Entfremdung eines Heiddeggerschen Existentialismus als an der Lukácsschen Freilegung der allgemeinen Ursache möglicher neuer Entfremdungen (selbst jenseits ihrer spezifischen Ausprägung durch antagonistische Klassenwidersprüche), welche eine wichtige Bedingung ihrer möglichen, effektiven Überwindung darstellt.
[9] Lukács kommentiert Blochs Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins (1961) folgendermaßen: „Es ist ein dekorativ faszinierender italienischer Salat von Subjektivismus, der sich objektiv gibt und von einer sehr spärlichen und abstrakten Objektivität. Es war mir nur angenehm zu sehen, daß Bloch seine linke Ethik doch nicht aufgegeben hat.“ (Lukács am 9.3.1961, zitiert nach Benseler 1986. 733) Hier lässt sich sowohl die politische Nähe erkennen als auch die philosophische Distanz der ehemaligen Jugendfreunde: Während Bloch seine eschatologische Philosophie aus der Möglichkeit als ontologischer Zentralkategorie ableitet, bildet diese in Lukács’ Ontologie nur eine der Zentralkategorie Wirklichkeit untergeordnete Modalkategorie (vgl. Lukács 1984. 161ff. u. 456ff.).
[10] Schon eher ergeben sich bei Lukács dahingehend Parallelen der grundsätzlichen Ausrichtung mit der Philosophie von Edgar Morin. Dieser betont zwar einerseits die steigende Gefahr der erstmals real möglichen – und nur durch bewusstes Gegensteuern zu verhindernden – Selbstvernichtung der Menschheit aufgrund globaler Zerstörungspotentiale: Insbesondere nennt er die ökologische Krise, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und die Vervielfältigung militärischer Konflikte, sowie das Fehlen einer regulierten Ökonomie. Dem stellt er jedoch anderseits gerade angesichts dieser Gefahr die, aufgrund des realen Zusammenwachsens der menschlichen Schicksalsgemeinschaft, ebenfalls wachsende Möglichkeit einer notwendigen, bewussten menschlichen „Metamorphose“ entgegen (vgl. Morin 2007). Abgesehen davon bestehen erhebliche Unterschiede in der Gesellschaftsanalyse und den Schlussfolgerungen zwischen den beiden Philosophen.
[11] Eine maßgebliche Schwäche der Abhandlung von Heuer ergibt sich aus der mangelnden Unterscheidung des auf jenseitige Transzendenz ausgerichteten (religiösen) Glaubens von dem auf diesseitige Tatbestände (des Alltagslebens) ausgerichteten Glauben, welche dagegen Lukács in Anlehnung an Kant vornimmt (vgl. Lukács 1963a. 115ff.). Der Alltagsglauben werde bei Kant als „Meinen“ aufgeführt. Er sei durch eine prinzipielle Offenheit zum Erkennen gekennzeichnet und könne somit als (verzerrte, noch unvollkommene) Vorform des Wissens charakterisiert werden (vgl. Lukács 1963a. 126). Der religiöse Glauben an eine Transzendenz, deren Merkmal gerade die prinzipielle Unerkennbarkeit sei (vgl. Lukács 1963a. 118), stehe dagegen in striktem Gegensatz zum Wissen, da es von ihm entweder aus sachlichen Gründen unmöglich wäre (Kant), zum Wissen aufzusteigen oder – hier geht Lukács über Kant hinaus – dieser Aufstieg subjektiv nicht gewollt sei. Der religiöse Glaube beanspruche, das Wissen und Erkennen – und damit letztlich auch die Vernunft – zu dominieren, da er sich als höhere Form der Bewältigung der (wesentlichen) Wirklichkeit präsentiere. Insofern sei auch das Dogma in der Religion ein Ausdruck ihrer Lebendigkeit, während es in der Philosophie und Wissenschaft eine Entartung darstelle (vgl. Lukács 1963a. 122ff.).
[12] Ähnlich bemüht um den Glauben, den es als überlebensnotwendige Ressource aus seiner religiösen Formung herauszulösen gelte, zeigt sich Jan Rehmann im Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus (vgl. Rehmann 2001). Der atheistische Anspruch, die Religion durch eine wissenschaftliche Weltanschauung zu ersetzen, habe sich als rationalistische Illusion erwiesen. Einer Ideologieanalyse in der Linie Gramsci, Althusser, Mariátegui verpflichtet, analysiert er die Religion(en) als Kampfplatz widerstreitender Bestrebungen. Es gelte, die subversiv-kritischen Elemente aus den Religionen für ein plurales Gegensubjekt zu gewinnen (vgl. auch Rehmann 2002). Ebenfalls das Verbindende zum Rebellionspotential in religiösen Strömungen, wie aktuell bei der Befreiungstheologie in Lateinamerika, betont der französisch-brasilianische, marxistische Religionssoziologe Micheal Löwy (vgl. Löwy 1998, s. auch Löwy 2006). Die marxistische Kritik des Warenfetischs finde ihre Entsprechung im Kampf der Theologie der Befreiung gegen die tödliche Idolatrie des Marktes, wobei beiden gemeinsam das moralische Ethos gegen die Verdinglichung, die prophetische Revolte und vor allem die Solidarität der Armen und Unterdrückten gegen die Entfremdung sei. Da sich Löwy in die Tradition eines revolutionären Romantizismus des jungen Lukács oder Blochs Überführung der utopischen Hoffnungsschätze der Religionen in einen atheistischen Messianismus stellt, ist es nicht verwunderlich, dass er zusammen mit dem ehemaligen jung-dynamischen Präsidentschaftskandidaten der französischen Trotzkisten (LCR) Olivier Besancenot nach Inspiration für die aktuelle „revolutionäre Praxis“ beim lateinamerikanischen Guevarismus Ausschau hielt (vgl. Besancenot, Löwy 2007). Lukács analysiert in seiner Ontologie vielfältig das auf echte „Gattungsmäßigkeit für sich“ gerichtete Rebellionspotential in den Religionen, insbesondere in Sekten und Ketzerbewegungen – wenn er auch deren religiöses Erneuerungspotential skeptisch beurteilt (vgl. Lukács 1986. 655), insbesondere da die Kirchen diesen Erneuerungsbewegungen gegenüber immer wieder eine hohe, den Status Quo bewahrende, Integrationsfähigkeit bewiesen haben (vgl. Lukács 1986. 623). Ebenso brachte er menschlich in hohem Maße anerkennenswerten religiösen Persönlichkeiten großen Respekt entgegen (von Meister Eckehart bis zu Dietrich Bonhoeffer und Simone Weil) und zögerte nicht – gegen Widerstände im kommunistischen Lager – für eine Zusammenarbeit mit fortschrittlichen Theologen (Barth, Niemöller, französische Arbeiterpriester u.a.m.) insbesondere im Friedenskampf zu plädieren (vgl. beispielsweise Lukács 1956). Wenn demnach Lukács sicherlich auch für politische Bündnisse mit progressiven religiösen Bewegungen wie der Theologie der Befreiung eingetreten wäre, so kann doch kein Zweifel bestehen, dass schon sein Interesse an der Ontologie ihn für eine klare weltanschauliche Trennung hätte plädieren lassen (vgl. auch Lukács 1987. 26 u. 41). Dieser zufolge ist der religiöse Glauben als eine Entfremdungsform zu betrachten, d.h. als ein im Grundsatz – praktisch wie ideologisch – zu überwindendes Hindernis auf dem Weg der auf Wirklichkeitserkenntnis aufbauenden Emanzipation der Menschheit.
[13] Nachdem die 1916-18 verfasste Heidelberger Ästhetik (Lukács 1975) noch neukantianisch geprägt war (vgl. Dannemann 1997. 14) und 1916 Die Theorie des Romans (Lukács 1971) „noch im Zustand einer generellen Verzweiflung“ angesichts des 1. Weltkriegs entstand sowie „die Gegenwart in ihr Fichtisch als Zustand der vollendeten Sündhaftigkeit erschien“ (vgl. Lukács 1968b. 17), brachte der 1919 veröffentlichte Aufsatz Taktik und Ethik (Lukács 1968a. 43ff.) seinen persönlichen Übergang von der kriegsgeprägten Hoffnungslosigkeit zum idealistisch-messianischen Enthusiasmus angesichts der russischen Revolution zum Ausdruck. Allerdings ist auch diese Übergangsphase in seinen „Lehrjahren des Marxismus“ nur von kurzer Dauer, da er u.a. schon in der Rezension Die neue Ausgabe von Lassalles Briefen von 1925 (Lukács 1968a. 612ff.) seine Gesellschaftskritik auf eine „konkretere ökonomische Basis“ zurückführt und von der aus er den Fichtischen subjektiven Idealismus bei Lassalle kritisiert. Lukács hebt hierin nach eigener Einschätzung (vgl. Lukács 1968b. 36f.) hervor, dass der philosophische Fichte-Bezug bei Lassalle in einer „rein idealistischen Gesamtschau der Welt verankert“ sei, welche sich in eingebildeter Radikalität gegen die Diesseitigkeit sträube. Diese Besprechung sei zugleich eine theoretische Polemik gegen verbürgerlichende und somit gegen Marx gerichtete Strömungen in der damaligen Sozialdemokratie. Schon 1925 kritisierte Lukács also einen subjektivistisch-idealistischen Voluntarismus, welchen er in der Ontologie klar als neukantianisch-ethisch ausgerichtetes Pendant (etwa in der Marburger Schule) zu einer von (absoluter) Notwendigkeit beherrschten äußeren Wirklichkeit analysiert, wie sie beispielsweise im Notwendigkeitsfetisch des „ehernen Lohngesetztes“ zum Ausdruck komme (vgl. Lukács 1984. 148ff.).
[14] Der Darstellung und philosophiegeschichtlichen Herleitung dieses Konfliktes in der Gegenwartsphilosophie ist ein großer Teil des ersten Bandes der Ontologie gewidmet, welcher hier natürlich nur in seinen Grundzügen und vornehmlich bezogen auf die Konsequenzen für das religiöse Bedürfnis (vgl. Lukács 1984. 398ff.) angedeutet werden kann. Traditionell spielte die Erkenntnistheorie lediglich eine untergeordnete und ergänzende Rolle zur Ontologie, welche die Erkenntnis der an sich seienden Wirklichkeit zum Ziel und daher die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand zum Wahrheitskriterium hatte (vgl. Lukács 1984. 355f.). Der mit Kant sich vollziehenden Verselbstständigung der Erkenntnistheorie wird auch in der aktuellen Wissenschaftstheorie unter dem Begriff „epistemic bias“ bzw. „epistemic fallacy“ eine paradigmatische Bedeutung im wissenschaftlichen Realismus zugeschrieben, wobei Bhaskar die erkenntnistheoretische Verzerrung sogar bis auf den Vorsokratiker Parmenides zurückführt (vgl. Bhaskar 1997. 36 u. 44f.).
[15] Daher ist Heuer durchaus zuzustimmen, wenn er feststellt: „Marxist zu sein, ist nicht nur die Wahl einer Theorie, sondern zugleich die Wahl einer Haltung. Insofern wendet sich der Marxismus an den einzelnen.“ (Heuer 2006. 306) Die Besetzung des Feldes der ethischen Sinngebung nimmt an Dringlichkeit sogar zu gegenüber der Zeit, in der Lukács die Religion und insbesondere die katholische Kirche während des zweiten vatikanischen Konzils noch in die Defensive gedrängt sah und in der die ideologischen Kämpfe des 17. u. 18. Jahrhunderts darüber, ob ein sittliches Leben mit Religionslosigkeit oder gar Atheismus vereinbar sei, der Vergangenheit anzugehören schienen (vgl. Lukács 1986. 614). Vor dem Hintergrund des (vorläufigen) Triumphs über den (marxistischen) Materialismus ist ein typischer, wie Lukács sagen würde (vgl. Lukács 1963b. 710), Bedeutungsgewinn der Religiosität als Reaktion auf die Zuspitzung der krisenhaften Weltlage zu konstatieren. Papst Benedikt XVI. sieht seine Mission darin, ideologischen Terrainverlust durch eine konservative Offensive wettzumachen, welche mit dem universalen Wahrheitsanspruch des Glaubens letztlich die Unterordnung der Vernunft unter den Glauben fordert (vgl. Holz 2007, s. auch: Hoping, Tück 2005). Das Argument des Papstes lautet dabei, dass sich ohne religiöse Grundlegung kein moralisches Handeln rechtfertigen lasse (vgl. Papst Benedikt XVI. 12.09.2006 u. 2007), da eine Transzendenz-verwaiste Vernunft „verrückt“ würde und nach Auschwitz und in den Gulag führe (vgl. Tincq 2007, s. auch: Wenzel, Flasch 2007). Der Kampf um die ideologische Vorherrschaft kommt derzeit insbesondere in der bedenklichen weltweiten Ausbreitung des Neokreationismus zum Ausdruck, insbesondere in Form des „intelligent-design“-Konzepts, sodass auch der Europäische Rat vor seinem Eindringen in Wissenschaft und Bildungswesen warnt (vgl. Le Bars 2007). Selbst in Frankreich mit einer sehr ausgeprägten Tradition der Trennung von Kirche und Staat, amerikanisiert Staatspräsident Sarkozy seinerzeit das Verständnis des Laizismus, indem er die traditionelle Zielrichtung der Befreiung des öffentlichen Raums von jeglicher religiöser Bevormundung durch eine öffentliche Förderung der Religionsausübung ersetzte (vgl. Vernet 2007) – und dies ganz im Sinne des Papstes damit begründete, dass ohne religiöse Fundierung keine Moral zu machen sei (vgl. Quiniou 2007). Gegen dieses staatlich geförderte Vordringen des Irrationalismus ist der Bezug auf eine erneuerte marxistische Philosophie und Ethik dringend geboten.
[16] Lukács verweist jedoch darauf, dass unter Stalin der Marxismus – parallel zum bürgerlichen Neopositivismus mit seiner philosophischen Rechtfertigung allseitiger Manipulation – ebenfalls „wieder zu einer unorganischen Mischung von mechanischer Notwendigkeit und Voluntarismus (grobe Manipulation) entstellt“ worden sei (vgl. Lukács 1986. 548). Die ontologische Erneuerung des Marxismus müsse sich daher sowohl gegen neukantianisch-neopositivistische Einflüsse der Verdrängung der Dialektik im Westen als auch gegen die taktische Kanonisierung zur Rechtfertigung einer voluntaristischen Manipulation im Osten durchsetzen (vgl. Lukács 1984. 111f.).