Der zeitgenössische Marxismus sieht sich bei der Analyse der aktuellen weltpolitischen Entwicklungen grundlegenden Fragen gegenüber, die das Verhältnis von Ökonomie und Politik betreffen: Kapitalismusanalysen beschäftigen sich traditionell mit ‚rein‘ ökonomischen Prozessen – gilt doch die begriffliche Trennung von Ökonomie und Politik als konstitutives Merkmal der kapitalistischen Produktionsweise.[1] Dagegen werden Machtverschiebungen im kapitalistischen Weltsystem und deren Analyse üblicherweise der Sphäre der Politik zugewiesen. Dies gilt sowohl für Ansätze in der Tradition der „International Relations“ (IR) als auch für jene, die Wallersteins Weltsystemanalyse folgen. „Geschichte als Auf- und Abstieg der großen Mächte zu begreifen, hat in den Geschichts- und Politikwissenschaften eine lange Tradition,“ schreibt Andrea Komlosy (Komlosy, 43). Hegemonie sei „nicht primär in der politischen Stärke eines Staates grundgelegt, sondern in der Fähigkeit, transnationale Flüsse von Waren, Kapital und Arbeitskräften so zu beherrschen, dass die aus ungleichem Tausch und aus globalen Güterketten gewonnene Wertschöpfung vorrangig im eigenen politischen Herrschaftsbereich realisiert wird“. (ebd., 43f) Dies gilt aber für alle Zeiten und Gesellschaftsformationen. Dass die „Stärke eines Staates“ mit den von diesem kontrollierten Ressourcen zusammenhängt ist eine Binsenweisheit. Einen Zusammenhang zwischen Produktionsweise und Außenpolitik kann diese Fassung der Weltsystemtheorie nicht begründen.
Der Weltmarkt als Verflechtung von Ökonomie und Politik
Die dem Marxismus verpflichtete Kapitalismusanalyse muss sich bewusst sein, dass die Einbeziehung des Weltmarkts die klassische Trennung von Ökonomie und Politik auch begrifflich aufhebt. Marx und Engels zeigten im Kommunistischen Manifest, wie die Bourgeoisie an die Stelle „der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit … (den) allseitigen Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander“ setzt. Auf dem Weltmarkt agieren Nationalkapitale und Nationalstaaten, ökonomische und politische Interessen und Zwänge verbinden sich. „Unabhängige, fast nur verbündete Provinzen mit verschiedenen Interessen, Gesetzen, Regierungen und Zöllen wurden zusammengedrängt in eine Nation, eine Regierung, ein Gesetz, ein nationales Klasseninteresse, eine Douanenlinie.“ (MEW 4, 467) Der kapitalistische Nationalstaat wird auf dem Weltmarkt zum ökonomischen Akteur. In einer Kritik des Buches von Friedrich List schrieb Marx: „Der Bourgeois hat, so sehr der einzelne Bourgeois gegen die anderen kämpft, als Klasse ein gemeinschaftliches Interesse, und diese Gemeinschaftlichkeit, wie sie nach innen hin gegen das Proletariat gekehrt ist, ist nach außen hin gegen die Bourgeois anderer Nationen gekehrt. Das nennt der Bourgeois seine Nationalität.“[2] Wenn „die moderne Staatsgewalt … ein Ausschuß (ist), der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisie verwaltet“ (MEW 4, 464), so gilt dies auch im Verhältnis zu anderen Nationen. Unter der Herrschaft des Kapitals als „sich selbst verwertendem Wert“, zunächst als Nationalkapital konstituiert, verbindet sich dessen schrankenloser Expansionstrieb auf dem Weltmarkt mit dem Nationalstaat, der dadurch ebenfalls notwendig die expansionistischen Bestrebungen des Kapitals unterstützen muss.
Vereinfachend kann man bezüglich des Zusammenhangs zwischen Ökonomie und Politik auf dem kapitalistischen Weltmarkt drei Perioden unterscheiden, die durch jeweils unterschiedliche Kapitalstrukturen geprägt sind:
- In der Periode des Konkurrenzkapitalismus, in der die Einzelkapitale ihre Verwertungsbedingungen nicht kontrollieren, vertritt der Nationalstaat die „gemeinschaftlichen“ Interessen der Bourgeoisie nach außen.
- In der Periode des ‚nationalen‘ Monopolkapitalismus wird der Staat zum Agenten der Weltmarktinteressen der jeweils dominierenden Einzelkapitale, er wird imperialistisch.
- In der Periode des transnationalen und finanzialisierten Kapitalismus prägt die von transnationalen Konzernen angetriebene Konkurrenz der Standorte die äußere Politik der Nationalstaaten.
In den beiden ersten Perioden besitzen die gesamte bzw. die Monopolbourgeoisie eine „Nationalität“. Komplizierter sind die Verhältnisse bei Dominanz transnationaler Konzerne, also in der dritten Periode. Deren Kapitalbasis ist – u.a. im Kontext der Finanzialisierung – nicht mehr unmittelbar mit einer bestimmten Nation verbunden. Obwohl auch Konzerne mit überwiegend internationalen Aktivitäten und transnationaler Kapitalbasis in der Regel über personelle und sozialkulturelle Faktoren mit einem bestimmten Nationalstaat verknüpft bleiben[3], werden deren Verwertungsbedingungen nicht mehr notwendig von dessen Politik bestimmt. Der transnationale Konzern kann bis zu einem gewissen Grade jenen ‚Nationalstaat‘ wählen, in dem seine Interessen am besten berücksichtigt werden. Staatsnahe Unternehmen bzw. Unternehmen mit ‚strategischen‘ Funktionen spielen hierbei sicher eine Ausnahmerolle. Das gilt u. a. für die Besteuerung – der nationale Steuerstaat sieht sich mit der Transnationalisierung des Kapitalismus ganz neuen Problemen gegenüber: Transnationale Kapitale gewinnen gegenüber den Nationalstaaten vermehrtes Gewicht. Die politische Handlungsfähigkeit eines Staates und seine Finanzkraft werden nach innen wie nach außen von seiner Fähigkeit bestimmt, die Konkurrenzfähigkeit der nationalen Standorte zu erhalten, d.h. deren Attraktivität für das international fungible Kapital zu verteidigen und zu steigern.[4]
Damit werden die Beziehungen zwischen den Nationalstaaten auch in der Periode des globalisierten und finanzialisierten Kapitalismus „in letzter Instanz“[5] von den Verwertungszwängen des Kapitals bestimmt, allerdings nicht mehr notwendig von denen bestimmter ‚nationaler‘ Einzelkapitale. Diese sind per Definition ‚grenzenlos‘. Auch wenn in den IR die Akteure auf der Oberfläche Nationalstaaten sind, ist ein Verständnis geopolitischer Entwicklungen ohne eine Analyse der jeweiligen ökonomischen Verhältnisse unmöglich.
Bipolarität, Unipolarität, Multipolarität
In der Theorie der IR[6] wird die Weltordnung durch die Beziehungen zwischen Nationalstaaten, durch deren Außenpolitik, bestimmt. Es wird gezeigt, „wer für Ordnung sorgt in der Anarchie der Staatenwelt, in der es keine übergeordnete Instanz, keinen Weltstaat gibt … Die Ordnung in der Anarchie der Staatenwelt resultiert aus der Hierarchie der Staatenwelt.“ (Menzel 2015, 17) Damit bleibt die Analyse auf der Erscheinungsebene, die inneren Triebkräfte der Außenpolitik, also ökonomische Interessen ebenso wie innenpolitische Konflikte, die jeweils historisch, formationsabhängig und kulturell bestimmt sind, bleiben außer Betracht. Geopolitische Verschiebungen erscheinen als quasi zeitlose Vorgänge: Immerhin räumt Menzel ein, dass man von Weltordnungen erst sprechen kann, „seitdem von der Herausbildung einer Weltgesellschaft und nicht nur von losen Kontakten gesprochen werden kann.“ Dies seien regelmäßige Handelskontakte: „Die Herausbildung von Weltgesellschaft, ob kommerziell, kulturell, wissenschaftlich oder militärisch bedingt, fällt deshalb zusammen mit dem Beginn von Globalisierung.“ (Ebd., 66) Anders Alexander Neu: „Die bloße Betrachtung staatlicher Akteure oder internationaler Strukturen greift zu kurz, da sie die wesentlichen Motive für außenpolitische Entscheidungen ausblendet.“ (Neu, 239). Die der Theorie der IR verpflichteten geopolitischen Analysen bleiben deskriptiv, wie es der derzeit die Debatten bestimmende Begriff der ‚Polarität‘ deutlich macht. Wenn z.B. Bundeskanzler Scholz Multipolarität als eine Welt beschreibt, in der es „viele mächtige Nationen“ gibt (Z 133, 12), dann ist das eher nichtssagend. Entscheidend ist in einer durch den Weltmarkt ökonomisch und politisch verflochtenen Welt nicht nur Zahl und Stärke der Akteure, sondern auch die Frage, wodurch bzw. von wem die Regeln bestimmt werden, die den Verkehr zwischen diesen bestimmen. Die Frage der ‚Polarität‘ muss daher den Aspekt der Regelsetzung einschließen. Wenn die Präsidentin der EU-Kommission den Krieg in der Ukraine als „Krieg um die regelbasierte internationale Ordnung“ bezeichnet, die enge Partnerschaft zwischen EU und USA beschwört, und fortfährt: „Viele, viele beobachten weltweit genau das Ergebnis des Konflikts“, dann macht sie deutlich, dass es um die Regelsetzungsmacht des globalen Westens geht.[7] Solange es global gültige, mehr oder weniger (freiwillig oder nicht) akzeptierte Normen und Regeln gibt, ist entscheidend, wer diese Regeln setzt. Auf dem Feld der Ökonomie und der internationalen Konkurrenz setzt dies voraus, dass es überhaupt einen Weltmarkt mit einheitlichen Regeln gibt. Bezogen auf den Zeitraum nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs werden diesbezüglich drei Perioden unterschieden: Bipolarität (1945-1990), Unipolarität (1991-2008) und Multipolarität (2009 ff.). Ob diese ‚Ordnungen‘ jeweils „regelbasiert“ waren bzw. sind, bleibt zu untersuchen.
Bipolarität
Die ‚bipolare Weltordnung‘ zwischen 1945 und 1990 war durch den Gegensatz zwischen zwei kaum miteinander verbundenen Wirtschaftssystemen geprägt. Einen einheitlichen Weltmarkt gab es nicht. Auch wenn wirtschaftliche Beziehungen zwischen dem kapitalistischen Weltsystem einerseits und dem sozialistischen Wirtschaftsraum andererseits existierten und diese Systeme sich gegenseitig beeinflussten, so galten doch innerhalb der Wirtschaftsräume jeweils unterschiedliche Regeln. Im sozialistischen Lager wurde die internationale Arbeitsteilung durch den „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ organisiert, dem anfangs nur europäische sozialistische Länder angehörten. Später kamen (mit unterschiedlichem Status) auch Länder der ‚Dritten Welt‘ hinzu. China hatte bis 1961 Beobachterstatuts. Im ‚Rest der Welt‘, wozu sowohl kapitalistische Staaten als auch Kolonien bzw. ‚Entwicklungsländer‘ zählten, galten die 1944 in Bretton Woods beschlossenen US-zentrierten Regeln. An den Verhandlungen war zwar auch die UdSSR beteiligt, sie hat die Verträge aber nicht ratifiziert. Die Initiative der Blockfreienbewegung, die die globalen Regeln auf einigen Gebieten, vor allem den Rohstoffmärkten, mit der Forderung nach einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ (NWWO) gerechter gestalten wollte, blieb Episode: Die entsprechenden Beschlüsse der UN-Generalsammlung von 1974 und 1979 wurden nicht umgesetzt. Die NWWO verschwand von der Tagesordnung, definitiv mit der Schuldenkrise der 1980er Jahre.[8]
Der heute im Westen beschworene „zweite kalte Krieg“ (Kissinger) als Kampf zwischen Demokratie und Autokratie, eine Formel, die seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine mediales geopolitisches Kleingeld geworden ist, hat nichts mit der oben dargestellten bipolaren Weltordnung zu tun. Die in diesem Kontext skizzierten Hauptakteure – USA/Japan/EU einerseits und China/Russland andererseits – sind über den Weltmarkt eng miteinander verflochten. Entsprechende globale Blockbildungen zeichnen sich nicht ab.[9]
Unipolarität
Die Öffnung Chinas gegenüber dem kapitalistischen Westen nach 1978 und der Zusammenbruch des sozialistischen Wirtschaftsraumes 1989/91 stellten den einheitlichen kapitalistischen Weltmarkt wieder her. Es ist kein Zufall, dass der hohe wirtschaftliche Internationalisierungsgrad von 1914 erst nach 1980 wieder übertroffen wurde. Auf diesem Weltmarkt bestimmten die USA, deren Konzept in Bretton Woods (gegen von Keynes skizzierte supranationale Lösungen) obsiegt hatte, die Regeln. Es kam zum „unipolaren Moment“, wie ein berühmter Aufsatz der US-Zeitschrift „Foreign Affairs“ überschrieben war. Der Autor, Charles Krauthammer, behauptete: „Die Welt nach dem kalten Krieg ist nicht multipolar, sie ist unipolar. Im Zentrum der Welt steht unbestritten eine Supermacht, die USA, zusammen mit den westlichen Verbündeten.“ Aber: „Multipolarität wird sich zweifelsohne einstellen.“[10] Krauthammer glaubte, Deutschland und Japan würden als regionale „superpowers“, jeweils verbündet mit Russland bzw. China, den unipolaren Moment beenden. Die Übermacht der USA würde beschränkt werden, allerdings im Rahmen der liberalen Regeln. Den „Aufstieg des Südens“ mit eigenständig agierenden Ländern sah kaum jemand voraus, Länder wie China und Russland würden sich bald in die „liberale Weltordnung“ einbinden lassen (Bunde, 4).
Nach ‚9/11-2001‘ riefen die USA mit dem ‚Krieg gegen den Terror‘ und weltweiten militärischen Interventionen ein „neues amerikanisches Jahrhundert“[11] aus, das allerdings kurz blieb: Es dauerte bis zum September 2008, als die USA die Welt in eine tiefe Wirtschaftskrise stürzten, die zudem im globalen Süden besser gemanagt wurde als im regelsetzenden Westen.
Multipolarität oder der ‚wohlwollende Hegemon‘
Vielen Beobachtern gilt die Finanzmarktkrise von 2008 als „Wendepunkt im internationalen System“ (Marchetti, 85). Desai zufolge wurde die „multipolare Weltordnung … erstmals nach der Finanzkrise von 2008 und der großen Rezession ausgerufen …“ (7). Als Gründe gelten die Schwächung der USA, das Versagen der ‚freien‘ Märkte und der Aufstieg Chinas. Dem wird hier nicht gefolgt. Wenn man Multipolarität als geopolitische Situation fasst, in der es nicht bloß mehrere starke nationale Ökonomien gibt, sondern in der die globalen Regeln ausgehandelt werden, dann trifft das bis heute nicht zu. Immer noch bestimmen die USA das internationale Regelwerk und beanspruchen die ‚global leadership‘. Im UN-Sicherheitsrat bilden drei der fünf ständigen Mitglieder den westlichen Block. Obwohl die Mehrheit der UN-Mitglieder Reformen wünscht, zeichnet sich keinerlei Fortschritt ab.[12] In supranationalen Organisationen wie Internationaler Währungsfonds (IWF), Weltbank und Welthandelsorganisation (WTO) dominieren weiter die USA und ihre „Western Allies“. Bis heute bestimmt der ‚Westen‘ die Präsidentschaft von IWF (Europa) und Weltbank (USA). Die WTO leistet sich zwar seit Anfang der 2000er Jahre Generaldirektor:innen aus dem globalen Süden. Die USA blockieren aber seit 2016 (Obama) die Neuernennung von Streitschlichtern, so dass die Organisation, die die Einhaltung von globalen Handelsregeln sichern soll, heute als handlungsunfähig gilt. Der UN-Bericht über die menschliche Entwicklung von 2013 mit dem programmatischen Titel „Der Aufstieg des Südens“ kritisierte die anhaltende Dominanz des Westens: „Viele der Institutionen und Grundsätze, die derzeit die internationale Governance prägen, wurden für eine Welt konzipiert, die ganz anders war als die heutige.“ (9) Allerdings ist festzuhalten, dass es einige der aufstrebenden Mächte des Südens, vor allem China, teilweise auch Indien, verstanden haben, die bestehenden Regeln zu nutzen. Die meisten Länder des Südens blieben dagegen Opfer der ‚liberalen Ordnung‘. Immerhin erweiterte der Aufstieg von Schwellenländern ihren Handlungsspielraum. Auch der Zusammenschluss der BRIC-Staaten, 2010 erweitert durch Südafrika, (das erste Gipfeltreffen fand im Juni 2009 in Russland statt) und der Bedeutungsgewinn der G 20[13] als weltwirtschaftliches Koordinierungsorgan änderte das globale Regelwerk nicht. BRICS und neue internationale Organisationen wie die Neue Entwicklungsbank und das Contingent Reserve Arrangement (CRA) gelten bislang immer noch als Ergänzung, nicht als Alternative oder gar als „Parallelsystem zu den Institutionen der liberalen Ordnung“ (Bunde, 5). Bis in die Gegenwart wurden die von den USA bestimmten globalen Regeln mehr oder weniger ‚freiwillig‘ akzeptiert, entweder weil die benachteiligten Akteure – viele Länder des globalen Südens – zu schwach waren oder weil sie, wie China und Indien, ihren Aufstieg nicht behinderten. In diesem Sinne konnte man bis vor kurzem die USA als „wohlwollenden Hegemon“ (Aglietta, 20, 68) bezeichnen.
Die Zerstörung der regelbasierten Ordnung
In den 2010er Jahren aber begannen die USA selbst die ‚regelbasierte Ordnung‘ zu untergraben, indem sie den Dollar und die internationalen Finanz- und Handelsbeziehungen zunehmend als Waffe in den sich entwickelnden hegemonialen Auseinandersetzungen einsetzten. Wirklich ernst wurde es, als China 2015 den Wirtschaftsplan „Made in China 2025“ vorlegte, der das Land auf zehn Gebieten zum globalen Technologieführer machen sollte. Der US-Council on Foreign Relations qualifizierte das Programm als „Bedrohung der US-technologischen Führerschaft“.[14] Das ist umso bedrohlicher, als der ‚technologische Führer‘ nicht bloß Marktanteile erobern und den Rahm der Wertschöpfungsketten abschöpft, sondern gleichzeitig auch die technologischen Standards setzt. In der Folge machte das Schlagwort vom „technological decoupling“ Karriere (IMF 2021). Die sich verschärfenden US-geführten Sanktionen sollen nicht bloß US-amerikanische Märkte schützen, sondern vor allem „die technologische und wirtschaftliche Entwicklung Chinas … behindern.“ Die Formel von China als „systemischen Rivalen“ meint genau das – einen Rivalen muss man ausschalten. Im Ergebnis wird es zur progressiven Desintegration von Wertschöpfungsketten kommen, also zur Deglobalisierung. „Denn die Wahl unterschiedlicher technologischer Standards bei der Digitalisierung und dem damit verbundenen Internet würde zur Entstehung von Systemen führen, die untereinander nicht mehr kompatibel sind.“ (Aglietta 73/74)
Eine dramatische Zuspitzung erfuhr die Tendenz zur „geoeconomic fragmentation“ (IMF 2023) mit den westlichen Sanktionen gegen Russland, die nach dem Überfall auf die Ukraine völlig neue Dimensionen annahmen. Ohne dass hier über Ziele und Wirksamkeit diskutiert werden kann, sei auf ein Kernproblem verwiesen, das auch im Westen gesehen wird. Heribert Dieter von der regierungsnahen „Stiftung Wissenschaft und Politik“ warnt: „Diese Sanktionen betreffen alle mit Russland Handel treibenden Staaten, aber nichtwestliche Länder wurden vor Verhängung der Sanktionen nicht konsultiert…“ (73) Befürchtet wird die Herausbildung konkurrierender Finanzsysteme und ein Rückbau internationaler Wirtschaftsbeziehungen. Die ehemalige Chefökonomin der Weltbank Penelopi Goldberg formulierte, bezogen auf den Handelskrieg mit China und die Russland-Sanktionen (vor Ausbruch des Kriegs): „Die internationale Zusammenarbeit ist zusammengebrochen, die multilateralen Institutionen wurden entmachtet, und die Welt ist in eine Ära zunehmender Polarisierung eingetreten, was die Länder sowohl im Inneren als auch untereinander zu spüren bekommen. Die besten Hoffnungen für die Zukunft schienen in regionalen Blöcken und Bündnissen zu liegen, die eine neue, zersplitterte Form der Globalisierung verheißen.“ Die Handelssanktionen gegen Russland könnten „der letzte Sargnagel für die regelbasierte internationale Handelsordnung sein“ (Dieter, 73). Noch gefährlicher erscheint die „financial fragmentation“ (IMF 2023a, XV), die ein koordiniertes Vorgehen gegen Krisen des Weltfinanzsystems erschweren würde.
Der westliche Block nimmt den Ukraine-Krieg zum Anlass, um für eine grundlegende Veränderung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen zu werben. Diese sollen sich – wie in der Periode des Kalten Kriegs – wieder an einer bipolaren Blocklogik orientieren, dieses Mal unter dem Vorzeichen ‚Demokratien vs. Autokratien‘. Janet Yellen, US-Finanzministerin und ehemalige Präsidentin der US-Notenbank, forderte auf einer Veranstaltung des Atlantic Council am 13. April eine Neuorientierung des internationalen Handels- und Finanzsystems: Es ginge nicht mehr um „fairen“, sondern um „sicheren“ Handel, was nichts anderes heißt, als die internationalen Wirtschaftsbeziehungen der militärischen Logik unterzuordnen. In Deutschland wird eine „wertebasierte Handelspolitik“ gefordert.[15] Das ist ein Euphemismus, denn in den internationalen Beziehungen müssen „Freunde“ nicht „werteverwandt“ sein, wie die nach dem 24. Februar 2022 geschlossenen ‚Partnerschaften‘ mit Autokratien wie Aserbaidschan, Ägypten und Katar zeigen. Die „Österreichische Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung“ weist darauf hin, dass bei der Abwendung der USA (und ihrer Verbündeten) von der liberalen hin zur „wertebasierten“ internationalen Politik sowohl innenpolitische (Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten mit den Ergebnissen der Globalisierung) als auch außenpolitische Motive (die Erhaltung von US-Leadership) eine Rolle spielen: „Als Fazit bleibt, dass die Gründe für die US-Politik, sich nun einer wertebasierten Außen- und Handelspolitik zuzuwenden, eng mit der innenpolitischen Gemengelage und ihrer bedrohten hegemonialen Stellung verbunden sind.“[16]
Die „Neudefinition“, d.h. die Politisierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, steht nicht erst seit dem 24. Februar 2022 auf der Tagesordnung. Seit deutlich ist, dass mit China ein mächtiger Akteur die internationale Bühne betreten hat, der nicht bereit ist, „sein Wirtschaftssystem dem westlichen Modell anzugleichen“ (Felbermayr), prägt das Bemühen der USA, den wirtschaftlichen und politischen Aufstieg Chinas einzudämmen, die internationalen Beziehungen. Bilaterale Sanktionen gegen China bzw. Russland treffen nicht nur die unmittelbaren Adressaten, sondern werden über das Instrument der Sekundärsanktionen zu multilateralen Sanktionen. Dieser Trend hat seit dem 24. Februar 2022 eine dramatische Dimension erreicht: „Der Krieg hat das Risiko einer dauerhafteren Fragmentierung der Weltwirtschaft vergrößert. Es könnten geopolitische Blöcke mit unterschiedlichen technologischen Standards, grenzüberschreitenden Zahlungssystemen und Reservewährungen entstehen. Eine solche tektonische Verschiebung würde hohe Anpassungskosten und dauerhafte Effizienzverluste mit sich bringen, da es zu einer Neuzusammensetzung von Produktionsnetzwerken und Zulieferketten kommen würde. Dies beinhaltet auch eine große Herausforderung für die regelbasierte Ordnung, die in den letzten 70 Jahren die internationalen politischen und ökonomischen Beziehungen bestimmt hat.“ (IMF 2022, XIV)
Die große Weltunordnung
Wenig spricht dafür, dass der durch westliche Sanktionspolitik ausgelöste Prozess der Auflösung der alten „regelbasierten Ordnung“ zu einer gerechteren ‚multilateralen‘ Weltordnung führen wird. Der Kapitalismus ist ein prinzipiell expansionistisches System, und er ist – wenn auch heute in anderer Form als vor 1945 – national konstituiert. Systemische Ähnlichkeiten begründen nicht notwendig freundschaftliche Beziehungen, wie die jüngsten Auseinandersetzungen zwischen den USA und der EU im Kontext des US-amerikanischen „Inflation Reduction Act“ zeigen. Die Vorstellung einer Blockbildung nach Maßgabe politischer Strukturen (Demokratie vs. Autokratie oder liberaler vs. politischer Kapitalismus) abstrahiert von den ökonomischen und damit auch politischen Zwängen, die alle Kapitalismusformen prägen. Auch mittlere oder kleinere Länder zeigen wenig Neigung, sich in einen von Großmächten dominierten Block einzufügen. Der Trend zur Politisierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen macht Schule und veranlasst auch regionale Mächte dazu, diese im Kampf für nationalen Standorte und Interessen als Waffe zu verwenden. Wahrscheinliches Ergebnis der vom Westen betriebenen Auflösung der ‚liberalen‘ Ordnung wird keine neue ‚multipolare Ordnung‘ sein, sondern der Zerfall jeder Ordnung. Vor dem Hintergrund der Konkurrenz nationaler Standorte, deren Grundlage das Bestreben ist, dem transnational agierenden Kapital günstige Verwertungsbedingungen einzuräumen, könnte es zur Multiplizierung regionaler Auseinandersetzungen kommen. Die Bedingungen für eine echte multilaterale Ordnung als Ergebnis einer Neuverhandlung des bestehenden Regelsystems sind derzeit jedenfalls nicht gegeben: „Die internationalen Institutionen müssten die Macht und die Fähigkeit haben, um zwischen den Staaten vermitteln zu können, um zu einem internationalen Regime der institutionalisierten Zusammenarbeit zu kommen.“ (Aglietta, 282/283)
Literatur
Aglietta, Michel/Bai, Guo/Macaire, Camille : La course à la suprématie monétaire mondiale à l’épreuve de la rivalité sino-américaine, Paris 2022.
Bunde, Tobias: Weltordnung vor dem Zerfall? In: Internationale Sicherheit, Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 36-37/2018.
Desai, Radhika: Geopolitische Ökonomie. Die Nachfolgerin von US-amerikanischer Hegemonie, Globalisierung und Imperialismus, Kassel 2020.
Dieter, Heribert: Die Irrtümer der Sanktionsbefürworter, in: Internationale Politik 6, November/Dezember 2022 (https://internationalepolitik.de/de/was-bringen-die-sanktionen-gegen-russland).
Felbermayr, Gabriel: 25 Jahr WTO – Ursachen des Zerfalls und Reformvorschläge für die Zukunft, Kiel Focus 12/2019 (https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/kiel-focus/2019/25-jahre-wto-ursachen-des-zerfalls-und-reformvorschlaege-fuer-die-zukunft-0/).
Goldberg, Pinelopi Koujianou: Das Dilemma der Handelssanktionen, Project Syndicate, 17.März 2022 (https://www.project-syndicate.org/commentary/russia-trade-sanctions-ineffective-with-high-costs-by-pinelopi-koujianou-goldberg-2022-03/german?barrier=accesspaylog).
IMF 2021: Sizing Up the Effects of Technological Decoupling, Working Paper WP/21/69, Washington DC., March.
IMF 2022: War sets back the global recovery, World Economic Outlook April 2022, Washington DC.
IMF 2023: Geoeconomic Fragmentation and the Future of Multilateralism, Staff Discussion Note 2023/001, Washington DC., January.
IMF 2023a: Safeguarding Financial Stability amid High Inflation and Geopolitic Risks. Global Financial Stability Report, April 2023, Washington DC.
Komlosy, Andrea: Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft, Wien 2022.
Marchetti, Raffaele: Post-Western world orders, in: Schulze, Peter W. (ed), Multipolarity. The promise of disharmony, Frankfurt/New York 2018.
Menzel, Ulrich/Varga, Katharina: Theorie und Geschichte der Lehre von den Internationalen Beziehungen, Hamburg 1999.
Menzel, Ulrich: Die Ordnung der Welt. Imperium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staatenwelt, Berlin 2015.
Milanovic, Branko: Kapitalismus Global. Über die Zukunft des Systems, das die Welt beherrscht, Bonn 2021.
Neu, Alexander: Hegemonie, Multipolarität oder Nicht-Polarität im 21. Jahrhundert, in: Crome, Ehrhard/Krämer, Raimund (Hrsg.), Hegemonie und Multipolarität. Weltordnungen im 21. Jahrhundert, Potsdam 2013.
[1] Anders Radhika Desai: „…der Kapitalismus basiert nicht auf einer strikten Abtrennung von Staat und Markt, hat dies nie getan, und wird dies auch in Zukunft nicht tun“ (375).
[2] Karl Marx, Über F. Lists Buch ‚Das nationale System der politischen Ökonomie‘ von 1845, MEGA I/4.
[3] Ob die Bourgeoisie heute national oder global ist, kann hier nicht diskutiert werden. Vgl. Z 94, 173 ff.
[4] Dass Politik im Dienst des „Wirtschaftsstandorts Deutschland“ steht, wird z.B. im Koalitionsvertrag der ‚Ampel‘ deutlich formuliert: Deutschland soll „wirtschaftlich und technologisch weiter in der Spitzenliga spielen“, heißt es dort. Vgl. Z 129, 97 ff.
[5] Engels kritisiert explizit ökonomischen Determinismus: „Nach materialistischer Geschichtsauffassung ist das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte die Produktion und Reproduktion des wirklichen Lebens. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet. Wenn nun jemand das dahin verdreht, das ökonomische Moment sei das einzig bestimmende, so verwandelt er jenen Satz in eine nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase. Die ökonomische Lage ist die Basis, aber die verschiedenen Momente des Überbaus – politische Formen des Klassenkampfs und seine Resultate – Verfassungen, nach gewonnener Schlacht durch die siegende Klasse festgestellt usw. – Rechtsformen, und nun gar die Reflexe aller dieser wirklichen Kämpfe im Gehirn der Beteiligten, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung zu Dogmensystemen, üben auch ihre Einwirkung auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe aus und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form. Es ist eine Wechselwirkung aller dieser Momente, worin schließlich durch alle die unendliche Menge von Zufälligkeiten (d. h. von Dingen und Ereignissen, deren innerer Zusammenhang untereinander so entfernt oder so unnachweisbar ist, daß wir ihn als nicht vorhanden betrachten, vernachlässigen können) als Notwendiges die ökonomische Bewegung sich durchsetzt. Sonst wäre die Anwendung der Theorie auf eine beliebige Geschichtsperiode ja leichter als die Lösung einer einfachen Gleichung ersten Grades.“ (Engels an Joseph Bloch, 21.Sept. 1890, MEW 37, 463)
[6] Die Disziplin wird von den USA dominiert. Gegenstand ist die Außenpolitik von Nationalstaaten, die wesentlich „Sicherheitspolitik“ sei: „Nur Sicherheitsfragen bilden den Bereich der ‚High Politics‘, alles andere, selbst wirtschaftliche Interessen, sind ‚Low Politics‘“. In Deutschland werden die US-Debatten meist nur nachvollzogen. (Menzel 1999, 46)
[7] European Commission, Keynote address by President von der Leyen at Princeton University, 22. September 2022.
[8] Vgl. die Darstellung im Stichwort „Weltwirtschaftsordnung“ im „ABC der globalen (Un)ordnung“, Hamburg 2019, 252/53.
[9] Eine weniger ideologisch geprägte Blockbildung sieht Milanovic im Gegensatz zwischen einem „liberalen meritokratischen Kapitalismus“ und einem „politischen Kapitalismus“.
[10] Charles Krauthammer, The Unipolar Moment, in: Foreign Affairs, Vol. 70, No. 1, America and the world 1990/91, 23.
[11] Das „Project for the New American Century“ (PNAC) war eine in den 1990er Jahren gegründete konservative ‚Denkfabrik‘, aus der führende Politiker der Bush-Regierung (2001-2009) stammten.
[12] Reformdebatten gibt es seit dem Beginn der 1990er Jahre. 2005 legte der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan ein umfangreiches Reformdokument vor. („In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechte für alle.“)
[13] Die G 20 wurden 1999 gegründet als Reaktion auf die asiatische Finanzkrise von 1997. Sie gewann aber erst nach der Finanzmarktkrise 2008 an Bedeutung.
[14] Why does everyone hate Made in China 2025? 29.12.2018 (https://www.cfr.org/blog/why-does-everyone-hate-made-china-2025).
[15] Gustav Horn, Deutschland braucht neue Spielregeln für den globalen Handel, Zeit v. 26.4.2022.
[16] Werner Raza, Von der liberalen zur wertebasierten Handelspolitik – Chance oder Gefahr für die internationale Politik? (https://weltneuvermessung.wordpress.com/2023/03/23/von-der-liberalen-zur-wertebasierten-handelspolitik-chance-oder-gefahr-fur-die-internationale-politik/)