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Die Krise der öffentlichen Schulden in Griechenland zeigt die Asymmetrien und Widersprüche im europäischen Projekt sowie in der Herausbildung und Formierung des griechischen Kapitalismus. Daher kann man argumentieren, dass die Krise die Rolle eines Katalysators spielt und Probleme zutage gefördert hat, die in einem langen sozialen und wirtschaftlichen Prozess entstanden sind. Außerdem haben die Maßnahmen als Reaktion auf die Krise diese tatsächlich verschlimmert, wie der Fall Griechenlands nur zu deutlich zeigt. Daher ist nach fünf Jahren Krise die Frage nach dem Ausweg dringender als je zuvor.
Dass Griechenland – trotz seiner besonderen historischen und institutionellen Eigenheiten – kein Sonderfall ist, wird auf breiter Basis von den sozialen und politischen Bewegungen geteilt, die sich gegen die Sparmaßnahmen und den Versuch des Finanzkapitalismus wenden, die Schuld an und die Kosten der Krisenbewältigung auf die arbeitenden Klassen und die Gesellschaft insgesamt abzuwälzen.
In diesem Sinne werden soziale Proteste und Kämpfe in ganz Europa aufeinander abgestimmt, wodurch sie eine größere Wirkung auf den politischen Prozess sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene haben. Dies ist eine notwendige Voraussetzung für den Kampf gegen Sparmaßnahmen und den Finanzkapitalismus. Jedoch ist es keine hinreichende Voraussetzung.
Insbesondere muss der Kampf durch Bemühungen verstärkt werden, ein neues europäisches Projekt zu schaffen, und zwar eines, das die sozialen und produktiven Kräfte auf der Basis eines neuen Paradigmas mobilisiert, welches eine sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung fördert, wobei die Ungleichheiten zwischen den europäischen Ländern sowohl kurz- als auch langfristig abgebaut werden. Erst dann wird es möglich sein, das europäische Projekt wieder zu revitalisieren.
Im Folgenden behandelt Abschnitt 1 den Unterschied zwischen Kern und Peripherie in der EU; Abschnitt 2 analysiert den Fall Griechenlands: die Besonderheiten der Entstehung des griechischen Kapitalismus, den Umgang mit der Krise und die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen der Sparpolitik; Abschnitt 3 stellt die Frage nach einem „Ausweg“.
1. Asymmetrien und Ungleichheiten in der Europäischen Union
Die Anfänge des europäischen Projekts gehen auf das Ende des Zweiten Weltkriegs, den Kapitalbedarf für die Rekonstruktion Europas sowie den Wunsch der europäischen Völker nach Frieden und Fortschritt zurück. Obwohl die Entstehung der ursprünglich drei Europäischen Gemeinschaften vor allem den Bedürfnissen des Kapitals diente, bedeutete sie auch den Beginn einer neuen Ära voller Hoffnung für den konfliktgeschüttelten europäischen Kontinent.
Dieser Aspekt des europäischen Projekts begann Mitte der 1980er Jahre mit dem Aufkommen und der Verbreitung des Neoliberalismus an Bedeutung zu verlieren, zunächst in den angelsächsischen Ländern und dann im übrigen Europa. Die Einheitliche Europäische Akte (1986) war ein wichtiger Schritt in diese Richtung und wurde mit der Einführung der einheitlichen Währung besiegelt, die ausschließlich auf fiskale und monetäre Disziplin gegründet war und zu einem autoritären Regime willkürlicher Regeln und Indikatoren führte. Die finanzielle Deregulierung war der letzte Akt in der Umgestaltung des europäischen Projekts in eine Richtung, die sowohl dem Markt wie auch dem Wettbewerb dienen sollte. Als die Finanzkrise ausbrach, war dieser Transformationsprozess bereits abgeschlossen. Restriktive Fiskal- und Geld-Politik, Lohnkürzungen, Marktöffnung und Privatisierungen waren die Eckpfeiler der europäischen Konstruktion, was umso mehr für die Eurozone gilt. Dieser Prozess schuf jedoch Asymmetrien und Ungleichheiten, die die EU und die Eurozone in verschiedene Kategorien von Mitgliedstaaten aufspalteten. Mehr oder weniger alle Beobachter gehen von einer Spaltung in Kern- und Peripherieländer aus, obwohl die Kriterien für solch eine Einteilung unterschiedlich sein mögen.
Eine der Einteilungen, die am häufigsten in der Literatur diskutiert wird, beruht auf der unterschiedlichen Lohnpolitik in den Kern- und Nicht-Kernländern sowie ihrem Bezug zur Produktivität. Vor allem wird argumentiert, dass Deutschland und andere, hauptsächlich nordeuropäische Länder vor dem Hintergrund der währungspolitischen Vereinigung und finanzpolitischen Deregulierung exportorientierte Wachstumsstrategien verfolgten – verbunden mit wachsender Ungleichheit und Verschuldung der peripheren Länder, insbesondere in Südeuropa, die sich für ihr eigenes Wachstum auf die Binnennachfrage stützen mussten. Die steigende Binnennachfrage und die höheren Lohnkosten in den Peripherieländern führten zu den aktuellen Leistungsbilanzdefiziten und zu einer erhöhten Verschuldung, ein Prozess, den die Banken der Kernländer mit Genuss finanzierten. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat gezeigt, dass diese Situation nicht tragbar war.[1]
Die Asymmetrien zwischen den Kern- und Peripherieländern werden auch in einer mehr langfristigen Perspektive diskutiert. Ein solcher Ansatz stammt von Best (2012), der die langfristigen Folgen des produktorientierten Wettbewerbs betont.[2] Produktbezogene Wettbewerbsfähigkeit beruht mehr auf Produktionspotentialen und nicht so sehr auf Wettbewerbsfähigkeit bei den Preisen. Zudem sind solche Produktionspotentiale in die produktiven Strukturen einer Region eingebettet. Im Vergleich zu den Peripherieländern haben die Kernländer anscheinend erfolgreichere und innovativere Produktionsstrukturen. Das liegt sowohl an den geschichtlich herausgebildeten Wirtschaftsstrukturen, also dem historischen Erbe der verschiedenen Regionen, als auch am Mangel an einer vernünftigen Industriepolitik seitens der EU. Obwohl den peripheren Ländern die organisatorischen Voraussetzungen hierfür fehlten, haben die EU-Strukturfonds durch direkte Hilfen[3] zu einem Paradigma der „client-agency Beziehung in der Industriepolitik“ ermutigt. Bei anderen Maßnahmen der Struktkurfonds, wie Unterstützung beim Aufbau von Infrastruktur und Qualifikation, fehlt die strategische Vision einer langfristigen Entwicklungskonzeption, ein Mangel, an dem die peripheren Länder immer noch leiden.
Eine eher an einer langen Sicht der europäischen Spaltung in Metropolen und Peripherie interessierte Position vertritt Samir Amin (2012)[4]. Ähnlich wie Best betont Amin die Bedeutung der Produktionspotentiale. Er teilt die Länder in drei Gruppen ein: (1) Der Kern – GB, Frankreich, Deutschland, Niederlande, Belgien, Schweiz, Österreich und Skandinavien – Länder, in welchen der Kapitalismus früh Fuß fasste und heute am höchsten entwickelt ist; (2) Italien, Spanien und Portugal, in denen der Kapitalismus sich in einer späteren Phase entwickelte und auch heute noch einige Besonderheiten aufweist; (3) die durch die Sowjet-Zeit geprägten Länder und Griechenland, in welchen die sich entwickelnde Bourgeoisie via Mitgliedschaft in EU und NATO in die kapitalistische Welt re-integriert wurde. Da die Europäische Zentralbank die Banken auf Kosten der Regierungen bevorzugte, verschärfte die einheitliche Währung diese Spaltung. Der grundlegende Konflikt, so Amins Schlussfolgerung, besteht zwischen den herrschenden Klassen des Zentrums auf der einen und den Arbeitern in der EU auf der anderen Seite.
Zur gleichen Schlussfolgerung gelangt Hudson (2012), ein anderer Forscher auf dem Gebiet der politischen Ökonomie der EU.[5] Er betont die dominierende Rolle des Finanzsystems beim Aufbau von Ungleichgewichten zwischen sozialen Klassen, nicht zwischen Ländern. Ihm zufolge konstituieren die Finanz-, Versicherungs- und Immobilieninteressen eine Klasse, die bestens von der ökonomischen Rente lebt, die sie aus der übrigen Wirtschaft herauspumpt. Da die Schulden durch ihre eigene Dynamik wachsen, übersteigt der zur Bedienung der Kredite erforderliche Ertrag den ökonomischen surplus, so dass die Wirtschaft und insbesondere Lohnabhängige und Rentner für den Schuldendienst in Haft genommen werden. Und damit dieser Kurs weiter verfolgt werden kann, muss die Finanzwelt auch den politischen Prozess unter Kontrolle bringen, zu Lasten der Demokratie.
Der kurze Überblick zur aktuellen Diskussion über Ungleichgewichte in der EU soll die große Bandbreite methodologischer Ansätze aufzeigen – von pragmatischen bis zu eher theoretischen oder abstrakten Konzeptionen. Dennoch lassen sich eine Reihe gemeinsamer Standpunkte festhalten, die folgendermaßen zusammengefasst werden können:
· Grundsätzlich ist man sich darin einig, dass die 27 Mitgliedsstaaten der EU kein homogenes Ganzes bilden und dass die Mitgliedschaft in der EU den Abstand zwischen den Produktionsstrukturen nicht verringert hat.
· Auch herrscht Einigkeit darüber, dass die Einheitswährung zusätzlich dazu beigetragen hat, die regionalen Unterschiede zu verstärken.
· Zudem wird von allen mehr oder weniger deutlich hervorgehoben, dass die dominante Rolle der Finanzwirtschaft ein signifikantes Element für den kapitalistischen Akkumulationsprozess in der EU darstellt.
· Der Konflikt findet zwischen den herrschenden Klassen der Kernländer und den arbeitenden Klassen sowohl der Kern- als auch der peripheren Länder statt. Diese Sicht wird vor allem von Hudson und Amin vertreten; bei den anderen genannten Autoren findet sich diese Feststellung eher implizit.
Im Ganzen erweist sich die Analyse der momentanen Ungleichgewichte oder Konflikte in der EU als nützlicher Ansatz, um die Dynamik der Staatsschuldenkrise zu verstehen. Auf der anderen Seite ist der Fall Griechenland aufgrund seiner Implikationen für das europäische Projekt insgesamt von besonderem Interesse.
2. Der Fall Griechenland
2.1. Stationen der Entwicklung des Kapitalismus in Griechenland
Die Ursprünge des modernen Griechenland reichen zurück ins 19. Jahrhundert, als Teile von ihm unabhängig vom Osmanischen Reich wurden. Dieser Prozess fand Mitte des 20. Jahrhundert seinen Abschluss. Die Geschichte des jungen Staates war sowohl im 19. wie auch im 20. Jahrhundert voll von lokalen wie internationalen Kriegen. Erst nach 1950 kehrte eine Art Normalität ein, auch wenn die Wunden des Bürgerkriegs (1944-1949) nur langsam heilten.
Die 1950er und 1960er Jahre waren Perioden ökonomischen Wideraufbaus und schnellen Wachstums, in denen die als „legale Steuerflucht” titulierten Schlupflöcher für verschiedene soziale Gruppen etabliert[6] wurden. Die Hauptcharakteristika des griechischen Steuersystems, in dem zwei Drittel der Einnahmen von indirekten Steuern und nur ein Drittel aus der Einkommenssteuer herrühren, wobei dieser Anteil hauptsächlich von Lohn- und Gehaltsempfängern aufgebracht wird, stammen aus dieser Zeit und bestehen bis heute.
Die Junta, die von 1967 bis 1974 bestand, verfolgte eine expansionistische, wenn auch halbherzige Wirtschaftspolitik im Zeichen des in dieser Zeit geltenden Ziels „Wachstum um jeden Preis”. Der Kollaps des Bretton Woods Systems, dessen Mitglied Griechenland 1953 geworden war, und die Ölkrisen in den 1970ern beschädigten die im Aufbau begriffene griechische Wirtschaft. Das zwang die konservative Regierung, die der Junta folgte, zur Nationalisierung großer Teile der Wirtschaft. Die Ursprünge der Probleme der öffentlichen Finanzen Griechenlands gehen auf diese Periode zurück. In den 1980ern wurden diese Probleme mit dem Aufstieg der PASOK-Sozialisten und der Einführung rudimentärer Elemente eines Sozialstaates, die es bis dato nicht gegeben hatte, noch akuter.
In den 1990ern wurde die Wirtschaftspolitik von dem strategischen Ziel bestimmt, der europäischen Währungsunion beizutreten. Die Wirtschaft wurde zwar durch eine restriktive Politik stabilisiert, doch ohne jeden Versuch, die Wettbewerbsfähigkeit der Produktionsstrukturen zu steigern. Tourismus, Schifffahrt, Baugewerbe, Banken und Telekommunikation bildeten die wichtigsten Wirtschaftszweige, d.h. eine Kombination verschiedener Dienstleistungssektoren und ihnen zugeordneter Produktionsbranchen.[7] Die Landwirtschaft, die zum Zeitpunkt des Beitritts Griechenlands zum Gemeinsamen Markt ein Drittel der Wirtschaftsleistung des Landes ausmachte, schrumpfte sehr schnell. Gleichermaßen konnte sich der industrielle Sektor nie mehr von der radikalen De-Industrialisierung in den 1980er Jahren erholen. Die Hauptmerkmale der griechischen Wirtschaft spiegelten sich im Leistungsbilanzdefizit, das unter den Bedingungen günstiger Kredite in den 2000er Jahren immer weiter stieg.
2.2 Asymmetrien und Ungleichgewichte
Dieses knappe Portrait der wirtschaftlichen Entwicklung weist Griechenland in verschiedener Hinsicht als Teil der Peripherie der EU aus. Erstens scheint hier die These Amins zuzutreffen, dass Griechenland „generalisierte Monopole” fehlen, d.h. solche, die im strengen Sinn national sind, auch wenn sie ihr Geschäft auf europäischer oder transnationaler Ebene betreiben. Amin selbst stellt sich die Frage, ob nicht die griechische Schifffahrtsbranche eine Ausnahme von der Regel darstellt, auch wenn er deren Status als griechisch anzweifelt.[8] Amins Vorbehalt ist richtig. Die griechischen Reedereien kontrollieren zwar 16,2 Prozent der globalen Schiffstonnage, dicht gefolgt von den japanischen mit 15,8 Prozent, tragen aber nur mit 6 Prozent zum griechischen Sozialprodukt bei.
Bests Ansatz der Analyse der Produktionsstrukturen ist auch für Griechenland anwendbar. Besonders der Peripherie wird unterstellt, nicht genug innovative Unternehmen aufbauen zu können, um Fortschritte bei der Produktivität zu erzielen und Arbeitsplätze zu schaffen. Ein wichtiger Indikator in dieser Hinsicht sind die Ausgaben für Forschung und Entwicklung (FE). Ziel der Europe2020 Strategie ist es, in der ganzen EU diese Ausgaben bis 2020 auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Griechenland hat sich dabei kein eigenes nationales Ziel gesteckt; der bisherige Stand ist bescheiden: Die Gesamtausgaben für FE beliefen sich auf 0,58 Prozent im Jahr 2001 und wuchsen nur auf 0,6 im Jahr 2007.
Andere Euro2020 Ziele, die für den Produktionsstrukturen-Ansatz wichtig sind, betreffen die Bildung. Vorgesehen ist in der EU bis 2020 eine Anteilssteigerung der Absolventen mit Hochschul- oder einem vergleichbaren Abschluss an den 30-34jährigen auf 40 Prozent und eine Verminderung des Anteils von vorzeitigen Schulabgängern auf 10 Prozent der Alterskohorte von 18-24 Jahren. Die Ziele liegen in Griechenland bei 32 und 9,6 Prozent.
Tabelle 1: Lohnstückkosten und Handelsbilanzen 2001-2010 in der EU und Griechenland nach Kernländern und Peripherie
Tabelle siehe PDF !
Kern-Länder: Deutschland, Frankreich, Belgien, Österreich; Nicht-Kern-Länder: Irland, Griechenland, Spanien, Portugal, Italien. Angaben nach: Eurostat; Vernengo et al. (2012), Tab. 6, eig. Ber.
Es ist wichtig anzumerken, dass der Anteil jener Personen, die in Griechenland 2002 eine höhere Bildung genossen haben, 23,4 Prozent der relevanten Bevölkerungsgruppe ausmachte. Der Anteil lag also sehr nahe am EU27-Durchschnitt von 23,5 Prozent. Während aber 2009 der EU27-Durchschnitt auf 32,2 Prozent anstieg, blieb Griechenland mit lediglich 26,5 Prozent zurück. Auf der anderen Seite war der Anteil von frühen Schulabgängern in der Gruppe der 18-24jährigen 2009 mit 14,5 Prozent auf dem Niveau der EU27, wobei er im Jahre 2002 noch 16,5 Prozent betragen hatte (EU27: 17 Prozent).
Während Bests Analyseverfahren versucht, die Aufmerksamkeit auf grundlegende strukturelle Veränderungen zu richten, vor allem in Verbindung mit Innovationen in der Produktion, steht im Fokus des Ungleichgewichtsansatzes die unterschiedliche Lohnpolitik in der EU und ihre Auswirkungen auf die Außenhandelsbilanzen unter den Bedingungen der Deregulierung der Finanzmärkte. So wurde beobachtet, dass nach der Einführung des EURO Deutschland und einige andere Länder im Gegensatz zu den peripheren Ländern eine zurückhaltende Lohnpolitik verfolgten. Als Resultat konnten die ersteren meistens einen Handelsbilanzüberschuss verbuchen, letztere mussten ein Defizit hinnehmen. Wie Tabelle 1 zeigt, ergibt sich im Vergleich ein Muster von „Kern”- und „Nicht-Kern”-Ländern, in das Griechenland hineinzupassen scheint.
Überdies nahm die finanzielle Deregulierung in Griechenland seit den 1990ern an Fahrt auf und war in den frühen 2000ern abgeschlossen. Damit wurden die nötigen Kreditressourcen für Investitionen und Konsumtion geliefert. Die dadurch ansteigende Verschuldung der griechischen Wirtschaft, und zwar sowohl des staatlichen als auch der privaten Sektoren, machten sie speziell anfällig für den Druck der Finanzmärkte. Verschärft wurde diese Anfälligkeit noch durch die in Griechenland nach 2000 kontinuierlich negativen Haushaltsbilanzen, ein Merkmal, das nicht für alle peripheren Staaten gleichermaßen gilt.
Insgesamt genommen weist unsere Analyse Griechenland als einen peripheren Mitgliedsstaat der EU aus. Die Mitgliedschaft in der EU seit 1981 hat nicht geholfen, diesen Status zu überwinden; und die Mitgliedschaft in der Eurozone tendierte dazu, diesen Status zu konsolidieren. Damit ist Griechenland nicht allein. Während die historischen Besonderheiten für jedes einzelne Land von Belang sind, hilft der institutionelle Rahmen der EU viele der fortbestehenden Unterschiede der Länder zu verstehen. In Folge der Krise haben sie sich noch verschärft.
2.3. Krisenbewältigung?
Im April 2009 überstiegen die öffentlichen Schulden in Griechenland die 3-Prozent-Grenze des Stabilitäts- und Wachstumspakts. Das Defizit-Verfahren des Vertrages trat in Kraft. Den Finanzspekulanten wurde damit signalisiert, dass Griechenland ein wehrloses Opfer war.[9] Die konservative Regierung trat in der Mitte der vierjährigen Legislaturperiode zurück und im Oktober 2009 fanden Parlamentswahlen statt, welche die PASOK-Sozialisten für sich entscheiden konnten.
Im November 2009 wurden die Haushalts-Zahlen nach oben revidiert, wodurch das laufende Defizit von 4,4 Prozent des BIP – die bisherige Vorhersage basierte auf der Annahme eines Wachstums von 0,2 Prozent – auf 15,4 Prozent stieg. Dementsprechend wurde die öffentliche Schuld von 115,1 Prozent des BIPs auf 126,8 Prozent korrigiert. Zum Teil war diese Abweichung dem Rückgang des BIP (-3,1 Prozent) geschuldet; zum Teil ging sie auf die schlechte Qualität der griechischen Statistiken zurück. Damit kam das Thema Glaubhaftigkeit auf, was Griechenland gegenüber den Finanzspekulanten noch verletzlicher machte.
So geriet der Ball ins Rollen. Die Zinsen auf griechische Staatsanleihen mit 10 Jahren Laufzeit fingen an zu steigen und der Zinsabstand zu den vergleichbaren deutschen Staatsanleihen weitete sich aus. Der Credit-Default-Swaps(CDS)-Markt wurde auf den schnellen Profit aufmerksam, der mit Wetten auf die griechische Staatspleite gemacht werden konnte. Anfang 2010 wurden die Austeritätsprogramme gestartet, aber sie blieben ohne Einfluss auf den weiteren Anstieg der Zinsen für Staatsanleihen zu astronomischer Höhe.[10] Im Mai 2010 wurde mit dem griechischen Staat auf der einen und der Troika, bestehend aus Europäischer Kommission, der EZB und dem IWF auf der anderen Seite, das erste Rettungspaket vereinbart. Dieses war an strenge, der neoliberalen Agenda der „european leaders“, der europäischen Führungsmächte, verpflichtete Auflagen geknüpft: Haushaltskonsolidierung, Privatisierung, Renten- und Arbeitsmarktreformen usw.
Mitte 2011 wurde klar, dass die ambitionierten finanzpolitischen Ziele der Vereinbarung nicht eingehalten werden konnten, vor allem, da sich die Wirtschaft im freien Fall befand: Die Produktion brach ein und die Arbeitslosigkeit stieg in unerwartete Höhen. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung schlug schnell in Unruhen und Proteste um, die im Juni 2011 eine unerwartete Regierungsumbildung und im November deren Rücktritt bewirkten. Eine „technokratische” Regierung unter dem Vorsitz des Ex-EZB-Vizepräsidenten und ehemaligen Goldmann-Sachs-Managers Lucas Papadimos übernahm die Regierungsgeschäfte. Im Oktober 2011 wurde ein zweites Rettungspaket vereinbart und Übereinstimmung über die Notwendigkeit eines „private sector involvement (PSI)” erzielt, also die Restrukturierung der von Privaten gehaltenen Staatsschuldentitel. Das zweite Rettungspaket wie auch das PSI-Programm wurden Anfang 2012 abgeschlossen.
Insgesamt umfassten die beiden Rettungspakete 237,4 Milliarden Euro, wobei der Beitrag der EU sich auf 197,5 Milliarden belief und der IWF 39,93 Milliarden beisteuerte. Von dieser Summe betreffen zwei Drittel Zahlungen an die Gläubiger Griechenlands, also an europäische und griechische Banken, die griechische Staatsanleihen halten. Gegenüber allen anderen staatlichen Aufgaben hat der Schuldendienst bei den Banken oberste Priorität. Bis jetzt wurde eine Summe von 148,5 Milliarden Euro ausgezahlt, wobei jede Auszahlung Diskussionen um die Leistungsfähigkeit des griechischen Haushaltes zur Folge hat und als Aufhänger für neue Sparprogramme dient. Letztlich hat die PSI-Vereinbarung mit den privaten Gläubigern nicht dazu beigetragen, die Dimension der öffentlichen Schulden auf ein tragbares Level zurückzuführen, da sie sich nur auf den abgesicherten Teil der Schuldenlast bezog (57 Prozent) und durch neue Kreditaufnahme finanziert wurde.[11]
Aus verschiedenen Gründen erwies sich das Krisenmanagement sowohl der europäischen wie auch der griechischen Eliten als schwerer Fehler.
· Auf der einen Seite ignorierten die griechischen Eliten, sogar noch nach Ausbruch der weltweiten Finanzkrise Ende 2007, die weiter bestehenden Probleme der griechischen Wirtschaft. Weder wurde im Vorfeld der Wahlen von 2009 die Lage der griechischen Wirtschaft angemessen diskutiert, noch stellten sich die PASOK-Sozialisten der bitteren Realität, nicht einmal angesichts der Eskalation der Krise im Jahr 2010. Diese Attitüde lässt sich nicht nur mit dem Fehlen einer strategischen Vision erklären, sondern auch mit dem Ziel der griechischen Herrschaftseliten, sowohl die Schuld an der Krise als auch die Kosten für ihre Lösung der griechischen Gesamt-Gesellschaft aufzubürden, besonders aber den Lohn- und Gehaltsempfängern. Dies bot eine einmalige Chance, Reformen durchzuführen, gegen die es lange Widerstand gegeben hatte. In diesem Sinne hatten europäische und griechische Eliten ein gemeinsames Interesse: die Durchsetzung einer neoliberalen Agenda. Dies erklärt auch, warum die griechische Regierung nicht einmal den Versuch unternahm, über die Bedingungen des Rettungspaketes zu verhandeln. Jeder Vorschlag einer Restrukturierung der Schulden wurde postwendend zurückgewiesen, obwohl angesichts der fortschreitenden Krise und der unerbittlichen Auflagen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes von Anfang an offensichtlich war, dass die Staatsschulden untragbar waren.
· Auf der anderen Seite wurden die europäischen Führungsmächte über weite Teile kritisiert, „zu spät“ gehandelt und „zu wenig“ getan zu haben um die Staatsschuldenkrise in Griechenland und anderen Ländern in den Griff zu bekommen. Grundsätzlich wurde die Krise seitens der europäischen Eliten als Liquiditätskrise angesehen, so dass die Leistung finanzieller Hilfe zu strikten Auflagen als angemessene Lösung erschien. Indem sie so handelten, machten sie sich den Standpunkt der Gläubiger zueigen, die ein Interesse daran haben, Bankrotteure zu bestrafen und glauben, dass schmerzvolle Anpassungsprogramme nichts Schlechtes sind, sondern als Warnung für andere Länder durchaus Sinn machen.[12] Später, als die Krise sich voll entfaltete wurde klar, dass das extreme Austeritätsprogramm und die rigiden Auflagen der Strukturreformen für Griechenland nur Vorboten einer tiefer greifenden neoliberalen Agenda waren, welche die europäischen Eliten mit dem Ziel verfolgen, ihre Pfründe zu sichern und weiter zu konsolidieren. Zur Legitimierung dieser Maßnahmen wurde das Narrativ der „finanziellen Verschwendung” bemüht, obgleich dieses von immer mehr Teilen der europäischen Bevölkerung in Frage gestellt wird. Der Fall Griechenland, mit seinen geschichtlichen und institutionellen Zusammenhängen und Besonderheiten, bot die einmalige Chance, dieses Narrativ durch konzertierte Anstrengungen der populistischen Medien, der orthodoxen Ökonomengilde und der Mainstream-Politiker zu etablieren – nicht nur in Deutschland, sondern auch in Griechenland!
2.4. Das Gespenst der Austerität – Ökonomische, soziale und politische Auswirkungen
In einem Brief an den Finanzminister vom 9. Januar 2012 warnte der Ombudsmann der Bürger, dass die Sparmaßnahmen der griechischen Anpassungsprogramme besonders die schwächsten Gruppen der Gesellschaft treffen. Weiterhin stellte das Oberlandesgericht von Athen fest, dass viele dieser Maßnahmen gegen die griechische Verfassung verstoßen (Entscheidung 599/2012), während der „Allgemeine Griechische Arbeiterverband“ (GSEE), der Dachverband der griechischen Gewerkschaften, beim Obersten Gerichtshof eine Beschwerde über die Aufkündigung von Tarifverträgen und die per Regierungsbeschluss reduzierten Mindestlöhne einreichte.
Die Sparmaßnahmen haben schwerwiegende Konsequenzen für die Wirtschaft nach sich gezogen.[13] Das BIP ist in der 5-Jahres-Periode von 2008 bis 2012 um 20 Prozent geschrumpft, die Investitionen sind um 50 Prozent zurückgegangen. Ohne dass der Rückgang von Exporten aufgefangen werden konnte, sank die Binnennachfrage um 25 Prozent, während die Staatsschulden um ca. 60 Prozent zugelegt haben. Die Zinszahlungen des griechischen Staates, die in der Welt gemessen am BIP schon traditionell zu den höchsten gehörten, erreichten in der Tat den höchsten Stand in den Jahren 2010 und 2011 mit 5,6 bzw. 6,7 Prozent des BIP, wobei zu erwarten ist, dass sich diese Situation im Jahr 2012 nicht ändern wird (Prognose: 7,4 Prozent).
Nach der Rekordmarke von 2009 fiel das laufende Staatsdefizit auf 10,5 Prozent des BIP im Jahr 2010 und 9,5 Prozent 2011, wobei die Troika (EU, EZB, IWF) dies als zu hoch erachtet. Trotzdem, nimmt man die Zinszahlungen aus, sank das öffentliche Defizit auf 4,9 Prozent im Jahr 2010 und 2,8 Prozent im Jahr 2011. Daher kann als Argument ins Feld geführt werden, dass die im Rahmen der Rettungspakete veranlassten Sparmaßnahmen nicht nur die Probleme in der griechischen Wirtschaft verstärkt, sondern auch die Agonie verlängert haben, diese zu überwinden, insofern die Interessen der Gläubiger über die der Gesellschaft gestellt werden.
Die sozialen Bürden, die der Mehrheit der griechischen Bevölkerung auferlegt wurden, lassen sich anhand folgender Trends veranschaulichen:
· Die Arbeitslosigkeit stieg von 8,3 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter auf 17,7 Prozent im Jahr 2011 und 24,4 Prozent im Juni 2012.
· Bestimmte soziale Gruppen hat es dabei besonders hart getroffen. Im Juni 2012 lag die Arbeitslosenrate für Frauen bei 28,1 Prozent und 55,4 Prozent für die unter 25-Jährigen. Noch 2007 hatten sie bei 16,3 Prozent bzw. 22,9 Prozent gelegen. So nimmt es auch nicht Wunder, dass durch die Emigration junger, gut ausgebildeter Menschen nun ein Brain-Drain einsetzt. Dies wird auf lange Sicht dazu führen, dass Griechenlands Status als peripheres Land weiter zementiert wird.
· Der Anteil der Langzeitarbeitslosen an der Erwerbsbevölkerung stieg von 4,1 Prozent im Jahr 2007 auf 8,8 Prozent im Jahr 2011, was den ansteigenden Druck sowohl auf den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft als auch die wirtschaftliche Entwicklung deutlich macht.
· Die gesteigerte Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt hat zu einem steilen Anstieg von Individual- oder betriebsspezifischen Arbeitsverträgen und einem 30-prozentigen Lohnverfall im Privatsektor geführt.
· Diese Entwicklung wird durch den hohen Anteil von freiberuflich Tätigen an der Erwerbsbevölkerung verstärkt (31 Prozent im Jahr 2011 gegenüber 15 Prozent im EU-Durchschnitt), von denen 47,5 Prozent im Dienstleistungssektor arbeiten. Meistens handelt es sich dabei um Familienbetriebe, die keine Lohnarbeitskräfte beschäftigen und deren Schließung meist den Absturz der gesamten Familie in Arbeitslosigkeit und Not zur Folge hat.
Wie zu erwarten, haben sich Armut und Ungleichheit besonders verschärft. 2010 waren 27,7 Prozent der Bevölkerung von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Dabei war die Rate bei Kindern unter 17 Jahren (28,7 Prozent) und bei Frauen (29,3 Prozent) höher, wobei letztere in der Altersgruppe der 65Jährigen und darüber zahlenmäßig überwiegen (126,5 Frauen auf 100 Männer, gegenüber 102 in der Gesamtgesellschaft). Anzumerken wäre hier, dass es zu den Zielen des Europe2020 Plans gehört, bis zum Jahr 2020 von 116 Millionen mindestens 20 Millionen Menschen aus ihrer Armut zu befreien. Unbeschadet dessen hat Griechenland in seinem nationalen Europe2020 Plan keine Ziel zur Armutsreduzierung vorgegeben, auch wenn es zu den ärmsten Staaten unter den EU-Mitgliedern zählt.
Die Einkommens-Ungleichheit ist ebenso hoch und nimmt weiter zu. Nehmen wir als Beispiel das Einkommen der oberen 20 Prozent im Jahr 2009, so sehen wir, dass diese Gruppe 6,2 mal mehr verdiente als die untersten 20 Prozent, (2005 betrug der Multiplikator noch 5,5, der EU Durchschnitt betrug 5,1).
Die Haushaltskürzungen im Gesundheits- und im Erziehungssystem erhöhen die sozialen Belastungen Arbeitsloser, von Armut betroffener, noch nicht emigrierter Jugendlicher und alter Menschen weiter, die sich in einer immer unsichereren Einkommenssituation sehen. Da verwundert es nicht, dass die sozialen Spannungen das politische System unter Druck setzen. Chang (2012) bemerkt dazu „Kein Wunder, die Protestierenden sind zurück. Sie sind wütend über die klammheimliche Umformulierung des Gesellschaftsvertrags.”[14]
In der Tat befindet sich das politische System Griechenlands in einem Zustand des Wandels. Die zwei traditionell dominanten Parteien – die konservative „Neue Demokratie” und die PASOK, eine sozialistische Partei im Geiste des „New Labour”, die 44 bzw. 33 Prozent der abgegebenen Stimmen in den 2009er Wahlen auf sich vereinen konnten, erreichten bei den Wahlen im Jahr Juni 2012 ihre bis dato schlechtesten Ergebnisse: 12,3 Prozent und 29,7 Prozent.[15] Dies kann als Maß des Vertrauens- und Legitimitätsverlusts der griechischen Eliten gelten, die sich seit Mitte der 1970er Jahre an der Macht abwechselten.
Das politische Vakuum, das die Stimmenverluste der zwei ehemals größten Parteien hinterlassen hatten, wurde durch den Aufstieg der radikalen Linken als auch der populistischen und faschistischen Rechten gefüllt. So erreichte SYRIZA, ein linkes Wahlbündnis, das 2009 noch auf 4,6 Prozent der abgegeben Stimmen gekommen war, im Juni 2012 mit 26,9 Prozent den zweiten Platz und avancierte so zur wichtigsten Oppositionspartei gegen eine Koalition aus Neuer Demokratie, PASOK und der Demokratischen Linken, einer neuen sozialdemokratischen Partei. Eine neue populistische Partei, die „unabhängigen Griechen” kam auf 7,5 Prozent, während die faschistische Rechtspartei „Goldene Morgenröte”, die sich bis dato im Schatten bewegt hatte, 6,9 Prozent der Stimmen holen und erstmals ins Parlament einziehen konnte.
Insgesamt gesehen befindet sich das griechische politische System in einem vollständigen Umbau. Die Ausmaße der an die 1930er Jahre erinnernden Depression und die sich daraus ergebende soziale Strangulation verweisen auf eine neue politische Ära. Was auf dem Spiel steht, ist nicht bloß die Demokratie in Griechenland, sondern die Legitimität der gesamten europäischen Demokratie.
3. Ausblick und Alternativen
Der griechischen Sage nach wurde der Kontinent „Europa” nach einer phönizischen Frau hoher Abstammung benannt, die von Zeus in Gestalt eines weißen Stiers entführt und nach Kreta gebracht wurde, wo er das heiligste Wesen war.[16]. Dabei handelt es sich um eine Geschichte von Gewalt, Trauma und Verführung. In einer verstörenden Weise scheint das europäische Projekt durch eine ähnliche Phase falscher Versprechen, tiefer Enttäuschung und trister Zukunftsbilder zu gehen.
Es geht nicht bloß um die wachsenden sozialen und demokratischen Defizite, die von Anfang an der europäischen Konstruktion eingeschrieben waren. Offenbar steht auch das Ziel wirtschaftlicher und finanzpolitischer Integration auf wackeligen Füßen, diskutiert man doch, auch wenn das bis jetzt undenkbar schien, offen das Szenario eines Kollapses der Eurozone. Obgleich sich die europäischen Machthaber dagegen stemmen, bringen sie Europa durch ihre Aktionen in Griechenland und den anderen verschuldeten EU-Staaten immer mehr in diese Richtung.
Alle Internationalen Organisationen sind sich über die schlechten Aussichten der europäischen Wirtschaft für 2012 und 2013 einig. Geht es nach dem IWF, wird die Wirtschaft in den entwickelten Ökonomien weltweit 2012 um 1,4 und um 2 Prozent im Jahre 2013 wachsen, während für die Eurozone ein Schrumpfen von -0,3 Prozent im Jahr 2012 und eine leichte Erholung um 0,9 Prozent im Jahr 2013 prognostiziert werden. Die Europäische Kommission geht von ähnlichen Vorhersagen mit -0,3 Prozent für 2012 und einer Wachstumsrate in der Eurozone von 1 Prozent für 2013 aus. Für die gesamte EU fällt der Blick etwas optimistischer aus (0 bzw. 1,3 Prozent). Die OECD sagt für die nächste Zeit ein sehr schwaches Wachstum und eine milde Rezession in der Eurozone voraus, gefolgt von einer sehr moderaten Erholung.[17] Es lässt sich also ein Zusammentreffen von wenig oder gar keinem Wachstum mit wachsenden Disparitäten in der ganzen EU beobachten.
Die sozialen und politischen Implikationen der derzeitigen Situation sind besorgniserregend. Wachsende Wohlstands- und Einkommensunterschiede, Armut und soziale Exklusion unterminieren den sozialen Zusammenhalt der europäischen Gesellschaften, der als Kompromiss aus den Nachkriegsjahren hervorgegangen war und den die Diskreditierung des kapitalistischen Systems nach der Großen Depression erzwungen hatte. Die Proteste in Griechenland, Spanien, Portugal, die sich oft gewalttätig ausnehmen, können als Indikator einer rapide zunehmenden Delegitimierung des europäischen Projektes verstanden werden. Was auf dem Spiel steht, ist die Demokratie selbst: „Griechenland ist der Kanarienvogel in der Mine”, insofern seine Probleme zwar extrem, aber nicht einzigartig sind.[18]
Also, was muss getan werden? Gibt es eine Alternative zur gegenwärtigen Zwickmühle, in der sich Europa befindet? Konkreter noch, gibt es für Griechenland und die anderen verschuldeten Länder unter der Knute der Austeritätsregime eine Zukunft? Hierbei handelt es sich zweifellos um schwierige Fragen, an deren Antworten man sich nur herantasten kann. .
Im ersten Abschnitt haben wir verschiedene Ansätze zur Kern/Peripherie-Aufteilung der Europäischen Union und den damit verbundenen Asymmetrien untersucht. Wir haben festgehalten, dass über verschiedene Wege diese Ansätze zu einer Reihe gemeinsamer Schlussfolgerungen geführt haben. Namentlich (1.) die Notwendigkeit einer langfristigen Politik der wirtschaftlichen Entwicklung, die sich der regionalen Differenzen in der EU annimmt; (2.) die Stärkung von Arbeiterrechten und die Restrukturierung des institutionellen Rahmens der Eurozone, so dass gegensätzliche Lohnpolitiken verhindert werden; (3.) die Regulierung der Finanzsphäre, so dass Finanzmärkte keinen Einfluss mehr auf die Regierung ausüben können, während im Moment das Gegenteil der Fall ist.
Diese Schlussfolgerungen umreißen ein langfristiges Projekt. Dennoch müssen auch kurzfristige Maßnahmen ergriffen werden. Solche schließen (1.) eine Änderung des Narrativs ein, eine notwendige Vorraussetzung dafür, dass eine neue politische Orientierung in der Öffentlichkeit hegemonial werden kann; (2.) eine sofortige Aussetzung aller Austeritätsprogramme und die Wiederherstellung menschenwürdiger Lebensstandards; (3.) die Wiederinkraftsetzung der öffentlichen Dienste und die Inklusion sozialstaatlicher Ziele in die Wirtschaftspolitik; (4.) das Aufhalten und die Umkehr des schleichenden Abbaus von Rechten der abhängig Beschäftigten und Arbeitsschutzgesetzen; (5.) Kick-start der Wirtschaft, besonders in den dahinvegetierenden Ökonomien der Peripherie.
Dies sind eher Beispiele als eine erschöpfende Liste von Vorschlägen. Dennoch steht eine Frage noch im Raum: Was ist mit den Staatsschulden? Das Vorhaben, die Anleihengläubiger um jeden Preis zu schützen hat seine Grenzen erreicht. Die europäischen Eliten haben den Tag der Erkenntnis so lange wie möglich vor sich her geschoben, mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus genauso wie mit den halbherzigen Versuchen, das Finanzsystem zu regulieren.[19]Die Erfahrung mit Griechenland hat doch den Beweis für die Ineffektivität dieser Politik erbracht! Stattdessen wäre es an der Zeit für eine Kombination aus Schuldenabschreibung für die verschuldeten Länder der Peripherie und einem Rekapitalisierungsplan für die Banken der Kernländer. Solch ein Ansatz würde für Griechenland und die anderen peripheren Länder die notwendige „Luft zum Atmen“ liefern, um aus dem Teufelskreis aus Sparmaßnahmen und Rezession auszubrechen, und er würde es den Kernländern erlauben, die tödliche Umklammerung von Banken und Staatsanleihen-Märkten aufzubrechen.
Was ist mit Griechenland? Kann Griechenland auf eine solche 180-Grad-Wende warten? Wie oben auseinandergesetzt, scheint das Land sich in einer doppelten Verlierer-Situation zu befinden. Wenn es dem momentanen Sparprogramm weiter folgt, hält es damit zum Preis großer sozialer Kosten und Umwälzungen die Gläubiger bei Laune. Wenn es aber die drängenden sozialen Probleme lösen will, könnten die Kreditoren dem Land den Boden unter Füßen wegziehen. Also, was muss getan werden?
Erstens ist ein Wandel des Narrativs geboten. Die „debt-audit” Kampagne, die sich in vielen europäischen Ländern, darunter auch in Griechenland gebildet hat, bildet einen guten Startpunkt. Wie haben die griechischen Staatsschulden das heutige Niveau erreicht? Ist das alles gerechtfertig? Sollte ein Teil dieser Verbindlichkeiten als untragbar eingestuft werden? Mit welchen Konsequenzen?
Zweitens wird Luft zum Atmen gebraucht. Die griechische Wirtschaft muss wieder wachsen können. Die Tatsache ist allgemein bekannt, dass man sich aus Schulden nicht herausschrumpfen kann. Aus Schulden kann man nur herauswachsen!
Drittens müssen die hausgemachten Probleme von den griechischen sozialen und politischen Kräften selbst angepackt werden. Dabei handelt es sich selbstredend um einen komplexen Prozess, der weder von außen erzwungen, noch innerhalb kurzer Zeit geleistet werden kann.
Viertens hat sich die griechische Austeritätserfahrung schon ins kollektive Bewusstsein der Europäer eingeprägt, wie die solidarische Mobilisation in ganz Europa gezeigt hat. Man könnte argumentieren, dass dies vielleicht einer der positiven Effekte der Staatsschuldenkrise sein könnte!
Und schließlich, soll sich Griechenland für bankrott erklären? Die quälendste Frage in so vielen Köpfen! Es gibt keine klare Antwort darauf. Die Folgen eines griechischen Bankrotts können nur ex post festgestellt werden. Das sind ungelegte Eier. Dennoch, wenn das, was im Moment passiert, noch lange so weiter geht, wird das Leben für die Mehrheit der Griechen vielleicht so untragbar werden, dass sie sich möglicherweise für einen Bankrott entscheiden und wahrscheinlich aus dem Euro austreten werden.
Übersetzung: Alan Ruben van Keeken/Melusine Preusse
[1] Vgl. M. Vernengo, und E. Perez-Caldentey, The euro imbalances and financial deregulation: A post Keynesian interpretation of the European debt crisis, Real-World Economic Review, Issue no. 59, 2012; E. Stockhammer, Greek debt and German wages – The role of wage policy and economic policy coordination in Europe, paper presented at the conference „Economic policy: in search of an alternative paradigm’, Middlesex University, Dec. 2010; E. Tsakalotos, Contesting Greek exceptionalism: the political economy of the current crisis, Univ. of Athens, Dec. 2010.
[2] M. Best, Productive structures and Industrial Policy in the EU, paper prepared for the EuroMemorandum 2012, May 2012.
[3] Best, a.a.O., S. 16.
[4] S. Amin, Implosion of the European System, in: Monthly Review, Sept. 2012.
[5] M. Hudson, TheRoad to Debt Deflation, Debt Peonage and Neofeudalism, WP No. 708, Levy Economics Institute of Bard College, February 2012.
[6] G. Stathakis, The fiscal crisis of the Greek economy, paper presented at the conference of the International Initiative for Promoting Political Economy (IIPPE), Sept. 2010.
[7] Stathakis, ebd.
[8] Amin, a.a.O., S. 2.
[9] E.C. Decision no 2009/415.
[10] Zum Beispiel stieg die Rendite auf griechische 10-Jahres-Staatsanleihen von 5.43% im Januar 2009 auf 12% im Mai 2010, 25% im Oktober 2011 and 84,7% im November 2011! Gegenwärtig liegt sie bei 28,7% (Oktober 2012).
[11] M. Frangakis, The puzzle of European integration: Will Greece be the first piece to fall through? Paper presented at the conference on ‘The Eurozone from Maastricht to 2020: A critique of a project and a trajectory’, organized by Coimbra University, April 2012.
[12] M. Wysplotz & J.A. Montecino, More pain, no gain for Greece, CEPR, February 2012.
[13] Angaben nach Eurostat. Vgl. F. Saraceno, Greek Tragedies, März 2012, sowie eig. Berechnungen.
[14] Ha-Joon Chang, The root of Europe’s riots, in: The Guardian, Sept 28, 2012.
[15] Zu den Juni-Wahlen 2012 vgl. Jannis Milios, Ökonomische Krise und politischer Wandel in Griechenland, in: Z 91, September 2012, S. 34ff. (Anm. d. Red.)
[16] Der früheste literarische Bezug auf den europäischen Mythos findet sich in Homers Ilias, normalerweise auf das 8. Jahrhundert v.u.Z. datiert.
[17] IMF, Economic Outlook, April 2012; CEE, European Economic Forecast, Spring 2012; OECD Interim Assessment, 6.9.2012.
[18] M. Wolf, Much too much ado about Greece, in: Financial Times, 14.2.2012.
[19] Der ESM wurde am 27. September 2012 etabliert mit einer maximalen Kapazität von €500 Mrd. Er wird die beiden bisher existierenden EU-Fonds, den EFSM (European Financial Stabilisation Mechanism) und den EFSF (European Financial Stability Fund), ersetzen, die aufgelegt worden waren, um Griechenland, Portugal und Irland finanziell zu stützen. Die Reform der Finanzpolitik hinkt in Europa den USA hinterher, während die Diskussion über eine Bankenunion gerade erst begonnen hat.