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Licht und Schatten auf den lateinamerikanischen Wegen der Transformation

Anmerkungen zu einer wichtigen neuen Publikation

Dezember 2012

In einer Zeit, in der die Debatte um die Perspektiven der lateinamerikanischen Linksregierungen – zumindest hierzulande – in den Hintergrund getreten ist und die verringerte Aufmerksamkeit auch mit gewissen Erschöpfungs- oder gar Stagnationstendenzen dieser Transformationsversuche zu tun zu haben scheint, muss jede aktuelle Publikation zu diesem Thema willkommen sein. Dies umso mehr, wenn es sich um sachkundige Beträge aus der Feder bekannter linker lateinamerikanischer Autoren handelt, die zum Teil selbst in diesen politischen Prozessen aktiv waren oder sind. Miriam Lang, Büroleiterin der Rosa Luxemburg Stiftung (RLS) in Quito/Ekuador und verantwortlich für die meisten Anden-Länder des Subkontinents, hat eine Reihe von Beiträgen zusammengestellt und übersetzt, die teilweise schon früher anderswo publiziert worden sind und auf eine von ihr anlässlich der Eröffnung des Büros im Jahre 2010 durchgeführte Konferenz zurückgehen. Zum Teil sind auch neue Beiträge hinzugekommen.[1]

Im Folgenden sollen die einzelnen Beiträge (nicht zuletzt wegen der Relevanz der Thematik und der Autoren) vergleichsweise ausführlich dargestellt und kommentiert werden. Dies ist zusätzlich dadurch begründet, dass der Tenor und die Schlussfolgerungen der Artikel die gegenwärtige politische und programmatische Orientierung der Lateinamerikaabteilung der RLS (bei der Auswahl ihrer Projekte, ihrer Partner, der Ausrichtung von Konferenzen, der eingeladenen Referenten etc.) ziemlich genau widerspiegelt. Insofern handelt es sich hier um mehr als um einen Sammelband zu einem interessanten Thema.

Neben der Einleitung der Herausgeberin sind drei Artikel eher allgemein gehalten und behandeln die für die neuen Verfassungen in Bolivien und Ekuador (teilweise auch in Venezuela) wichtigen Konzepte vom „Plurinationalen Staat“ und vom „Buen Vivir“ als eine von der kapitalistisch geprägten Lebensweise abweichende, ja ihr entgegen gesetzte Lebensmaxime. Im Weiteren finden sich jeweils zwei Beiträge zu Bolivien, Ekuador, Venezuela sowie Kuba.

Plurinationalität und Demokratie

Der portugiesische Rechtssoziologe Boaventura de Sousa Santos unterstreicht in seinem Beitrag, dass die Anerkennung von Plurinationalität eine bzw. die entscheidende Voraussetzung für eine tatsächliche Demokratie in vielen Ländern Lateinamerikas sei. Die Perspektive der Plurinationalität verändere unser Konzept von Demokratie, von Partizipation und von Sozialismus, da sie nicht nur eine Konfrontation mit dem Kapitalismus, sondern ebenso mit dem Kolonialismus impliziere. Schon sehr früh – aber dann auch im gesamten weiteren Text – streut der Autor Wortspiele ein, die als relativ inhaltsleer bezeichnet werden müssen. Eine Kostprobe: „Es ist genauso schwierig, sich sein (des Kolonialismus, D.B.) Ende vorzustellen, wie es schwierig ist, sich vorzustellen, dass er kein Ende haben könnte…“ (18). Unvermittelt wird eine „Überwindung der progressiven eurozentrischen Theorie“ postuliert, wobei in einem Nebensatz eingeräumt wird, dass das westliche Denken auch nicht vollständig „monolithisch“ sei. Das Konzept der „Plurinationalität“ verstehe unter „Nation“ eine ethnisch-kulturell geprägte Zugehörigkeit, kollektive Formen des Bürgerseins und einen „Konstitutionalismus von unten“, der im Unterschied zum modernen (westlichen) Konstitutionalismus nicht ein „Produkt der Eliten“ sei und zugleich ein Nebeneinander von Gleichheit und Differenz kenne. (Gab es im europäischen Konstitutionalismus – vom 18. bis zum 20. Jahrhundert – nicht auch eine Schubkraft und Mitwirkung der Massen beispielsweise in Frankreich, Italien, Deutschland?) Sodann folgen Breitseiten gegen das Konzept der „Entwicklung“, freilich ohne jegliche Bezugnahme auf theorie- und ideengeschichtliche Kontexte.[2] Santos behauptet, „Ziel der Entwicklungsidee sei es, dass es Unterentwicklung gibt“ (21), und diese sei „eine Maschine des Vergessens, die in der Geschichte der Moderne ihresgleichen sucht“ (21). Diesem Vergessen wird im „plurinationalen Sozialismus“ bzw. „transformatorischen Konstitutionalismus“ auf allen Ebenen entgegen gearbeitet und nicht nur die Idee der wirtschaftlichen und sozialen Gerechtigkeit – wie in der defizitären eurozentrischen politischen Theorie –, sondern auch die Idee der kognitiven Gerechtigkeit (Gerechtigkeit zwischen verschiedenen Wissensformen), die ontologische Gerechtigkeit (Gerechtigkeit zwischen verschiedenen Arten) und die historische Gerechtigkeit (gegen jegliche Diskriminierung aus der Vergangenheit) entgegengestellt. Diese Konzepte bleiben allerdings unerhellt.

Santos behauptet des weiteren, dass „Kritische Theorie immer progressiv“ (im Sinne von zukunftsorientiert) sei, und es falle ihr „schwer, zurückzublicken“ (21). Man fragt sich, welche Kritische Theorie Santos hier meint; normalerweise ist kritische Theorie gerade von einem ausgeprägten historischen Bewusstsein durchdrungen. Plurinationalität zeige, dass es verschiedene Arten von Demokratie gebe (repräsentative, partizipative und kommunitäre Demokratie), die allesamt notwendig seien und in unterschiedlichen Kombinationen zur Wirksamkeit gelangen müssten.

In Lateinamerika gebe es gegenwärtig drei Regierungen, die sich als revolutionär bezeichneten (in Venezuela, Bolivien und Ekuador). Diese repräsentierten „eine Revolution neuen Typs, die im Widerspruch zur ‚eurozentrischen Kritischen Theorie’ nicht Revolution und Demokratie gegeneinander stellt, sondern beides beinhaltet.“ (23) Auch diese – nicht näher begründete Aussage – überrascht, da doch viele bürgerliche oder sozialistische Revolutionsversuche gerade als Ausdruck höherer Formen von Demokratie verstanden wurden.

Der Beitrag endet mit der Forderung, dass unterschiedliche Formen von Demokratie miteinander zu kombinieren seien und eine definitive Entkolonialisierung sowie „Bündnisse mit indigenen Weltanschauungen“ damit einhergehen werden müssten. Man fragt sich, ob es sich hier um einen integralen Artikel von B. de Sousa Santos oder bloß um eine Zusammenstellung von diversen, verstreuten Bemerkungen aus unterschiedlichen Beiträgen handelt. Es erstaunt sehr, dass ein so geschätzter Autor, der sicherlich anderswo bedeutende Beiträge vorgelegt hat (und der bei der RLS hoch im Kurs steht), in diesem Sammelband mit einem solchen Artikel vertreten ist.

„Buen Vivir“

Der folgende Beitrag von Eduardo Gudynas (28-45) über das Konzept des „Buen Vivir“ ist in sehr ähnlicher Form an verschiedenen anderen Orten (nicht zuletzt in einer gleichnamigen Broschüre der RLS) bereits veröffentlicht worden. Der Autor, ein uruguayischer Sozialökologe, bemüht sich zu zeigen, welche verschiedenen Inhalte das andine (sowohl bei den Ketschuas wie auch den Aymaras) bekannte Konzept des „sumak kawsay“ enthält. Dieses Konzept sei nicht nur eine Reaktion auf die „westliche“ Vorstellung von Entwicklung und Moderne, sondern biete zugleich eine Alternative dazu. Trotz vielfältiger Inhalte und Definitionen und trotz des sich im Ausbau befindlichen Konzepts ließen sich bereits einige Fixpunkte benennen: Geringe Bedeutung materieller Güter, Leben in Harmonie mit der Natur und Gesellschaft etc. Vor allem enthält dieses Konzept die Negation all dessen, was als typisch „westlich“ und der „Moderne“ entstammend begriffen wird. Dabei wird vom Bannstrahl der Negation sehr Unterschiedliches und dies ziemlich undifferenziert getroffen: Materielle Güter, Konsum, Eigentum, Entwicklung, Fortschritt, „westliche Wissenschaft“, Rohstoffabbau („Extraktivismus“) usw. – Gudynas räumt am Rande ein, dass „das europäische Denken“ auch nicht völlig homogen sei, aber auch mit dem „Sozialismus marxistischer Prägung“ habe das Konzept des „Buen Vivir“ höchstens einige Berührungspunkte, da der Sozialismus schließlich Produkt der europäischen Moderne sei und deren Vorherrschaft zu brechen sei (35). Das Konzept des „Buen Vivir“ positioniere sich jenseits von Kapitalismus und Sozialismus.

Die entscheidende Frage einer politischen Theorie und Analyse, ob das Konzept des „Buen Vivir“ mehr als ein abstraktes, quasi-philosophisches Leitbild für eine ferne Zukunft sein kann und ob aktuell dieses Konzept und seine Kategorien zur Analyse der gegenwärtigen Klassengesellschaften Lateinamerikas, der Gesetzmäßigkeiten der jeweiligen Wirtschaftsstrukturen, der politischen Institutionen und ideologischen Muster und Diskurse beizutragen vermag, wird ebenso wenig gestellt, wie über Einzelschritte im Übergang zur Verwirklichung des Konzepts des „Buen Vivir“ nachgedacht wird. Von daher müssen sehr viele Ausführungen dazu als spekulativ und abstrakt und in ihrer politischen Relevanz als sehr eingeschränkt nützlich qualifiziert werden. Dies wird auch nicht dadurch wesentlich korrigiert, dass Gudynas dem Staat eine zentrale Rolle bei der Umsetzung dieses Konzepts einräumt (42). Allerdings dürfe dieser seine Ressourcen nicht aus dem Rohstoffexport beziehen. Woher die Mittel kurz- und mittelfristig kommen sollen, verrät der Ökonom allerdings nicht.

Auf die Vieldeutigkeit und die Inkonsistenz dieses Konzepts hat erst kürzlich Pablo Stefanoni (2012) hingewiesen.[3] Zu Recht unterstreicht er, dass die aus indigenen Kosmovisionen stammenden Vorstellungen kaum mit den Erfahrungen/Problemen der real existierenden Indigenen und ihren Gemeinschaften verbunden sind und Probleme der Arbeitswelt, der Technologie, der Innovationen, der Märkte, der sozialstaatlichen Infrastrukturen fast völlig ausgeblendet bleiben. Ob „die Indigenen“, denen dieses Konzept zugeschrieben wird, wirklich so denken, sie z.B. Evo Morales wegen des „Buen Vivir“-Konzepts gewählt haben; was mit den vielen Mestizen und der nicht kleinen Minderheit der „Weißen“, mit den Städtern passieren soll in einer konstruierten Welt ländlicher Idylle – all das wird auch durch das häufige und stereotype Wiederholen „der Prinzipien der Komplementarität und Reziprozität“ keineswegs plausibler.

Kommunitärer Sozialismus

Raúl Prada, ehemaliger bolivianischer Vizeminister für „Strategische Planung“ und Professor für Sozialwissenschaften und Philosophie – jetzt scharfer Kritiker der Regierung von Evo Morales – setzt sich in seinem Beitrag mit dem Verhältnis von „kommunitärem Sozialismus und plurinationalen Staat" in Bolivien auseinander (46-62). Er möchte die Staatstransformation in Bolivien untersuchen und zugleich richtungsweisende Empfehlungen für den Weg zu einem „kommunitären Sozialismus“ aussprechen. Seine „Analyse“ beginnt mit einem Paukenschlag: Der Untergang der neoliberalen Regierung von Sánchez de Lozada im Oktober 2003 implizierte – seiner Auffassung nach – „auch den katastrophalen Zusammenbruch des Kolonialismus, Liberalismus, der Modernität und des Kapitalismus“ (48). Damit sei der Weg frei gewesen für eine Neugründung des Staates. Diese bestehe wesentlich in der „Wiederherstellung des Kommunitären“ und der „uralten pluralen Formen der Institutionen“. Dies impliziere die „Anerkennung der Existenz ursprünglicher, bäuerlicher und indigener Nationen und Völker vor der Kolonialzeit“ (48). Der damit verbundene „institutionelle Pluralismus“ beinhaltet auch einen „Pluralismus der Verwaltung und der Normen“ (50) zwischen den vielfältigen „Nationen und Völkern“. Wie diese sehr aufwendige und „radikale Form verwaltungspolitischer Dezentralisierung“ funktionieren soll und wie die (national-)staatliche Einheit außerdem aufrecht erhalten bleiben soll, wird leider nicht näher thematisiert. Stattdessen werden schöne Zukunftsgemälde entworfen. Die verschiedene Bereiche und Sektoren umfassende Ökonomie des „plurinationalen Staates“ soll den „Sprung einer technologischen Revolution“ mit der „Wiederbelebung und Nutzung alter, überlieferter Techniken und Wissensformen“ verbinden, „wobei all dies in Harmonie mit der Natur stattfinden soll“ (51). Diese idyllischen Gedanken für die Zukunft des Landes – die ohne jegliche Realanalyse der bestehenden Klassenverhältnisse und der Funktionsmechanismen der gegenwärtigen Ökonomie auskommen – werden durch Warnungen darüber ergänzt, dass die aktuelle Regierung vom richtigen Weg abkommen könnte und damit „der alte Staat mit seinen Strukturen und Institutionen“ (53) wieder auferstehen könnte. Nur eine tief greifende Kulturrevolution, die einen Angriff auf „die Bräuche der Partei, der Regierung und des Staatsapparats“ (54) einschließt, könne dem entgegen arbeiten. Im Übrigen soll diese die Entkolonialisierung, die Entbürokratisierung, den Pluralismus, die Partizipation etc. vorantreiben sowie eine „neue Art von Gouvernementalität erfinden, die von den Massen gestaltet wird“ (55). Der dominante Diskurs (der Regierung Morales) sei „modernistisch, fortschrittlich, auf Entwicklung ausgerichtet, rationalistisch“ und von der Annahme ausgehend, „dass es nur eine einzige Zivilisationsform“ gebe, wobei „alle anderen als subalterne Kulturen verworfen werden“ (55). Diese Behauptung wird weder belegt, noch wird begründet, warum einerseits von Zivilisationen, andererseits von Kulturen die Rede ist. Das alles wird noch mit Gedankenfetzen und Termini von Foucault, Baudrillard etc. „gewürzt“ und zu einem eigenartigen compositum mixtum verarbeitet. Interessant ist, dass in diesem Falle die sonst per se verdächtigen „europäischen“ bzw. „eurozentristischen Denker“ nicht nur Gnade finden, sondern sogar als intellektuelle Gewährsleute herangezogen werden.

Am Ende fasst er noch einmal zusammen, was ein „kommunitärer Sozialismus“ alles enthalten soll: Egalität, keine Klassen; Gerechtigkeit; Freiheit; Abschaffung der Ausbeutung der Arbeitskraft; „breitest mögliches Partizipationsniveau und Bildung der neuen sozialen Subjekte“ (59); neue Form des Politikmachens, Rückgriff auf kommunitäre Praktiken der Reziprozität, des Schenkens etc. – all das und noch mehr müsste natürlich weltweit geschehen (57, 59). „Das Konzept des Staates im Übergang und das Konzept des staatlichen Übergangs zur kommunitären, autonomiebasierten Plurinationalität müssen von der Episteme der Komplexität und Pluralität aus gedacht werden.“ (62). Eine letzte Kostprobe dieser Wortgewalt sei noch zitiert: „Dem Leben das Leben zurückgeben, es dem abstrakten, systemischen Denken entreißen, das in der Starre der teleologischen Rationalitäten gefangen ist, das Denken selbst befreien, zulassen, dass es sein eigenes Potential und seine eigene Kreativität ausschöpft, die dem Leben innewohnt und über es hinausweist. Sprechen wir also von einem lebendigen Denken.“ (56)

Konflikte in Bolivien

Dunia Mokrani, Politologin und RLS-Projektkoordinatorin in Bolivien, konzentriert sich in ihrem – in ähnlicher Form schon bei der RLS publizierten – Beitrag auf Konfliktszenarien in der zweiten Amtszeit von Präsident Evo Morales (63-80). Hierbei beschreibt sie vor allem die überraschende Benzinpreiserhöhung um den Jahreswechsel 2010/11, einen Regionalkonflikt in Potosi um die von der Regierung versprochene Ansiedlung von Industriebetrieben, die Auseinandersetzungen mit der Arbeiterzentrale COB um Lohnfragen sowie den sog. TIPNIS-Konflikt, bei dem es um den Bau einer Überlandstrasse durch indigene Gebiete und Naturschutzterritorien geht. Alle diese Konflikte trugen sich in den Jahren 2010 und 2011 zu bzw. sind bis heute nicht entschieden. Die Verfasserin, die ebenfalls als scharfe Kritikerin der Regierung Morales hervorgetreten ist, äußert die Befürchtung, dass die gegenwärtige bolivianische Regierung immer stärker von ihren Versprechen und Programmatiken abweichen und sogar die in der neuen Verfassung niedergelegten Prinzipien verletzen könnte. Sehr kurz geht sie auf „kollektive Errungenschaften“ während der zweiten Amtszeit von Evo Morales ein (76f.) und skizziert ebenso knapp eine alternative Sicht der Konflikte, wie sie beispielsweise der Vizepräsident Àlvaro García Linares interpretiert, nämlich als „kreative Spannungsfelder im Prozess des Wandels“ (78f.). Mokrani beklagt eine „fehlende Dialogbereitschaft“ der Regierung, die sogar zur Diffamierung früherer Mitstreiter greife, die NGOs pauschal verteufle und nicht bereit sei, ihre Position zu relativieren. Unerwähnt bleibt allerdings, dass die Regierung in den meisten der angeführten Konflikten Irrtümer zugegeben und einige Korrekturen begonnen hat.[4]

Offen bleibt, warum es zu dieser Entwicklung gekommen ist und welche gesellschaftlichen, ökonomischen oder politischen Ursachen sie hat. So jedoch kann beim Leser/bei der Leserin leicht der Eindruck entstehen, dass moralische oder charakterliche Defizite der gegenwärtigen bolivianischen Regierung sie von ihrem ursprünglichen Kurs abgebracht hätten.

Patricia Chávez, bolivianische Soziologin und engagiert in Frauenprojekten, versucht in ihrem Beitrag (81-91) die Kluft zwischen Anspruch/Diskurs einerseits und den realen Handlungsmöglichkeiten andererseits, vor allem von weiblichen indigenen Abgeordneten im bolivianischen Parlament, aufzuzeigen und zu erklären. Dabei verweist sie auf fortwirkende objektive, kulturelle und subjektive Schranken des immer noch „kolonialen, patriarchalen und rassistischen Staates“, die zwar verringert, aber längst noch nicht überwunden werden konnten. Sie lässt durchblicken, dass der „neu gegründete“ Staat noch so viele Kontinuitätsmomente zum alten aufweist, dass weniger „mit ihm“ als „gegen ihn“ Erfolge im Emanzipationskampf der subalternen, kolonialisierten und patriarchalisch beherrschten weiblichen Trägerinnen des Transformationsprozesses zu erwarten sind. Skeptisch resümiert sie: „Der Staat lässt sich also weder fragmentieren noch entkolonisieren, sondern er fragmentiert und kolonisiert seinerseits die Kräfte, die ihn in Frage stellen.“ (89) Daher plädiert sie dafür, die Achse der Diskussion zu verlagern. Nicht mehr gehe es darum zu fragen, „was der Staat tut, sondern darum, was die Gesellschaft tut, um die staatlich gesetzten Horizonte zu überschreiten“ (90). Daher müssten in der anstehenden Transformation „autonome soziale Räume“ geschaffen oder zurückerobert werden, um von dort aus „Strategien, Agenden und Problematiken, unabhängig vom staatlichen Blick und den theoretischen und praktischen Bedürfnissen des Staates“ (91) zu entwickeln und durchzusetzen. Die Frage bleibt allerdings, ob es analytisch und politisch sinnvoll ist, eine derartig rigide Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft, die in dieser Form in Bolivien nie bestand und im augenblicklichen Veränderungsprozess gerade permanent in Frage gestellt wird, ohne Weiteres wieder zu beleben und damit eine Gegnerschaft auch zwischen dem (zumindest dem Anspruch nach) neu gegründeten Staat und der Gesellschaft zu konstruieren.[5]

Defizite partizipativer Demokratie: Ekuador, Venezuela, Kuba

Pablo Ospina, Dozent an der Universidad Andina Simón Bolívar in Quito, beschreibt in seinem Beitrag (92-115) ausführlich die vielfältigen ökonomischen und sozialen Fortschritte der Regierung Rafael Correas in Ekuador, bemerkt allerdings, dass auf einigen Feldern, wie z.B. der Agrarreform eine gewisse Stagnation zu beobachten sei. Im zweiten Teil seines Artikels setzt er sich mit der Frage der Ausweitung demokratischer Partizipation auseinander und kommt zum dem Ergebnis, dass es die Regierung – entgegen den ursprünglichen Versprechen und entgegen den entsprechenden Passagen der neuen Verfassung – darauf anlege, die partizipativen Elemente zu begrenzen und zu kontrollieren. Dagegen werden seiner Auffassung nach die repräsentativ-demokratischen Momente wesentlich stärker als ursprünglich intendiert nun akzentuiert. Die damit verbundene hohe Machtkonzentration bei der Regierung sei anfangs notwendig gewesen, „weil eine schwache Regierung, vor allem eine Minderheitsregierung, in den Netzen der traditionellen Macht gefangen geblieben wäre… Aber anstatt nun diese Macht zur Stärkung möglicher Verbündeter aus dem Volk für ihr langfristiges Projekt einzusetzen, hat sie sich von ihnen entfernt. Es ist eine Bürgerrevolution, die bisher ohne die Bürger/innen abläuft.“ (115) Diese Deformation führt Ospina auf die „zeitweilige Hegemonie der intellektuellen Mittelschicht in der Regierung“ sowie auf die große „persönliche Autorität des Präsidenten“ zurück. Allerdings sei dies eine Hegemonie, die auf tönernen Füßen stehe, weswegen ein derartiges „politisches Projekt ohne gesellschaftliche Akteure schon kurzfristig tot sein wird“ (115). Es fällt auf, dass diese sehr pessimistische Einschätzung der Perspektiven der Regierung Correa mit den immer noch hohen Popularitätswerten des Präsidenten – trotz vieler wahrscheinlich zutreffend aufgezeigter Defizite der „Bürgerrevolution“ – kontrastiert und daher diese Prognose möglicherweise nicht eintreten wird.

Floresmilo Simbana, Jurist und Historiker, an der Universidad Central del Ecuador lehrend und ehemaliges Mitglied des nationalen Führungsgremiums des indigenen Zentralverbandes CONAIE, beschäftigt sich mit der indigenen Bewegung seines Landes in ihrem Verhältnis zu den jeweiligen Regierungen seit der bewegten Zeit um die Jahrhundertwende (116-127). Dabei zeigt er auf, dass die indigene Bewegung des Landes, insbesondere die Dachorganisation CONAIE, bis ca. 2005/06 an allen anti-neoliberalen Bündnissen in zentraler Weise beteiligt war. Er vermerkt aber auch eine eigentümliche Dialektik: “Diese großen Organisationsstrukturen wurden in dem Maße, in dem sie ihre größten Siege errangen, zunehmend schwächer.“ (118) Den Hauptgrund sieht er in einer diffusen und gelegentlich nach rechts ausfransenden Bündnispolitik, die seit der Jahrhundertwende eine wachsende Distanzierung von ländlich-indigenen und städtischen Bewegungen mit sich brachte. Gleichwohl gelang es noch 2006 eine „strategische Niederlage des Neoliberalismus und des hegemonialen Blocks, der ihn stützte“ (119), herbeizuführen. In dieser Konstellation wird der Aufstieg R. Correas mit seiner (im Wesentlichen von urbanen Mittelschichten getragenen) Alianza País möglich. Der Verfasser gibt einerseits eine Krise und (zeitweilige) Spaltung der indigenen Dachorganisation CONAIE zu (121ff.), beteuert aber andererseits, dass diese durch die „Konfrontationen der Regierung Rafael Correas entstanden“ (126f.) seien und zudem propagandistisch übertrieben würde. Die ablehnende Haltung der CONAIE und ihrer Basis zur Volksbefragung vom Mai 2011 nimmt er als Beweis für die wieder solide Verankerung dieser Organisation, die seiner Auffassung nach wesentlich authentischer und glaubwürdiger als die Regierung „eine Gegenposition zum internationalen Kapital“ (127) repräsentiere. Eine wirkliche Analyse der Konflikte zwischen der Regierung und der CONAIE unterbleibt aber, die einzeilige Erwähnung der neuen „Bergbau- und Wassergesetze“ (124) reicht sicher dazu nicht aus.

Andrés Antillano, Stadtteilaktivist in Caracas, versucht neue Formen der Volksbeteiligung und ihre Widersprüche im „bolivarischen Venezuela“ zu analysieren (128-135). Nach einem kurzen historischen Rückblick auf die Vor-Chávez Ära beschreibt er einige Ebenen der Volksbeteiligung (z.B. Fachrunden über Wasserversorgung, Gesundheitsausschüsse, Wohnungs- und Bildungskommissionen, Partizipation an der Raum- und Sektorpolitik, Selbstregierung und lokales Management usw.). Dabei kommt es seiner Auffassung nach fast überall zu Spannungen und Widersprüchen zwischen dem Ziel des Aufbaus eines veritablen Sozialismus der Selbstregierung des Volkes einerseits und der Stärkung bzw. Wiederbelebung eines alten Modells des Staatskapitalismus (unter einem „neuen progressiven Mantel“) andererseits. Diese Spannungen können sich – je nach Aktionsfeld – auf vielfältige Weise äußern, und es ist gelegentlich nicht sofort sichtbar, in welche Richtung bestimmte Maßnahmen/Aktionen führen. Der Verfasser scheint der Auffassung zu sein, dass jede Form von „Institutionalisierung“ fast zwangsläufig „auf Kosten der eigenen Autonomie und der politischen Initiative der Basis“ (134) geht. Die Beobachtung dieser Spannungen ist zweifellos zutreffend, ihre Analyse wird aber in dem knappen und sprachlich etwas unübersichtlichen Text nicht weiter getrieben, wenn der Verf. beispielsweise von der „Einforderung des Mehrwerts der kollektiven Produktion“ (132), von „verschwiegenen Thesen“ (133), von einer „Annäherung der Beziehungen zwischen Staat und Volksbasis“ (134) und von einem „Machtkampf zwischen Basis und der Elite des Staates“ (131) spricht.

Edgardo Lander, Soziologieprofessor an der Universidad Central de Venezuela und Aktivist der amerikanischen und venezolanischen Sozialforenbewegung, untersucht das aktuelle „venezolanische Dilemma“ als Konflikt zwischen „Staatszentrismus und Personenkult“ einerseits und „mehr Demokratie und Partizipation“ andererseits (136-152). Lander geht davon aus, dass „das Projekt der bolivarianischen Transformation in einer ernsten Krise steckt“ (136), was sich seiner Meinung nach nicht zuletzt an den Ergebnissen der letzten Parlamentswahlen (2010) festmacht, bei denen die Parteien der vereinigten Opposition bereits mehr Stimmen erhielten als die dem Regierungsblock zugehörigen. Auf die darauf einsetzende selbstkritische Diskussion wurden jedoch Antworten gegeben, die nicht in Richtung einer geforderten Kollektivierung von Entscheidungsprozessen, von Demokratisierung und Öffnung von Diskussionsräumen wiesen, wie an den noch – nach der alten Parlamentszusammensetzung – verabschiedeten Gesetzen sichtbar wird (139-143). Dadurch sei die von Chávez angekündigte „Radikalisierung“ des Prozesses als weitere Konzentration von Entscheidungsmacht, Personalisierung und Entdemokratisierung missverstanden worden, und es drohe die Tendenz, dass „die Kontrolle über den Staat und vom Staat aus immer wichtiger … als Demokratie und Partizipation“ werde (144). Dabei kam es aber gelegentlich zu „paradoxen“ Situationen insofern, als just unter dem – zuvor kritisierten – „Ermächtigungsgesetz“, welches das Parlament für mehr als ein Jahr lang ausschaltete, gerade auch von sozialen Bewegungen entworfene Gesetze verabschiedet wurden (146). Trotz aller sozialer, rechtlicher, kultureller und partizipativer Fortschritte (z.B. hat Venezuela die Armutsquote in den letzten zehn Jahren um 20% reduziert und das Land weist mit 0,39% Gini-Koeffizient die geringste sozi-ökonomische Ungleichheit in Lateinamerika auf) hätten diese Prozesse insgesamt – so das m.E. sehr harte und nicht ganz nachvollziehbare Urteil Landers – „zur Stärkung der Herrschaftsstrukturen geführt…, die den bürgerlichen Staat reproduzieren und zwangsläufig die wahren Möglichkeiten für eine politische Emanzipation der Bevölkerung und seine Eroberung der Souveränität bremsen.“ (147). Die vielfältigen von Lander aufgezeigten Ambivalenzen des Prozesses stehen ziemlich deutlich im Kontrast zu dieser apodiktischen Einschätzung, was keineswegs heißen soll, das Vorhandensein von vielen defizitären und deformierten Momenten des „bolivarianischen Prozesses“ (wie z.B. Bürokratismus, Sektierertum, Korruption und Klientelismus als systematischer Kooptationsmechanismus, geringe Planungskapazität, große Diskontinuität in personeller und sachlicher Hinsicht, mangelnde Effizienz, Verschwendung etc.) zu bezweifeln wäre. Vielmehr steht zur Debatte, ob es noch genügend Impulse und Korrekturpotentiale in diesem Prozess gibt, die sich auch Geltung verschaffen können. Gerade einige von Lander selbst beschriebenen Kräfte und Bewegungen in der letzten Zeit (zum Beispiel die große linke Sammelbewegung Gran Polo Patriótico und die Haltung der PCV) stellen in dieser Hinsicht positive Erscheinungen dar, die den vollständigen Pessimismus und die totale Enttäuschung über den Verlauf des bisherigen Revolutionsprozesses wohl etwas relativieren (148ff.) Aber sicherlich ist Lander darin zuzustimmen, dass der Ausgang der Präsidentschaftswahlen im Oktober 2012 sowie der weitere Fortgang des bolivarianischen Prozesses vor allem an der Frage von „institutionalisierten kollektiven Führungsmodalitäten“ (150), an der „Transformation der Produktion“ (152) und einer echten Demokratisierung mit entsprechenden, dauerhaften „Kontrollen von unten“ entschieden wird.

In seinem Beitrag (153-165) stellt Aurelio Alonso, Soziologe an der Universität La Habana, Essayist , Gründer und Redakteur vieler führender kubanischer Zeitschriften, Reflexionen zum Verhältnis von Souveränität und Demokratie an, vor allem in Bezug auf Kuba, und unterstreicht, dass Souveränität im weitesten Sinne eine unabdingbare Voraussetzung für Demokratie sei und das Ringen um Souveränität „ein ständiger Kampf“ (154), der nicht bloß mit einem Sieg gegen imperialistische Aggressoren ein für allemal zu erreichen sei. Er diskutiert Vor- und Nachteile der besonderen kubanischen Ansätze zu direkten, partizipativen Demokratieformen während der letzten 50 Jahre. Deren Verwässerung oder Deformation führt er auf einen zu geringen Grad der Institutionalisierung einerseits und auf die zu starke Anlehnung an das „formalistische sowjetische System“ (161), andererseits zurück, das in vieler Hinsicht bis heute noch nachwirke. Er schlussfolgert und wünscht für die Zukunft Kubas, dass die bislang vorherrschende „charismatische Legitimität allmählich von der institutionellen Legitimität abgelöst“ (162) werde. Damit könnte zugleich der „Übergang von einem gescheiterten Sozialismus zu einem nachhaltigen Sozialismus“ (164) erleichtert werden.

Der zweite und abschließende Beitrag (166-180) zu Kuba („Warum ist Kuba für die Linke zu einem schwierigen Problem geworden?“) wurde ebenfalls von Boaventura de Sousa Santos schon 2009 verfasst und von der RLS bereits anderswo publiziert.

Er geht davon aus, dass revolutionäre Prozesse getragen seien von zwei Polen, die „im Gleichgewicht“ stehen müssten: Widerstand und Alternativen. Letzteres sei in Kuba immer zu kurz gekommen, weil fast immer in seiner über 50-jährigen Revolutionsgeschichte der Widerstand im Vordergrund gestanden habe. Ein zweites zentrales Spannungsfeld sieht er zwischen dem Pol des „revolutionären Charisma“ einerseits und dem „reformistischen System“ andererseits, worunter er offenbar das bürokratische und reproduktive Alltagsgeschehen meint. Wenn erstes zu dominant sei, könne zweites sich nicht durchsetzen, weswegen wichtige Erfolgsbedingungen des revolutionären Prozesses wegfielen. Mit diesem vergleichsweise schlichten, im Einzelnen nicht weiter diskutierten schematischen Koordinatensystem versucht er die historische Komplexität der Kubanischen Revolution in einen theoretischen Rahmen zu pressen, der von einigen Autoren zu Recht hinterfragt wurde. Seine griffige Formel lautet: „Die beiden Seiten des ‚schwierigen Problems’ – mangelndes Gleichgewicht zwischen Widerstand und Alternative und zwischen Charisma und System – sind eng miteinander verbunden. Die Prävalenz des Widerstands über die Alternative war zugleich Produkt und Hersteller der Prävalenz des Charisma über das System.“ (170) Die Therapie sieht er in der Nutzung der Erneuerungserfolge „der sozialistischen Linken in den letzten fünfzig Jahren“ (171). Das wachsende Auseinanderklaffen zwischen Theorie und Praxis habe im Süden dazu geführt, dass vollzogene Praktiken mit einer Art „Nachhuttheorie“ (171) post festum erklärt oder legitimiert wurden. Ein „demokratisch kontrolliertes Experiment“ mit zeitlichen Grenzen solle zum neuen „institutionellen Schaffensprinzip“ (178) neuer alternativer sozialistischer Formen gemacht werden. Auch hier finden sich neben interessanten und anregenden Gedanken auch kaum überzeugende Aussagen, wie z.B. diese: „Erstens leben wir in einer Zeit, in der die Vorstellung, dass es zum Kapitalismus keine Alternativen gibt, den höchsten Akzeptanzgrad seit Beginn des Weltkapitalismus erreicht hat.“ (179) Eine Behauptung, die nach aktuellen Befragungen in vielen Ländern – mit gegenteiligen Resultaten – wohl schwer aufrecht zu erhalten ist.

Fazit

Alles in allem weist der von Miriam Lang herausgegebene Sammelband Licht und Schatten auf.

Positiv ist auf jeden Fall die Sammlung von Beiträgen lateinamerikanischer Autoren zu den linken Transformationsprozessen in Lateinamerika. In einigen Artikeln werden wichtige Informationen vermittelt und bedenkenswerte Kritikpunkte vorgebracht.

Als nachteilig kann empfunden werden, dass alle Analysen mehr oder weniger die gleichen problematischen Aspekte und Themenbereiche – in unterschiedlicher Schärfe – behandeln: Alle Beiträge durchzieht ein – nicht immer sehr differenzierter – Anti-Etatismus (gelegentlich kombiniert mit einem Anti-Parteienimpetus), eine Akzentsetzung auf Kritik am (Neo-)Extraktivismus, die allseitige Betonung der Philosophie des „buen vivir“ etc. bei gleichzeitiger – fast völliger – Ausblendung wichtiger Dimensionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit:

- Auf die Analyse ökonomischer und sozialstruktureller Tendenzen wird weitgehend verzichtet.

- Die außenwirtschaftlichen Zwänge und außenpolitischen Bedrohungsszenarien kommen praktisch nicht vor.

- Die nach wie vor spürbare Existenz der herrschenden Klassen in den jeweiligen Ländern, ihre mediale Übermacht und kulturelle Dominanz sowie ihre internen und externen Bündnispartner in ihren Oppositionsstrategien tauchen in keinem der Beiträge wirklich auf, so dass sich von alledem losgelöst trefflich vom „guten Leben“ philosophieren lässt.

Die Einseitigkeit in der Auswahl der Themen und der AutorInnen (die kaum voneinander abweichende Positionen aufweisen) sowie die geringe Themenbreite sind offenkundig. Damit könnte die Publikation eher zu einer weiteren Polarisierung der Standpunkte in den betroffenen Ländern beitragen, anstatt einen Raum für plurale Diskussionen anzubieten und bei der Suche nach Gemeinsamkeiten – bei allen Differenzen – mitzuwirken. Es ist auch befremdlich, dass bei einigen Autoren und Autorinnen ein tiefer Gegensatz zwischen progressivem, alternativem Denken und sozialistisch-marxistischen Strömungen in Europa und ihren eigenen Positionen konstruiert wird, ohne entsprechende Denkansätze der Vergangenheit und Gegenwart ausreichend zur Kenntnis zu nehmen. Dieser Eindruck wird auch nicht wesentlich dadurch korrigiert, dass gelegentlich vereinzelte Begriffe europäischer postmoderner Autoren adaptiert werden.

So kann sicherlich nur eingeschränkt von einem geglückten Auftakt der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit den aktuellen Transformationstendenzen in Lateinamerika gesprochen werden. Um Missverständnissen vorzubeugen: Nicht die in vielen Punkten notwendige Kritik an einzelnen Trends und Regierungsaktivitäten unter den gegenwärtigen Mitte-Links-Regierungen in Lateinamerika ist das Manko vorliegender Publikation, sondern ihre inhaltliche und theoretische Einseitigkeit in der Analyse gesellschaftlicher Prozesse. Es wäre wissenschaftlich wenig befriedigend und politisch nicht überzeugend, wenn die Position der RLS zur aktuellen Entwicklung in Lateinamerika nur durch eine Publikation wie dieser umrissen bleiben würde.

[1] Miriam Lang (Hrsg.), Demokratie, Partizipation, Sozialismus. Lateinamerikanische Wege der Transformation [Rosa Luxemburg Stiftung, Reihe Manuskripte, 96], Dietz Verlag, Berlin 2012, 180 S., 12,90 Euro.

[2] Fast alle Autoren und Autorinnen des Sammelbandes geben sich als Anhänger des “Post-Developmentalism” zu erkennen, also jener Richtung, die, programmatisch formuliert, nicht eine „alternative Entwicklung“, sondern „Alternativen zur Entwicklung“ postuliert. Dabei wird dem Konzept „Entwicklung“ per se eine teleologische, eurozentristische, kapitalismusapologetische Konnotation zugewiesen. Dass es eine Tradition marxistischen entwicklungstheoretischen Denkens gibt, für die all diese Zuordnungen keineswegs zutreffen, wird ignoriert oder geleugnet. So z.B. scheinen die entwicklungstheoretischen Arbeiten von K.H. Tjaden, R. Kößler, G. Hauck u.a. nicht bekannt zu sein.

[3] Pablo Stefanoni, ¿Y quién no querría ”vivir bien”? Encrucijadas del proceso de cambio boliviano, in: Crítica y Emancipación, (7): 9-25, primer semestre de 2012.

[4] Inzwischen findet eine Volksabstimmung bezüglich der Überlandstraße im TIPNIS-Konflikt statt, bei der sich bislang die Mehrheit der betroffenen Bevölkerung für den Bau der Straße ausgesprochen hat (vgl. Benjamin Beutler in Portal amerika21.de v. 18. August 2012).

[5] Diese in der Geschichte der sozialen Bewegungen, vor allem auch der Arbeiterbewegung, immer wieder auftauchende Entgegensetzung hat Friedrich Engels scharfzüngig kritisiert. Autonomie (in der Gesellschaft) versus Autorität (im Staat bzw. vom Staat aus) seien weder „absolut gut“ noch „absolut schlecht“. „Autorität und Autonomie sind relative Dinge, deren Anwendungsbereiche in den verschiedenen Phasen der sozialen Entwicklung variieren… Die Antiautoritarier fordern, daß der autoritäre politische Staat auf einen Schlag abgeschafft werde, bevor noch die sozialen Bedingungen vernichtet sind, die ihn haben entstehen lassen. Sie fordern, daß der erste Akt der sozialen Revolution die Abschaffung der Autorität sei. Haben diese Herren nie eine Revolution gesehen? Eine Revolution ist gewiß das autoritärste Ding, das es gibt; sie ist der Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen Teil seinen Willen mittels Gewehren, Bajonetten und Kanonen, also mit denkbar autoritären Mitteln aufzwingt…“ (Friedrich Engels: Von der Autorität, in: MEW 18, S. 307f.).