Programmdebatte

Klassengesellschaft ohne Arbeiterklasse?

Über das Fehlen der Klassen im Entwurf für ein Programm der LINKEN

März 2011

Mehr als vier Jahre nach ihrer Gründung will sich die Partei DIE LINKE. bis Ende 2011 ein Parteiprogramm geben. Im März 2010 wurde, nach zähem Ringen in der Programmkommission, der Öffentlichkeit ein Entwurf dieses Programms vorgestellt.[1] Auch innerparteilich löste dieser Entwurf widersprüchliche Reaktionen aus: Von weitreichender Kritik (Birke Bull, stellv. Landesvorsitzende der LINKEN. Sachsen-Anhalt und Mitglied der Programmkommission: „In grundsätzlichen Aussagen geht der vorgelegte Text am Anspruch einer modernen LINKEN vorbei.“) bis hin zu allgemeiner Zufriedenheit (Wolfgang Gehrcke, Mitglied des Parteivorstands der LINKEN. und Bundestagsabgeordneter: „Ich bin zufrieden mit dem Entwurf für das Programm der LINKEN, weil der Text durch und durch antikapitalistisch ist.“) war ein breites Meinungsspektrum zu hören. Der Programmkonvent im November 2010 in Hannover bot den Anlass, eine Zwischenbilanz der Programmdiskussion zu ziehen.

Ich werde mich mit einem Einzelaspekt befassen, der im Programm einer Partei, die sich unter anderem auf Karl Marx und Friedrich Engels bezieht und an „linksdemokratische Positionen und Traditionen aus der sozialistischen, sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung“ (4)[2] anknüpfen will, eine Rolle spielen sollte: Der Analyse der Klassenstrukturen und der Klassenkämpfe und der sich hieraus ableitenden Strategie zur Veränderung der Klassenmachtverhältnisse zu Gunsten der Arbeiterklasse.

1. „Klassen“ im Entwurf für ein Programm der LINKEN

Um es gleich vorneweg zu sagen: Eine systematische Analyse der Klassenstrukturen und der Klassenkämpfe sucht man in diesem Entwurf vergeblich. Der Begriff „Klasse“ findet sich im Entwurf des Grundsatzprogramms überhaupt nur an drei Stellen:

· Auf Seite 3 – in der Präambel – wird von einer „Zwei-Klassen-Medizin“ gesprochen;

· auf Seite 6 – im Kapitel „Krisen des Kapitalismus. Krisen der Zivilisation“ – von einer „herrschende[n] Klasse“, die versucht, „sich den mit technologischen Umwälzungen weiter wachsenden gesellschaftlichen Reichtum als Zuwachs ihres privaten Vermögens und ihrer Macht anzueignen“;

· und auf Seite 14 – im Kapitel „Linke Reformprojekte. Schritte gesellschaftlicher Umgestaltung“ heißt es: „Das Bildungssystem mit seiner mehrgliedrigen Struktur von höherer und niederer Bildung verstärkt die soziale Auslese und zementiert die Bildungsprivilegien der oberen Klassen.“

Ansonsten finden sich in dem Entwurf viele Umschreibungen der herrschenden / oberen Klasse: So ist beispielsweise von „Wirtschaftsmächtigen“ (3), „Finanzhaien“ (3), den „oberen Zehntausend“ (3, 9, 10), „Konzernchefs“ (3), „Kapitaleignern“ (6), „Reichen“ (6), „Großanlegern und Finanzinvestoren“ (6, 9), „globalen Herrschaftseliten“ (7), „mächtigen Fraktionen der Machteliten“ (8) und „einer kleinen Schicht von privaten Eigentümern“ (10) die Rede.

Ihr Gegenüber bleibt diffus. An einer Stelle ist von „Arbeitenden“ (6), an einer anderen von der „erwerbstätigen Bevölkerung“ (7) und an einer dritten von „Lohnabhängigen“ (17) die Rede. Als „Klasse“ werden diese jedoch nicht benannt. Hinzu kommen die „Armen“ (3), „die unteren gesellschaftlichen Schichten“ (4), „sozial Benachteiligte“ (17) und „ärmere Bevölkerungsgruppen“ (18).

Sehr beliebt ist die Bezugnahme auf „die Mehrheit der Menschen“ (3), „die große Mehrheit“ (3), „die große Mehrheit der Weltbevölkerung“ (7) oder schlicht „Mehrheiten“ (6), und natürlich die „Bevölkerung“ (8, 10), das „Volk“ (10, 13), „Menschen“ (17), „alle Menschen“ (8), „jeder Mensch“ (8), „jeder Mensch auf der Erde“ (15) und die „Allgemeinheit“ (9, 10).

Angereichert wird diese oberflächliche Gesellschaftsbeschreibung um „die Mittelschichten“ (7), die „bedrohte Mittelschicht“ (17) „soziale Milieus“ (15) und „sozial, libertär und humanitär orientierte Milieus“ (17). Sehr schön ist auch die Erwähnung der „direkt und indirekt in der Wirtschaft tätigen Menschen“ (9).

Verwunderlich, wie man bei diesem Durcheinander dennoch behaupten kann, „dass wir in einer Klassengesellschaft leben“ (6). Und zu kritisieren ist auch, dass als Beweis, für das Vorhandensein einer Klassengesellschaft nur die „zunehmend ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen“ (6) angeführt wird. Die Charakterisierung der Gesellschaft als Klassengesellschaft wird also nicht aus den Produktions- und Arbeitsbeziehungen hergeleitet, sondern nur aus der ungleichen Verteilung von Einkommen und Vermögen.

2. „Klassen“ in den Programmen von PDS und WASG

Dieses irritierende Fehlen der „Klassen“ im Programmentwurf hat seine Vorgeschichte in den Programmen der „Quellparteien“ der LINKEN. und im Vereinigungsprozess von PDS und WASG.

So finden sich die diesbezüglichen Schwächen des Entwurfs für ein Programm der LINKEN. bereits im letzten Programm der Linkspartei.PDS (beschlossen am 26. Oktober 2003 in Chemnitz)[3]. Eine Analyse der Klassenstruktur und der Klassenverhältnisse sucht man auch hier vergeblich. Dieses Programm vermeidet es sogar, ausdrücklich von einer Klassengesellschaft zu sprechen. Immerhin wird aber das Vorhandensein einer „veränderte[n] Klassenstruktur“ erwähnt. Wie diese Klassenstruktur aussieht und worin die Veränderung besteht, wird nicht ausgeführt. Wie auch im Entwurf für ein Programm der LINKEN. wird die „Arbeiterklasse“ nicht explizit als solche benannt, dafür jedoch die „herrschenden Klassen“ (im Plural).

In dieser Hinsicht nur wenig besser sind die „Programmatischen Eckpunkte[4] (beschlossen von den Parteitagen der WASG und der Linkspartei.PDS am 24. und 25. März 2007 in Dortmund). Im Kapitel „Eine andere Welt ist nötig“ wird von einer „offen hervortretende[n] Klassenspaltung“ gesprochen, die mit anderen Unterdrückungsverhältnissen zusammenfalle. Mit der Europäischen Union – so fährt das Dokument fort – sei „ein neuer Raum für gemeinsame soziale Kämpfe, Bewegungen für Frieden und nachhaltiges Wirtschaften, für Demokratie und gegen Rassismus und Nationalismus, ein neuer Raum der Klassenkämpfe entstanden“. Auch hier wird nur eine Klasse explizit erwähnt: die „herrschende Klasse“, gegen deren Machtbestrebungen – im Kapitel „Für einen Richtungswechsel“ – die „Bürgerinnen und Bürger“ mobilisiert werden sollen. In einer „Nachbemerkung“ werden schließlich Fragen aufgeworfen. Hierunter auch die Frage: „Welche Bedeutung hat der Bezug auf Klasseninteressen und -kämpfe für unsere Politik?“

3. Kontroversen um den Klassenbegriff in der LINKEN.

In der Debatte um das Programm der LINKEN. befassten sich zunächst nur wenige Wortmeldungen mit der fehlenden Klassenanalyse des Entwurfs. Selbst die linken Strömungen gehen in ihren Erklärungen zum Programmentwurf nur kurz auf die Klassenfrage ein: In der Abschlusserklärung der Konferenz der Antikapitalistischen Linken im März 2010 wird nicht von Klassen gesprochen. Sie wollen aber „allen Ausgebeuteten und Unterdrückten Mut machen, sich zu wehren und für eine Veränderung dieser Verhältnisse zu streiten“.[5] Im Mai 2010 äußerte sich der Bundeskoordinierungsrat der Kommunistischen Plattform zum Programm der LINKEN. ohne die Klassen zu erwähnen.[6] Der Geraer Dialog / Sozialistischer Dialog verständigte sich im Juli 2010 auf eine Stellungnahme, in der nur kurz festgehalten wird, dass die Kapitalherrschaft nicht durch Reformen, sondern nur durch „die Herrschaft der werktätigen Klasse“ abgelöst werden kann. Nähere Ausführungen zur „Klassenstruktur unserer Gesellschaft“ werden auf „die weitere Diskussion“ vertagt.[7] Aussagekräftiger ist auch die Stellungnahme der Sozialistischen Linken vom Juli 2010 nicht: Die Überwindung „der kapitalistischen Lohnarbeit bzw. des Klassengegensatzes“ bleibe eine langfristige Perspektive sozialistischer Politik – so die knappe Feststellung. Ansonsten fordern sie als Nachbesserung am Programmentwurf eine Analyse der „Grundstrukturen und Entwicklungen der kapitalistischen Produktions-, Geschlechter- und Klassenverhältnisse, sozialen Milieus und des Staates“[8] ein. Eine eigene Analyse eben dieser Klassenverhältnisse hat die SL bisher nicht vorgelegt.

Das Forum demokratischer Sozialismus (fds) befeuerte die Programmdiskussion durch ihr Papier „Mut zur Reform“ (Mai 2010)[9] und dann vor allem durch ihre „13 Thesen zum Entwurf des Programms der Partei DIE LINKE.“ (September 2010)[10]. In diesem Dokument ist nur an wenigen Stellen explizit von „Klassen“ die Rede: Zwei Mal wird aus einem Artikel von Christina Kaindl im „Neuen Deutschland“ zitiert (s.u.); beklagt wird, der Programmentwurf vernachlässige „den Zusammenhang zwischen Rasse, Klasse und Geschlecht“; und erwähnt wird eine „politische Klasse“. Ansonsten werden „die Menschen als Subjekte von Veränderung“ in den Blick genommen, wird „den Menschen Mut [gemacht], sich gegen Ungerechtigkeit zu wehren und aktiv an der Gestaltung und Veränderung ihrer Lebensverhältnisse mitzuwirken“ und werden „gesellschaftliche Bündnisse verschiedener diskriminierter Gruppen“ eingefordert. An immerhin einer Stelle tauchen dann tatsächlich die „Lohnabhängigen“ auf: Mitbestimmung und Teilhaberechte sollten kein Privileg von „Beschäftigten in traditionellen Normalarbeitsverhältnissen“ sein, sondern seien – so die Forderung des fds – auch auf „prekär Beschäftigte und Arbeitslose auszudehnen“. Dies verlange, „Solidarität der verschiedenen Gruppen der Lohnabhängigen und Arbeitslosen miteinander herzustellen.“

Enttäuschen die offiziellen Strömungen also mit ihren (Nicht-)Aussagen zur Klassenfrage, so finden sich in der Debatte doch einige bemerkenswerte Beiträge von Einzelpersonen. Große Beachtung fand eine Artikelserie im Neuen Deutschland. Hier erschien im März 2010 ein Beitrag von Michael Brie (Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung), der als eine der „Offene Fragen der Linken“[11] die „Klassenfrage“ stellt. Auf diese Frage gibt er jedoch allenfalls Andeutungen einer Antwort. So stellt er den „Herrschenden“ die „Lohnabhängigen“ gegenüber, die jedoch keine Klasse mehr sind, denn „die Arbeiterklasse, früher mehrheitlich geeint in Gewerkschaften, politisch vertreten in einer Klassenpartei, gibt es so nicht mehr“. Die Linke stehe vor dem Problem, dass die innere Differenzierung dieser Lohnabhängigen groß sei und ihre widersprüchlichen Interessen dennoch vertreten und zusammengeführt werden müssten.

Christina Kaindl (Leitende Redakteurin der Zeitschrift „Luxemburg“) widmet im April 2010 ihren ganzen Artikel der Frage nach einer „linken Klassenpolitik“.[12] Sie stellt die zentralen Fragen sowohl nach dem „politische[n] Subjekt für eine Transformation über den Kapitalismus hinaus“ als auch danach, ob heute noch sinnvoll von „Klassen“ gesprochen werden kann. Richtigerweise geht es ihr nicht um eine abstrakte akademische Diskussion über Klassen, sondern darum „welche Teile der Bevölkerung, wessen Interessen [...] Bezugspunkte linker (Partei-)Politik [sind]“. Denn während die „Kunst von Herrschaft und Hegemonie des Kapitals“ darin bestehe, „die unteren Klassen von ihren gemeinsamen Interessen abzulösen und sie – einzeln, zersplittert und entsolidarisiert – einzubinden“, müsse linke Politik versuchen „konkrete Klassenformationen aus[zu]machen und ihre Interessen in Politikprojekte ein[zu]bringen, die auch die allgemeine Klassenlage der vom Kapital Abhängigen verbessern“. „Klassenpolitik“ könne nicht allein als Vertretung von Interessen einer Beschäftigtengruppe verstanden werden, sie müsse vielmehr „Solidarität der verschiedenen Gruppen der Lohnabhängigen miteinander“ herstellen. So gehe es auch nicht darum, sich vorrangig „als Fürsprecher der am meisten prekarisierten und machtlosen Gruppen der Gesellschaft“ zu verstehen, sich also auf nur eine Fraktion der neuen Klassenzusammensetzung zu beziehen, sondern gegen das herrschende Denken die Gemeinsamkeiten der verschiedenen Fraktionen der Arbeiterklasse zu entwickeln.

Im Herbst belebte sich die Diskussion über die „Klassen“ im Programm der LINKEN. Auf einer gemeinsamen Veranstaltung des Geraer Dialog / Sozialistischer Dialog und der Tageszeitung junge Welt nahmen im September 2010 Ekkehard Lieberam und Michael Mäde auch kurz zum Klassenbegriff im Programmentwurf Stellung.

Ausführlicher sprachen Andreas Wehr und – nochmals – Ekkehard Lieberam auf einer Veranstaltung der Sozialistischen Linken Berlin im Oktober 2010 zu den Klassen im Entwurf für ein Grundsatzprogramm für die Partei DIE LINKE[13]. Andreas Wehr warb u.a. dafür „im Programm einer Partei, die ja immerhin angibt, den Kapitalismus überwinden zu wollen, auf der Bedeutung der Arbeiterklasse als die entscheidende Kraft für jede grundlegende Veränderung der Gesellschaft zu bestehen“[14]. Und für Ekkehard Lieberam bleibt der Sozialismus ohne eine „mobilisierte Klasse [...] nur eine interessante Idee“[15]. Doch die Entwicklung der Lohnarbeitenden zu einer solchen mobilisierten Klasse sieht er aktuell zwar „im Werden“, aber erst auf einem „bescheidenen Niveau“. Es sei Aufgabe sozialistischer Programmatik – so Lieberam –, „die in sich sehr heterogene und zersplitterte arbeitende Klasse [...] im politischen Kampf durch entsprechende Aktions- und Übergangsforderungen zusammenzuführen.“

Ebenfalls im Oktober veröffentlichte eine zehnköpfige Gruppe marxistischer Autoren ein Memorandum zur linken Programmdebatte.[16] Sie lassen in ihrer ausführlichen Wortmeldung keinen Zweifel daran, dass sie die antikapitalistische Grundlinie des Entwurfs nachdrücklich unterstützen. Zur Debatte tragen sie u.a. die differenzierte Analyse der aktuellen Klassenverhältnisse bei, die im vorliegenden Programmentwurf fehlt.

4. Anforderungen an eine Klassenanalyse im Programm der LINKEN

Der im vorliegenden Entwurf für ein Programm der LINKEN. weitgehend vollzogene (und jüngst auch in einem Diskussionsbeitrag in dieser Zeitschrift geforderte) Verzicht auf den Klassenbegriff[17] wäre für die Linke fatal, denn die Begriffe, mit denen eine Gesellschaft sich selbst beschreibt, sind Ergebnisse der Hegemoniekämpfe zwischen den Klassen, und niemand hat dies besser erkannt als die Herrschenden. Ihre Macht beruht nicht einfach auf Gewalt, Zwang und Unterdrückung, zentral ist die Erlangung und Aufrechterhaltung der Zustimmung der Regierten zu ihrer Politik, und seit den 1970er Jahren ist es ihnen gelungen, eine neoliberale Ideologie nach und nach hegemonial zu machen. Dies gelang auch deshalb – so David Harvey –, weil „viele progressive Kräfte theoretisch davon überzeugt waren, dass ‚Klasse’ eine bedeutungslose Kategorie geworden sei“.[18]

Ich möchte daher dafür werben, sich in der weiteren Programmdiskussion der LINKEN. die Mühe zu machen, unsere Gesellschaft tatsächlich als Klassengesellschaft zu analysieren, statt sie nur als solche zu bezeichnen. Ausgangspunkt dieser Analyse müssen die Produktions- und Arbeitsbeziehungen sein; und zentrale Kategorie bei der Untersuchung dieser Beziehungen ist die Ausbeutung der Lohnabhängigen durch die Eigentümer der Produktionsmittel. Zu beachten ist ferner, dass die vorhandenen Produktions- und Ausbeutungsstrukturen zu dauerhaften Herrschaftsverhältnissen führen und eben nicht nur die „zunehmend ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen“ (6) zur Folge haben – wie der Programmentwurf verkürzt formuliert. Zudem ist der marxistische Klassenbegriff ein relationaler Begriff; d.h. eine Klasse besteht nie für sich allein, sondern immer nur in Bezug auf eine oder mehrere andere Klassen. Es reicht also nicht aus – wie der Programmentwurf dies tut – nur von einer einzigen Klasse, nämlich der „herrschende[n] Klasse“ (6), zu reden.

Notwendig ist die differenzierte Darstellung der Grundklassen und Zwischengruppen, wie sie beispielsweise im Memorandum zur linken Programmdebatte[19] dargelegt werden. Im Programm der LINKEN. sollte also

· einerseits die Arbeiterklasse[20] mit ihren internen Verschiebungen und ihrer zunehmenden Heterogenität (Rückgang des Anteils der Produktionsarbeiter an den Lohnabhängigen bei gleichzeitigem Anwachsen des Anteils der Lohnabhängigen im Bereich der Dienstleistungen; Entstehung eines vielschichtigen Prekariats von Niedriglöhnern, in unsicheren Arbeitsverhältnissen Beschäftigten und sozial Ausgegrenzten);

· andererseits die den abhängig Arbeitenden gegenüberstehende Kapitalistenklasse mit einer kleinen Schicht von Superreichen und Konzernherren an der Spitze;

· und schließlich die zwischen diesen beiden Grundklassen stehenden gewerblichen und lohnabhängigen Mittelschichten, die in sich sehr differenziert sind, analysiert werden.

Diese Klassenanalyse ist eine notwendige Voraussetzung, um Kräfte der Veränderung ebenso zu identifizieren, wie Kräfte der Beharrung und der Verteidigung des schlechten Bestehenden. Und aus dieser Analyse sind dann notwendigerweise auch Konsequenzen für das Programm als Ganzes zu ziehen: etwa bei der thematisch-strategischen Schwerpunktsetzung oder bei der Ansprache strategischer Partner/innen im Kampf für die Erreichung der reformerischen Ziele ebenso wie zur Erreichung der sozialistischen Gesellschaft.

Gegenstand dieser Analyse sollte auch die Krise der Gewerkschaften sein, und es ist gut, dass der Programmentwurf auf die zentrale Bedeutung „starke[r], aktive[r], kämpferische[r] und politisch eigenständig handelnde[r] Gewerkschaften“ (17) hinweist. Diese besondere Bedeutung wird zu Recht mit „ihre[r] Verankerung in der Arbeitswelt“ (17) begründet, die „den gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten eine gesellschaftliche Machtposition [verleiht], die andere soziale Gruppen nicht haben und die von zentraler Bedeutung für die Durchsetzung sozialer und sozialistischer Umgestaltungen ist.“ (17) Ich schließe mich hier Andreas Wehr an, der fordert, hieran programmatisch und praktisch anzuknüpfen und den Interessen der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten im Programm mehr Gewicht zu geben.[21]

Es sollte zentrale Aufgabe der LINKEN. sein, die Klassenmachtverhältnisse zu Gunsten der Arbeiterklasse zu verändern, und es ist auch hier gut, mit dem Programmentwurf übereinzustimmen, der als „strategische Kernaufgabe der LINKEN“ definiert, „zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse beizutragen“. (17) Hierfür ist es einerseits erforderlich, die Solidarität innerhalb der Arbeiterklasse herzustellen, also von den Kernbelegschaften in den prosperierenden Sektoren der Wirtschaft bis zu den Erwerbslosen und Prekarisierten. Eine wichtige strategische Aufgabe der LINKEN. besteht in der Identifizierung übergreifender Interessen dieser verschiedenen Fraktionen der Klasse und in der Formulierung einigender Forderungen, um die Spaltung der Klasse zurückzudrängen. Andererseits besteht die strategische Herausforderung auch darin, Klassenbündnisse mit den lohnabhängigen Mittelschichten zu bilden.

Meine Kritik an dem Programmentwurf wäre hier allenfalls, dass diese Unterscheidung von Solidarität innerhalb der Arbeiterklasse und von Bündnissen der Arbeiterklasse mit anderen gesellschaftlichen Gruppen nicht erfolgt, sondern verkürzt von einem „breite[n] gesellschaftliche[n] Bündnis gegen Neoliberalismus und Kapitalherrschaft und für eine linke demokratische, soziale, ökologische und friedliche Politik zur solidarischen Umgestaltung der Gesellschaft“ gesprochen wird, dem „sowohl Lohnabhängige und sozial Benachteiligte wie bedrohte Mittelschichten und andere sozial, libertär und humanitär orientierte Milieus“ (17) angehören sollen. Diese fehlende Differenzierung ändert aber nichts an der richtigen strategischen Grundorientierung, sich nicht auf die Interessenvertretung „der am meisten prekarisierten und machtlosen Gruppen der Gesellschaft“[22] zu beschränken.

5. Schwachstellen der Klassentheorie

Eher nicht im Programm selbst aber umso dringender in der Diskussion über das Programm müssen auch die Schwachstellen der Klassentheorie angesprochen werden.

Wie bereits erwähnt erleben wir einen dramatischen Wandel der soziale Zusammensetzung der Arbeiterklasse. Seit Mitte der 1970er Jahre verschärfen sich Spaltungstendenzen innerhalb der Lohnarbeiterschaft, die die Basis gewerkschaftlicher Handlungsmacht aufzulösen drohen. Ich teile daher Frank Deppes Einschätzung, „dass die traditionelle Arbeiterbewegung als eine politische Bewegung (Parteien), eine soziale Bewegung (Gewerkschaften), eine Genossenschaftsbewegung und eine kulturelle Bewegung, die in ihrem Kern auf der industriellen Arbeiterklasse beruht, nicht mehr besteht“.[23]

Aus dieser Sichtweise ziehe ich jedoch nicht die Konsequenz, dass „die modernen westlichen Gesellschaften [...] nicht mehr aus sozialen Klassen bestehen“[24] – wie beispielsweise Lothar Peter dies behauptet. Zum einen ist ihm entgegenzuhalten, dass beispielsweise Erik Olin Wright[25] oder Michael Vester u.a.[26] auf ihrem je eigenen Weg nachgewiesen haben, dass weiterhin gesellschaftliche Großgruppen bestehen, die aus homogenen materiellen Lebenslagen gemeinsame „Klassenkulturen“ (Vester u.a.) bzw. klassenbezogene Einstellungen (Wright) entwickeln und das Potenzial zu gemeinsamem politischen Handeln haben. Zum anderen teile ich aber auch nicht die seine Auffassung, man dürfe nur noch dann von einer Klasse sprechen, „wenn es sich [...] gleichzeitig um eine Klasse [...] sowohl im ökonomischen als auch sozialen Sinn handelt.“[27] Zwar benennt Peter zu Recht die „Achillesferse“[28] der marxistischen Klassentheorie: Den Zusammenhang zwischen „objektiven“ Klassenlagen und „subjektivem“ Klassenbewusstsein und -handeln. Richtig an Peters Kritik ist auch, dass Untersuchungen dieser objektiven Klassenstrukturen um Untersuchungen der „realen“ Existenz von Klassen ergänzt werden müssen – real in dem Sinne, dass sich Wirkungen der objektiven Klassen in den Lebensbedingungen, Einstellungen und Handlungen der Menschen wiederfinden müssen. Seine Konsequenz ist meines Erachtens jedoch falsch. In dem Nachweis, dass „Menschen unterschiedlicher Generationen, Geschlechter und unter Umständen auch unterschiedlicher Hautfarbe, [...] eine in wesentlichen Punkten gemeinsame ökonomische Lage aufweisen“[29] sehe ich kein „statistisches Artefakt“[30] und keine „Begriffmythologie“[31], sondern einen notwendigen Bestandteil einer Klassenanalyse, als Grundlage einer möglichen politischen Klassenbildung.

Hier unterscheiden sich eben auch die Aufgaben soziologischer Studien und eines Parteiprogramms: Aufgabe des letzten ist es, diejenigen Konfliktlinien zu erkennen und zu fördern, die zu Auslösern neuartiger Formen von Klassenbildung und -bewegung werden können. Ekkehard Lieberam u.a. haben also Recht, wenn sie als eine wichtige Aufgabe der antikapitalistischen Linken das Suchen und Erproben „neue[r] Wege der Ermutigung, Vereinigung und Verstetigung solidarischen Handelns“[32] benennen und feststellen:

„Ein solcher Prozeß der politischen Klassenbildung von einer Klasse gegenüber dem Kapital hin zu einer Klasse für sich selbst kann offensichtlich nur über die Ausweitung und Vernetzung der praktischen ökonomischen und politischen Kämpfe für die eigenen Interessen in Gang gesetzt werden, verbunden mit einer zunehmenden Einsicht der abhängig Arbeitenden in die gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhänge.“ [33]

Bei der Analyse neuer Klassenbildungsprozesse stehen wir noch ganz am Anfang, was auch daran liegen mag, dass unser Verständnis von Klasse noch zu sehr durch diejenige Form geprägt ist, die sie durch die kapitalistische Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts erfahren hat. Die sich möglicherweise neu formierende Arbeiterklasse wird sich grundlegend vom Industriearbeiterproletariat der 1960er Jahre unterscheiden. Sie wird weiblicher und internationaler sein, und sie wird ihre Zentren nicht allein in der Produktion, sondern ebenso sehr im Dienstleistungsbereich haben. Und wir müssen die Augen dafür öffnen, dass auch die Klassenbildung künftig ein sehr viel mehr politisch vermittelter Prozess sein wird, als in der Vergangenheit.[34]

An diesem Prozess aktiv mitzuwirken, ist eine hervorragende Aufgabe der Partei DIE LINKE., und die Programmdiskussion ist eine günstige Gelegenheit, diese Aufgabe theoretisch zu erörtern und sich auf die gemeinsame Strategie zu verständigen.

[1] http://die-linke.de/programm/programmentwurf/

[2] Alle Seitenangaben beziehen sich auf die im März als Beilage zum Neuen Deutschland veröffentlichte Druckfassung des Entwurfs.

[3] http://archiv2007.sozialisten.de/partei/dokumente/programm/index.htm

[4] http://die-linke.de/partei/dokumente/programm_der_partei_die_linke_programmatische_eckpunkte/

[5] http://www.antikapitalistische-linke.de

[6] http://die-inke.de/partei/zusammenschluesse/kommunistische_plattform_der_partei_die_linke/ mitteilungen_der_kommunistischen_plattform/

[7] http://die-linke.de/nc/die_linke/nachrichten/detail/artikel/antikapitalismus-ist-mindestforderung/

[8] http://www.sozialistische-linke.de/images/dateien/programm/broschuere_argumente_programm01.pdfT

[9] http://www.forum-ds.de.

[10] Ebd.

[11] http://www.neues-deutschland.de/artikel/167578.offene-fragen-der-linken.html

[12] http://www.neues-deutschland.de/artikel/168829.linke-klassenpolitik.html

[13] In: Sozialistische Linke Berlin (Hg.): Den Programmentwurf offensiv verteidigen! Beiträge zur Programmdebatte, Berlin, 2010 (http://die-linke.de/fileadmin/download/programmdebatte/ 101031 _sl_berlin_programm_workshop.pdf)

[14] Ebd., S. 21.

[15] Ebd., S. 22 ff.

[16] Ekkehard Lieberam u.a.: Memorandum zur linken Programmdebatte, Bergkamen, 2010.

[17] So bezweifelte jüngst Lothar Peter „ob die Sozialstruktur moderner kapitalistischer Gesellschaften weiterhin angemessen mit dem Klassenbegriff beschrieben werden kann.“ Lothar Peter: Antwort auf die kritischen Äußerungen zu meinem Artikel, in: Z 84, Dezember 2010, S. 159. Siehe dazu auch die Kritiken von Dieter Boris und Peter Römer in Z 82, Juni 2010, S. 146ff und 151ff.

[18] David Harvey: Räume der Neoliberalisierung. Theorie der ungleichen Entwicklung, Hamburg, 2007, S. 69.

[19] Ekkehard Lieberam u.a., a.a.O.

[20] Ein Hinweis zum Gebrauch des Begriffs „Arbeiterklasse“: Auch von Marxisten/innen werden für diese Klasse unterschiedliche Begriffe verwendet. So wird beispielsweise von der „abhängig arbeitenden Klasse“ oder der „Lohnabhängigenklasse“ gesprochen. Ich verwende selbst vorläufig weiterhin den klassischen Begriff „Arbeiterklasse“, bin mir aber des Problems bewusst, dass sich viele lohnabhängig Beschäftigte hiervon nicht angesprochen fühlen, weil sie sich nicht als Arbeiter sehen. Die gesellschaftlichen Strukturveränderungen lassen den Charakter einer neuen Klasse der lohnabhängig Arbeitenden jedoch noch nicht hinreichend erkennen, als dass sie sich bereits begrifflich angemessen fassen ließe.

[21] Andreas Wehr, in: Sozialistische Linke Berlin (Hg.): Den Programmentwurf offensiv verteidigen! Beiträge zur Programmdebatte, Berlin, 2010

[22] Christina Kaindl: Linken Klassenpolitik, in: ND, 12.04.2010.

[23] Frank Deppe: Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung im 21. Jahrhundert; in: Z 54, Juni 2003, S. 71-96, hier: S. 73 (Hervorhebung HGB). Vgl. auch Ekkehard Lieberam Einschätzung, dass „die alte Arbeiterbewegung [...] nur noch in Restbeständen [existiert].“ (in: Sozialistische Linke Berlin (Hg.): Den Programmentwurf offensiv verteidigen! Beiträge zur Programmdebatte, Berlin, 2010, S. 28)

[24] Lothar Peter: Was machen wir mit dem Klassenbegriff? In: Z 81, März 2010, S. 133-148, hier: S. 141.

[25] Erik Olin Wright: Class counts. Comparative Studies in Class Analysis, Cambridge, 1997; Erbslöh, Barbara / u.a.: Ende der Klassengesellschaft?, Regensburg, 1990

[26] Michael Vester u.a.: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Frankfurt a.M., 2001.

[27] Lothar Peter: Antwort auf die kritischen Äußerungen zu meinem Artikel, a.a.O., S. 154.

[28] Albert Benschop, / Michael Krätke, / Veit Bader: Eine unbequeme Erbschaft. Klassenanalyse als Problem und als wissenschaftliches Arbeitsprogramm; in: Veit M. Bader u.a. (Hg.): Die Wiederentdeckung der Klassen, Berlin / Hamburg, 1998, 5-26, hier: S. 21.

[29] Lothar Peter: Was machen wir mit dem Klassenbegriff? A.a.O., S. 134.

[30] Ebd., S. 134.

[31] Ebd., S. 145.

[32] Ekkehard Lieberam u.a., a.a.O.

[33] Ebd.

[34] Vgl. Frank Deppe / Klaus Dörre: Klassenbildung und Massenkultur im 20. Jahrhundert; in: Tenfelde, Klaus (Hg.): Arbeiter im 20. Jahrhundert, Stuttgart, 1991, S. 726-771.