Zunächst: Ein Kernwaffenkrieg ist immer möglich, solange es diese alles auslöschenden Massenvernichtungsmittel gibt – als bewusst befohlener Kernwaffenerstschlag (der heute von der Gegenseite sofort mit einem Antwortschlag beantwortet würde), als Folge eines technischen Versagens, als Unfall oder als Folge einer Fehlinterpretation. Seit 1945 gibt es für all diese Fälle bedenkliche Erfahrungen.
Einen entscheidenden Lernprozess kann die Menschheit bis heute aber verzeichnen. Glaubte Kanzler Adenauer noch an eine einfache Weiterentwicklung der Artillerie und forderten US-Militärs in der Kubakrise 1962 noch Kernwaffenschläge gegen Kuba, so änderte sich dies. Den zunehmenden Erkenntnissen über die verheerenden Folgen eines Kernwaffenkrieges konnten sich die Militärs, insbesondere aber die politischen Entscheidungsträger, immer weniger auch deshalb entziehen, weil die Sowjetunion die Kernwaffenvorrüstung des Westens zunehmend relativierte. Die damit erreichte Parität führte zum Vertrag über die Einschränkung der Raketenabwehrsysteme und dem Zeitweiligen Abkommen über einige Maßnahmen auf dem Gebiet der Begrenzung der strategischen Waffen (SALT I) von 1972.
Am 21. November 1985 stellten der sowjetische Parteichef Gorbatschow und USA-Präsident Reagan fest, „dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf“.1 Am 3. Januar 2022 wiederholten die fünf Veto- und gleichzeitig offiziellen Nuklearmächte in einer verbindlichen Erklärung im UNO-Sicherheitsrat diese fundamentale Einsicht wortgleich.2 Dafür gab es gute Gründe. Z.B. hatte die damalige Bundesverteidigungsministerin Kramp-
Karrenbauer in einem Interview am 20. Oktober 2021, also vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine, mit Blick auf die NATO-Strategie erklärt: „Wir müssen Russland gegenüber sehr deutlich machen, dass wir am Ende … bereit sind, auch solche Mittel (Nuklearwaffen – L.S.) einzusetzen...“4
Seit dem 24. Februar ist immer wieder die Rede von gegenseitigen Atomkriegsdrohungen. Gegen entsprechende Vorwürfe an die Adresse Russlands und öffentlichen Diskussionen über einen möglichen Einsatz solcher Waffen erklärte Präsident Putin am 21. September 2022: „Sollte die territoriale Integrität unseres Landes bedroht werden, werden wir nicht zögern, zur Verteidigung Russlands und unseres Volkes alle Mittel einzusetzen, die uns zur Verfügung stehen. Dies ist kein Bluff.“3
Die wenig später abgegebene Erklärung des ukrainischen Präsident Selenskyj vom 6. Oktober 2022, die NATO müsse „die Möglichkeit eines Atomwaffeneinsatzes durch Russland ausschließen. Wichtig ist aber, dass es Präventivschläge (der NATO – L.S.) sind, damit sie wissen, was ihnen blüht, wenn sie sie anwenden“, wurde auch im Westen als Atomkriegsdrohung interpretiert.5
Jedes Szenario, Russland erwäge, im Krieg mit der NATO/Ukraine taktische (also kleine) Kernwaffen einzusetzen, ist gegenstandslos und Teil des Propagandakriegs. Wenn man von der, bei Fehlen einer akuten Existenzbedrohung von außen, glaubwürdigen grundsätzlichen Ablehnung eines Kernwaffeneinsatzes durch Russland absieht, was im Vordergrund steht, aus drei Gründen:
- die Verwendung taktischer Kernwaffen in einem begrenzten Krieg ist militärisch unsinnig, weil schon diese „kleinkalibrigen“ Waffen zu schwersten Zerstörungen und großflächigen radioaktiven Verseuchungen führen würden;
- ihre Verwendung (auch nur als „Demonstration“ über kaum bewohntem Gebiet), hätte sofort eine Reaktion der NATO durch (wie angekündigt) verheerende konventionelle Angriffe mit dem Ziel der Vernichtung der russischen Streitkräfte zu Folge, was zu einer massiven nuklearen Antwort Russlands führen und den alles vernichtenden Nuklearkrieg auslösen würde;
- Russland ist der Ukraine trotz jüngster Rückschläge militärisch immer noch überlegen. Lange nicht ist auf das verfügbare Potenzial und alle Möglichkeiten der Kriegführung zurückgegriffen worden.
Jede/r sollte sich darüber im Klaren sein, dass ein Krieg der NATO gegen Russland sofort den die Zivilisation auf der Erde vernichtenden thermonuklearen Weltkrieg entfesseln würde. Denn im Kern verfolgt Russland eine Militärstrategie, wie sie die NATO bis Anfang der 1960er Jahre besaß: Angesichts der überwältigenden konventionellen militärischen Überlegenheit des Warschauer Vertrages sah sie bei Kriegsbeginn den sofortigen massiven Kernwaffenschlag vor. Heute ist der Nordatlantikblock konventionell gegenüber Russland übermächtig. Konsequenz: Siehe oben. Es bleibt dabei, was unumstößlich ist: Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter. Das wissen auch die realistischen Kreise im Westen, weshalb sie eine direkte militärische Konfrontation mit Russland unbedingt vermeiden wollen.
1 Siehe Joint Soviet-United States Statement on the Summit Meeting in Geneva November 21, 1985. - https://www.presidency.ucsb.edu/docu
ments/joint-soviet-united-states-statement-the-summit-meeting-geneva.
2 Siehe UN-Vetomächte warnen vor Einsatz von Atomwaffen. 4. Januar 2022 - https://unric.org/de/atomwaffen04012022/.
4 Siehe Annegret Kramp-Karrenbauer: „Russland ist eine große Herausforderung geworden“. In: DLF Interview 21.10.2021, 07:15 - https://www.deutschlandfunk.de/nato-strategie- kramp-karrenbauer-cdu-russland-ist-eine. 694.de.html?dram:article_id=504531
3 Dokumentiert: „Das ist kein Bluff“. Die Putin-Rede zur Teilmobilmachung im Wortlaut. In: junge Welt, Berlin, 23. September 2022, S. 3.
5 Siehe Selenskyjs Präventivschlagforderung sorgt für Irritationen. In: FAZ online 07.10.2022-05:19 - https://www.faz.net/aktu
ell/politik/ausland/selenskyj-nato-muss-russ
ischen-atomwaffeneinsatz-verhindern-18369 222.html.