Editorial

Dezember 2022

Mit der drastisch angestiegenen Inflation ist die sogenannte „soziale Frage“ für große Teile der Bevölkerung zu einem akuten Problem geworden. Etwa 40 Prozent müssen mit einer deutlichen Senkung ihres Lebensstandards rechnen, weil sie über keine Mittel verfügen, den Inflationsanstieg abzupuffern. Für viele erweisen sich die – aus Steuermitteln zu finanzierenden – staatlichen Hilfsprogramme als ungenügend. In den laufenden Tarifauseinandersetzungen drohen Reallohnsenkungen. Wir thematisieren in diesem Heft sich in diesem Kontext entwickelnde außerparlamentarische und gewerkschaftliche soziale Bewegungen und stellen die Frage nach der Entwicklung des Gesellschaftsbewusstseins von Lohnabhängigen. Diese Fragestellung wird uns auch im nächsten Jahr weiterbeschäftigen.

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Lohnabhängigenbewusstsein – Solidarität und Konkurrenz in der Krise: Die Frage nach dem Bewusstsein der Lohnabhängigen ist von zentralem Stellenwert sowohl für marxistische Forschung und linke Politik wie auch die kritisch informierte Sozialwissenschaft generell. Sie hat in diesen Bereichen eine lange Tradition, wenngleich die kanonische „Arbeiterbewusstseinsforschung“, die vor allem im Feld der Arbeits- und Industriesoziologie beheimatet ist, hierzulande in den vergangenen Dekaden aus der Mode gekommen ist – und parallel dazu auch die Frage nach dem politischen Klassenbewusstsein der Lohnabhängigen. Erst in den letzten Jahren sind Versuche einer Revitalisierung soziologischer Forschung zu Gesellschaftsbildern und Lohnabhängigenbewusstsein zu verzeichnen. Auch angesichts der gegenwärtigen politisch-gesellschaftlichen Krisendynamiken greift der Heftschwerpunkt einige Aspekte dieser Debatte auf und legt das Augenmerk vor allem auf die Frage nach Momenten der Solidarität und Konkurrenz.

Yannik Pein umreißt dazu einführend kurz die Geschichte und einige Fragestellungen der sogenannten „Arbeiterbewusstseinsforschung“ und Ansätze ihrer Revitalisierung im Lichte jüngerer Umbrüche. Die Frage nach Gesellschaftsbildern und Orientierungsmustern von Lohnabhängigen wird heute im Feld der Arbeits- und Industriesoziologie wieder aufgegriffen, allerdings unter offenkundig neuen historischen Bedingungen – weshalb sich auch die Frage nach dem Zusammenhang von betrieblicher Erfahrung und „Lebenswelt“, individueller Prägung und subjektiver Verarbeitung auf neue Weise stellt. Richard Detje und Dieter Sauer gehen anschließend der Frage nach Momenten der Solidarität unter Beschäftigten nach: Auf Basis erster empirischer Einblicke in ein laufendes Forschungsprojekt diskutieren die Autoren „Fallbeispiele arbeitsweltlicher Solidarität“ und ziehen eine Reihe möglicherweise verallgemeinerbarer Schlüsse. Maren Hassan-Beik widmet sich der klassenspezifischen Krisenwahrnehmung bei Aktiven der Fridays-for-Future-Bewegung sowie Auszubildenden in der Automobilindustrie: Von einer mehr oder minder einheitlichen „Klimajugend“ könne angesichts unterschiedlicher, empirisch festgestellter Krisenrezeptionen nicht die Rede sein. Unter Rückgriff auf ein klassenanalytisches Modell Erik Olin Wrights diskutiert die Autorin daher, inwieweit verschiedene (zukünftige) Klassenlagen der Befragten die Unterschiede in der Wahrnehmung gesellschaftlicher Krisendynamiken erklären helfen. Konkurrenz- und Solidaritätsverhältnisse unter Lohnabhängigen hat Linda Beck anhand der Sicht deutscher Bauarbeitender auf migrantische Beschäftigte in der Baubranche untersucht. Sie zeigt, an welchen Stellen Beschäftigte Gemeinsamkeiten wie spaltende Momente im alltäglichen Zusammenarbeiten ausmachen. Die jüngere Popularität der literarischen Verarbeitung von Klassenlagen und -verhältnissen, der einige Bedeutung für das öffentliche Bewusstsein über Klassen und soziale Ungleichheit zukommt, ist wiederum Thema des Essays von Mesut Bayraktar, der die Erzählmodi, ästhetischen Mittel und Grenzen der „neuen Klassenliteratur“ kritisch diskutiert.

Online-Diskussion zu diesem Heft am Sonntag, den 11.12. 2022, 20 Uhr, YouTube-Kanal von 99zueins mit Linda Beck, Yannik Pein und Richard Detje sowie Fabian Nehring von 99zueins.
Vorankündigung / Zugang sh. unsere Social-Media-Auftritte und https://www.youtube.com/c/99ZUEINS

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Soziale Bewegungen: Der Streikmonitor für das 1. Halbjahr 2022 von Sebastian Liegl und Juri Kilroy bestätigt den Trend zu einer Normalisierung und Aktivierung der Arbeitskämpfe nach dem extremen Rückgang im Pandemiejahr 2020. Bemerkenswert ist die wachsende Zahl von Streiks in den „systemrelevanten“ Bereichen, also vor allem im Krankenhaus- und Gesundheitssektor. Die Autoren haben das Erhebungsdesign überarbeitet und weitere Quellen in ihre Recherchen aufgenommen. Dadurch konnten sie die Zahl der beobachteten Konflikte erweitern. Im Herbst dieses Jahres gab es zahlreiche Sozialproteste. Von einem vielfach erwarteten „heißen Herbst“ kann aber noch keine Rede sein. Zumindest ergab das unsere vorläufige Bilanz bei Redaktionsschluss dieses Hefts Ende Oktober. Von einer einflussreichen Massenbewegung sind wir vorerst noch weit entfernt. Für eine gründliche Analyse war es im Herbst ohnehin noch zu früh. Wir geben deshalb in dieser Ausgabe nur einen groben Überblick, indem wir einige wichtige Initiativen und deren Träger in Form einer Collage selbst zu Wort kommen lassen. Außerdem haben wir Beobachter:innen des linken und des rechten Protestgeschehens um ihre vorläufige Einschätzung gebeten.

Politische Trends: Große Enttäuschung herrschte über das Scheitern des Verfassungsreferendums in Chile. Dieter Boris geht in seiner nüchternen Analyse der Ursachen davon aus, dass die Linke mit dem Verfassungsentwurf selbst überzogen und damit das Scheitern verursacht hat. Einhundert Jahre nach der Machterlangung des Faschismus hat die extreme Rechte die Regierung in Italien übernommen. Stefano Azzarà deutet die Regierung Meloni jedoch nicht als Wiederkehr des Faschismus, sondern als bonapartistischen Ausweg aus dem Zerfall des herrschenden Blocks, der sich gegenwärtig neu gruppiert. Die immer weitere Rechtsverschiebung sei Ausdruck der realen Klassenverhältnisse und der autoritäre Populismus Teil des herrschenden Liberalismus, dem die Linke nichts entgegenzusetzen habe. Krise und anhaltende Erosion der Linkspartei sind Thema von Alexander Schmidt. Anhand regionaler Daten aus Leipzig verdeutlicht der Autor den Wandel in der Wählerschaft der Partei, die vor allem in Städten wie Leipzig Teile der so genannte „progressiven Eliten“ anzieht, ohne sie jedoch ideologisch binden zu können. Fehlende Organisations- und Milieustrukturen, so Schmidt, sind Teil der aktuellen Krise der Linkspartei.

Marx-Engels-Forschung: Ehrenfried Galander und Axel Rüdiger betonen im zweiten Teil ihrer Abhandlung über Struktur und Methode der Politischen Ökonomie, dass die Änderung des Aufbauplans des „Kapital“ seit 1863 keinen methodischen Bruch bedeutet. Das von ihnen identifizierte Konzept der „gegensätzlichen Bestimmung“ bilde vielmehr eine gemeinsame Grundlage aller Marxschen Ansätze, den kapitalistischen Gesamtprozess theoretisch darzustellen. In der seit Z 125 geführten werttheoretischen Debatte bekräftigt Michael Heinrich gegen Lietz/Schwarz (Z 130), dass ein Produkt erst durch erfolgreichen Austausch zu Ware wird. Wert sei ebenso wie die Reduktion der Privatarbeiten auf gleiche menschliche Arbeit nicht Voraussetzung, sondern Ergebnis des Austauschs. Die Vorstellung vom fertigen Wert vor der Zirkulation mache diese zu einem bloßen Anhängsel und unterschätze die Vermittlungsverhältnisse des Marktes. Zu dieser mit diesem Heft vorerst abgeschlossenen Debatte über die Wertbildung gehören auch die Zuschriften von Lietz/Schwarz, Klaus Müller und Herbert Rünzi zu Dieter Wolf in Z 131, in denen u.a. dessen Position zurückgewiesen wird, dass Wert und abstrakte Arbeit nicht auf der Ebene der einfachen Zirkulation, sondern erst mit der kapitalistisch bestimmten Produktion erklärt werden könnten. (Zu dieser speziellen Debatte siehe auch die Website von Dieter Wolf: https://dieterwolf.net/.)

Weitere Beiträge: In Fortsetzung der Artikelserie zu Veränderungen der Sozialstruktur der BRD in den letzten 25 Jahren behandelt André Leisewitz neue Aspekte in der Qualifikationsstruktur und Stellung der abhängig Beschäftigten in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit. Unter der Perspektive von Krieg und Frieden im Weltsystem zeichnet Rolf Czeskleba-Dupont die Entwicklung vom preußischen Militarismus bis hin zur US-amerikanischen Gewaltherrschaft nach. Er konstatiert einen zunehmend chaotischen und bedrohlichen Zustand sowohl der internationalen Beziehungen als auch des globalen Klimas. Seine methodische Grundprämisse: Eine vergleichende Analyse weltgeschichtlicher Entwicklungen bedarf einer Kombination von geographischem und historischem Materialismus. Im 50. Jahr nach dem „Radikalenerlass“ kämpfen Initiativen von ehemaligen Betroffenen, aber auch Gewerkschaften darum, Öffentlichkeit für die Berufsverbote-Politik herzustellen. Eine umfassende Aufarbeitung und Rehabilitierung der Betroffenen stehen weitgehend aus. Dominik Feldmann interviewte den Filmemacher Hermann Abmayr zu seinem Film zum „Radikalenerlass“, der in der ARD gezeigt wurde, zu den daraus erwachsenen Resonanzen sowie zu zeitaktuellen Entwicklungen einer vermeintlichen Abwehr von vermuteten Demokratiegefährdern im öffentlichen Dienst.

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Aus der Redaktion: Luca Karg (Darmstadt) ist neu in die Z-Redaktion eingetreten. Z 133 (März 2024) wird seinen Schwerpunkt dem „Kapitalismus in Russland“ widmen.