Die Frage nach dem Bewusstsein der Lohnabhängigen ist nicht ohne Grund von zentralem Stellenwert sowohl für marxistische Forschung und linke Politik als auch für die kritisch informierte Sozialwissenschaft generell. Sie hat in beiden Bereichen eine lange Tradition. Während die Diskussion insbesondere der sozialistischen und kommunistischen Linken das Klassenbewusstsein traditionell als Moment der politischen Konstitution und Formierung der lohnabhängigen Klasse(n) fokussiert, untersucht die in der Arbeits- und Industriesoziologie der Nachkriegszeit beheimatete „Arbeiterbewusstseinsforschung“ vor allem den empirischen Zusammenhang von betrieblicher Situation und konkreten Orientierungsmustern von Beschäftigten sowie entsprechenden Einflussfaktoren.
Auch diese Debatten unterliegen fachlichen und politischen Konjunkturen. Zwar konnte im Anschluss an stilbildende wissenschaftliche Untersuchungen der frühen Nachkriegszeit vor allem ab den 1960ern und 1970ern von einer kurzen Blütezeit marxistisch inspirierter und klassenanalytischer Untersuchungen von Gesellschaftsbildern und „Arbeiterbewusstsein“ gesprochen werden; im deutschsprachigen Raum kommt die explizite Beschäftigung mit der Arbeiterklasse sowie deren Bewusstsein im Verlauf der 1980er Jahre und im Zuge der allgemeinen sozialwissenschaftlichen Konjunktur aber größtenteils zum Erliegen. Diese Entwicklung führte dazu, dass über die Einstellungs- und Orientierungsmuster von Lohnabhängigen heute nur wenig bekannt ist – was sich insbesondere vor dem Hintergrund von Krisen- und Entsicherungstendenzen der vergangenen Jahrzehnte sowie angesichts gravierender gesellschaftlicher und politischer Umbrüche als problematisches Defizit erweist. Erst in den letzten Jahren ist eine Revitalisierung arbeits- und industriesoziologischer Forschung zu Gesellschaftsbildern und Orientierungsmustern von Lohnabhängigen zu beobachten.
Hier können nur einige Stichworte zur Entwicklung der arbeitssoziologischen Auseinandersetzung mit dem Bewusstsein der Lohnabhängigen in der Bundesrepublik genannt werden, die es aber vielleicht erlauben, aktuelle Untersuchungen etwas besser einzuordnen und einige gegenwärtig diskutierte Themen und Fragestellungen besser zu verstehen.
„Das Gesellschaftsbild des Arbeiters“: eine Pionierstudie
Mindestens für den deutschsprachigen Raum nimmt die Studie „Das Gesellschaftsbild des Arbeiters“ von Heinrich Popitz, Hanno Kesting, Hans P. Bahrdt und Ernst A. Jüres von 1957 für die arbeits- und industriesoziologische Bewusstseinsforschung den Status einer Pionierstudie ein, sowohl in theoretischer und methodologischer Hinsicht als auch im Hinblick auf ihre Ergebnisse und deren politische Implikationen (vgl. Deppe 1981, S. 74; Grimm et al. 2022, S. 5). Wenn auch dem Selbstverständnis nach keineswegs Marxisten, so knüpften die Autoren doch an den zentralen Zusammenhang vom Sein (des Arbeiters im Produktionsprozess und seinen dortigen Erfahrungen) und dem gesellschaftlichen Bewusstsein (ebendieser Arbeiter) an, den sie historisch-konkret mittels empirischer Sozialforschung auf durchaus materialistische Weise ergründen wollten (vgl. Popitz et al. 2018, S. 11–12). Konkret schlossen sie an die in der damaligen westdeutschen Soziologie prominente These einer Integration der Arbeiterklasse in den Gegenwartskapitalismus und deren „Verbürgerlichung“ auch im Sinne einer Abkehr von der Orientierung am Klassenantagonismus an, die mittels einer Rekonstruktion subjektiver Denk- und Deutungsmuster auf Grundlage ihrer arbeitsweltlichen Erfahrungen überprüft werden sollte. Gleichzeitig war das Erkenntnisinteresse nicht rein negativ im Sinne einer Falsifikation der Verbürgerlichungsthese, vermutete man doch auch ein feststellbares politisches, aus der Tradition der sozialistischen Arbeiterbewegung erhaltenes gesellschaftskritisch-demokratisches Potenzial, als deren sozialer Träger die Arbeiterklasse (weiterhin) fungieren könnte (vgl. Deppe 1981, S. 72; Grimm et al. 2022, S. 5; Popitz et al. 2018, S. 10). Folgt man der marxistischen Grundannahme vom Sein-Bewusstsein-Zusammenhang, so müssten Veränderungen im Produktionsprozess auch (sicher über viele Vermittlungsschritte) Veränderungen im Bewusstsein der produzierenden Arbeiter ergeben – die Untersuchung dieses Zusammenhangs also Aufschlüsse über die politische Bedeutung dieser sozialen Gruppe in der Gegenwart erlauben (vgl. ebd. Popitz et al. 2018, S. 15). Die empirische Untersuchung dieser Frage erschlossen sich die Autoren methodisch über eine Kombination aus „statistische[r] Erhebung mit phänomenologischer Arbeitsbeschreibung, narrativen Interviews und hermeneutischer Interpretation“ (ebd. 2018, S. 11), und aus den so erhobenen Ergebnissen entwickelten sie eine typologische Darstellung von Gesellschaftsbildern der Arbeiter (vgl. ebd. 2018, S. 12).
Theoretischer Zugang und politisches Erkenntnisinteresse stellten in Kombination mit dem methodologischen Ansatz ein für die Sozialwissenschaft der damaligen BRD einmaliges und grundlegendes Forschungskonzept dar, dem eine Vorbildfunktion für viele spätere Studien dieses Forschungsstranges zukommen sollte (vgl. ebd. 2018, S. 14–15). Auch in ihren Ergebnissen war die Studie für die weitere arbeitssoziologische Bewusstseinsforschung fruchtbar, zeigte sie doch sowohl die grundsätzliche Sinnhaftigkeit einer auf Arbeiter und Arbeiterinnen als soziale Gruppe spezifizierten Bewusstseinsforschung als auch Desiderate und Probleme eines solchen Forschungsansatzes auf. Kernbefund unter den befragten Arbeitern war entgegen der bürgerlichen Beschwörung ihrer vollständigen Integration nämlich ein eindeutig dichotom und stellenweise antagonistisch strukturiertes Gesellschaftsbild in der Form eines „wir hier unten vs. die da oben“, bei der die Seite der Unternehmen (konkret in der Gestalt des „Arbeitgebers“) klar als Gegenspieler identifiziert wurde (vgl. ebd. 2018, S. 14). Lässt sich dieser Befund noch klar als subjektiv korrespondierende Entsprechung einer objektiv entlang der Achsen von Besitz vs. Nichtbesitz und geistiger vs. körperlicher Arbeit strukturierten Klassengesellschaft (und damit ebenfalls als Beleg der Sinnhaftigkeit einer am Klassenantagonismus orientierten Forschung) deuten (vgl. Deppe 1981, S. 36), so fallen die Antworten auf die Frage nach dem politischen Potenzial dieses Bewusstsein bereits sehr viel weniger eindeutig aus. Denn auf was die Studie ebenfalls stößt, sind durchaus sehr unterschiedliche Muster der subjektiven Deutung und Verarbeitung dieser Dichotomie, die von Konfliktbereitschaft über Kompromissorientierung bis hin zu Resignation reichen (vgl. Popitz et al. 2018, S. 17). Auch stellen die Autoren fest, dass sich die bei ihnen als „Gesellschaftsbilder“ typologisierten Deutungs- und Verarbeitungsweisen keineswegs unmittelbar aus den Arbeitserfahrungen ableiten lassen, es also insbesondere für ein unmittelbar aus dem Arbeitsprozess erwachsenes, uniformes politisches Subjekt keine Indizien gibt. Vielmehr wird eine Heterogenität im Bewusstsein der Arbeiterklasse festgestellt, die nur unter Einbezug anderer arbeits- und lebensweltlicher Erfahrungsbereiche erklärt werden kann (vgl. ebd. 2018, S. 13, 2018, S. 16). Es geht also um Vermittlungsschritte. Dabei wird eine kohärente Verbindung der Bewusstseinsmomente mit politischer Stoßrichtung im Sinne eines politischen Klassenbewusstseins von den Autoren durchaus nicht ausgeschlossen; sie belassen es aber bei der Feststellung von dessen Abwesenheit und dem bereits benannten Verweis auf außerbetriebliche gesellschaftliche Faktoren (vgl. Deppe 1981, S. 76). Von marxistischer Seite wurde hier vor allem auf den Faktor politisch-sozialer Kämpfe im historisch-konkreten Kontext verwiesen, im Falle der Studie die Nachkriegsauseinandersetzungen im Ruhrgebiet, deren Einbezug notwendig sei, um über eine bloß deskriptive Darstellung hinaus auch analytische Erkenntnisse über Bedingungen und Faktoren der Vermittlung und Konstitution von Arbeiterbewusstsein erlangen zu können (vgl. ebd. 1981, S. 19; Popitz et al. 2018, S. 16). Zu dieser deskriptiven Tendenz trägt auch die zeitlich undynamische Erhebungsweise der Studie bei, die von vornherein Schlüsse über die Entwicklung von Bewusstsein und den für diese relevanten Faktoren nicht zulässt (vgl. Deppe 1981, S. 77–79).
Die 1970er: Aufschwung von Marx-Rezeption und Arbeiterbewusstseinsforschung
In den 1970er Jahren wurde auf Grundlage einer insbesondere in der universitären Arbeitssoziologie (unter dem Eindruck der studentischen Protestbewegung) intensivierten Marx-Rezeption der Versuch der empirischen Erfassung von politischem Klassenbewusstsein maßgebend für viele Forschungsansätze, verstanden als Suche nach „einem einheitlichen Arbeiterbewusstsein und einem in Klassenkategorien gefassten gesellschaftlichen Subjekt“ (Grimm et al. 2022, S. 5).
Exemplarisch kann hier die „wirkmächtige“ Studie „Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein“ von Horst Kern und Michael Schumann aus dem Jahr 1970 genannt werden, in der die Autoren die Korrespondenz zwischen sich auf Grundlage technologischer Entwicklungen ausdifferenzierenden Arbeitstätigkeiten und Formen des Arbeiterbewusstseins untersuchten (vgl. Menz 2009, S. 22–23). Dafür wurden, ähnlich wie schon bei Popitz/Bahrdt, bestimmte Einstellungen der Arbeiter abgefragt, die sich im Fall dieser Studie speziell auf die Arbeit und die Arbeits-Zufriedenheit fokussierten und nach Arbeitsinhalt, Arbeitsbelastung und den Betriebsbedingungen gegliedert waren. Die Autoren konnten dabei empirisch sowohl differenzierte Arbeitseinstellungen als auch ein weitverbreitet instrumentelles, an reinen Lohngewinnen orientiertes Bewusstsein gegenüber der eigenen Arbeit ausmachen. In Bezug auf die auch hier relevante Frage nach den politischen Handlungspotenzialen der (Industrie-)Arbeiter verleiten diese Ergebnisse die Autoren zu eher pessimistischen Prognosen (vgl. ebd. 2009, S. 23–26) – eine Interpretation, an der sich für die weitere Entwicklung der arbeitssoziologischen Bewusstseinsforschung methodologisch wie theoretisch zentrale Kritikpunkte entzündeten. So wurde vor allem eine defizitäre Subjekt- und Akteurskonzeption der Studie bemängelt. Zwar wird, in Kontinuität von Popitz/Bahrdt, der Stellenwert von politischer Praxis und entsprechenden Organisationen wie Gewerkschaften und Parteien als entscheidender Faktor der Herausbildung und Formung des Lohnabhängigenbewusstseins durchaus anerkannt – sie könnten Orientierung in Bezug auf gesellschaftliche Entwicklungsperspektiven und vor allem der individuellen Rolle der jeweiligen Arbeiter und Arbeiterinnen bieten (vgl. Deppe 1981, S. 109). Theoretisch ge- und empirisch erfasst wird politisches Klassenbewusstsein allerdings eben erst auf dieser Ebene explizit „organisierter Interessenpolitik und politischer Präferenzen“ (Menz 2009, S. 40), während die zahlreichen individuellen Meinungen, Einstellung und Verhaltensweisen der untersuchten Arbeiter nur als unzusammenhängende, höchstens nach oberflächlicher Ähnlichkeit zu typologisierende Vielfalt erscheinen, statt sie als wirkmächtige Vor- und Elementarformen politischen Klassenbewusstseins zu verstehen und Bedingungen wie Formen ihrer Vermittlung zu analysieren (vgl. Deppe 1981, S. 52–53; Menz 2009, S. 40–41). Statt also die vielfältigen Elemente vom Arbeiterbewusstsein und ihr Wirkungsverhältnis untereinander ernst zu nehmen, beschränkten sich die Autoren der Untersuchung allein auf das Moment betrieblicher Kooperationsbeziehungen, um aus den dabei gemachten Arbeitserfahrungen heraus ein Arbeiterbewusstsein zu bestimmen. Da aber gleichzeitig der Anspruch eines damit feststellbaren ganzheitlichen Bewusstseins aufrechterhalten wird, landet diese wie viele vergleichbare Studien ihrer Zeit in der Interpretation ihrer Ergebnisse bei strukturalistischen wie deterministischen Verkürzungen, denen zufolge allein aus den Lohnarbeitsverhältnissen resultierende, zweckrationale Orientierungen an Lohn und Arbeitskraftschonung als für die Arbeiter handlungsrelevant anzusehen seien (vgl. Deppe 1981, S. 50–51; Westerheide 2022, S. 57; Mayer-Ahuja und Menz 2021, S. 25–26; Menz 2022, S. 149). Diese erscheinen hier also letztlich als rein passive Rezipienten objektiver gesellschaftlicher Strukturen (und hierbei auch primär nur der des betrieblichen Arbeitszusammenhangs), nicht als ebenso in außerbetrieblichen Erfahrungsbereichen verankerte und zu aktiver Reflexion, Kritik und Beeinflussung dieser Strukturen fähige Subjekte (vgl. Mayer-Ahuja und Menz 2021, S. 25) – eine Kritik, die Kern/Schumann im Nachhinein selbst angenommen haben (vgl. Menz 2009, S. 26–27). Infolgedessen wurden von den Arbeitern gegenüber ihrer Arbeit und sich selbst formulierte normative und inhaltliche Ansprüche zwar durchaus empirisch registriert, konnten theoretisch aber nicht kohärent integriert und interpretiert werden und wurden als bloße Abweichungen oder Übernahme bürgerlicher Ideologie abqualifiziert (vgl. ebd. 2009, S. 23–26; S. 39–40; Westerheide 2022, S. 57).
Die Studien der frühen 1970er Jahr und deren kritische Reflexion brachten zahlreiche Erkenntnisse für die weitere arbeitssoziologische Bewusstseinsforschung mit sich: Zum einen lässt sich das Arbeiterbewusstsein z.B. nicht rein linear aus den technologisch-ökonomischen Bedingungen des Arbeitsprozesses ableiten – dessen Erfahrungen können unterschiedlich verarbeitet werden. Zum anderen kann bei einer adäquaten Analyse eben dieses Verarbeitungsprozesses nicht auf die Analyse qualitativ-normativer Interessen und politisch-gesellschaftlicher Faktoren der außerbetrieblichen Erfahrungswelt verzichtet werden (vgl. Hense und Schad 2022, S. 13; Deppe 1981, S. 111).
Dass diese Defizite nicht zwangsläufig mit dem marxistischen Theorie- und Begriffsapparat, sondern vielmehr mit dessen Rezeption zusammenhängen dürften, zeigten darüber hinaus zwei Studien, die ebenfalls in den 1970er Jahren diese Kritikpunkte zumindest teilweise in ihren Ansätzen aufhoben und mit einem marxistischen Selbstverständnis verfasst wurden. So wird bei Eckart et al. (1975) der Status der Arbeiter als Subjekte insofern ernst genommen, als deren Bewusstseinsformen in Zusammenhang mit arbeitsbezogenen Konflikten untersucht werden – wenn auch deren Ansprüche auf Anerkennung ihrer arbeitsinhaltlichen Leistung abermals als bloß instrumenteller Bezug auf bürgerlich-normative Ideologie abqualifiziert werden (vgl. Menz 2009, S. 30). Eine marxistisch fundierte Begründung dieser Ansprüche leisteten wiederum Kudera et al. (1979). Sie verweisen darauf, dass die Tendenz zum instrumentellen Arbeitsverhältnis der Arbeiter objektiv im Tauschwertcharakter der Arbeitskraft verankert ist, dass bei dieser Analyse aber auch der Gebrauchswertcharakter der Lohnarbeit als konkrete Verausgabung subjektiver Fähigkeiten zu berücksichtigen ist, woraus Interesse an der Verwirklichung dieser Fähigkeiten erwachsen sollten, Auch wenn diese subjektiven Ansprüche im weiteren Verlauf der Studie nicht weiter historisch konkretisiert werden, theoretisch unterbestimmt bleiben und der ausgemachte Widerspruch von Tausch- und Gebrauchswert der Lohnarbeit somit in seiner konkreten Bewegungsform nicht adäquat bestimmt werden kann – die Frage, wie sich bestimmte Vorstellungen von Autonomie und Selbstverwirklichung in der Arbeitswelt konstituieren und artikulieren, wird nicht verfolgt - so wird ihm hier immerhin doch ein zentraler theoretischer Stellenwert in der Arbeiterbewusstseinsforschung eingeräumt (vgl. Menz 2009, S. 30–34).
Mikrosoziologisch-qualitativer Turn in den 1980ern
Nichtsdestotrotz hat der weitverbreitete Fehlschluss, Klassenbewusstsein sei als konstituierender Faktor eines politischen Subjekts eine quasi zwangsläufige Reaktion auf kollektiv-homogene Arbeitsbedingungen und Erfahrungen, im Anschluss an die Ausdifferenzierung von Lohnarbeitstätigkeiten innerhalb und jenseits der Industriearbeit sowohl zu einer Verabschiedung von Theoremen der marxistischen Klassentheorie als auch einer theoretischen, methodischen und empirischen Ausdifferenzierung arbeitssoziologischer Bewusstseinsstudien beigetragen (vgl. Grimm et al. 2022, S. 6). Diese Entwicklung findet im Zusammenhang mit dem generellen sozialwissenschaftlichen Abschied von Klassentheorien im Verlauf der 1980er Jahre statt (soweit sie im Mainstream überhaupt eine Rolle gespielt hatten), in dessen Rahmen mit dem Klassenbegriff auch die Frage nach Klassenbewusstsein und Klassenformierung für historisch überholt oder obsolet erklärt wurde. An deren Stelle trat im sozialwissenschaftlichen Mainstream eine breit aufgestellte „Ungleichheits“-Forschung; neue Paradigmen wie das der „Individualisierung“ (vgl. Beck 1983) sorgten für eine stärkere Fokussierung auf Fragen der subjektiven Vergesellschaftung und Kultur. Man versuchte, verstärkt die Individuen und die Rekonstruktion ihrer subjektiven Verarbeitung objektiver lebens- und arbeitsweltlicher Erfahrungen in den Fokus zu nehmen. Eine solche subjektorientierte Herangehensweise, die den analytischen Nachvollzug der Verarbeitungsprozesse von Arbeitserfahrungen, auch in Zusammenhang mit lebensweltlichen Erfahrungen, in den Mittelpunkt rückte, ging zwangsläufig mit einer Erweiterung des theoretisch-konzeptionellen wie methodischen Instrumentariums der Forschung einher (vgl. ebd. 2022, S. 6; Hense und Schad 2022, S. 13). Infolgedessen wandelten sich die bevorzugten Erhebungsverfahren von quantitativen Erhebungen und Expert*inneninterviews hin zu qualitativen Verfahren zur Rekonstruktion komplexer Sinnstrukturen und Beschäftigteninterviews (vgl. Mayer-Ahuja und Menz 2021, S. 26). Mit diesem „Turn“ zu Fragen lebensweltlicher Differenzierung und Individualisierung ergab sich aber interessanterweise auch die Möglichkeit, den in der marxistischen Kritik an der bisherigen Bewusstseinsforschung formulierten Ansprüchen der Berücksichtigung des konstruiert-prozessualen Charakters von Klassenbewusstsein zumindest methodologisch deutlich eher gerecht zu werden.
Revival der arbeitssoziologischen Bewusstseinsforschung?
Fand im Verlauf dieses mikrosoziologisch-qualitativen Turns in der Arbeitssoziologie auch eine zunehmende Distanzierung vom ursprünglichen Selbstverständnis arbeitssoziologischer Bewusstseinsforschung und damit auch ihrer klassischen Studien statt, so wird in zahlreichen Studien der jüngeren Vergangenheit wiederum auf eben jenen Forschungsstrang explizit Bezug genommen. Teilweise wird gegenwärtig bereits von einer „Revitalisierungsphase der Bewusstseinsforschung“ (Menz 2022, S. 149) gesprochen (vgl. Beck und Westheuser 2022, S. 5), auch wenn die Untersuchung etwa von Gesellschaftsbildern oder Einstellungs- und Orientierungsmustern von Lohnabhängigen heute selbstverständlich anders gelagert ist und den klassischen Konzeptionen nur bedingt folgt. Ausgangspunkt sind dabei die zahlreichen technologisch-organisationalen und beschäftigungsstrukturellen Entwicklungsprozesse der gegenwärtigen Arbeitswelt, oftmals unter Stichwörtern wie „Neoliberalismus“ oder „Flexibilisierung“ gefasst, aber auch Fragen nach der Krisenwahrnehmung, von Solidaritäts- und Spaltungslinien unter Lohnabhängigen und (möglichen) Formen ihrer politisch rechten Verarbeitung. Die entsprechenden Krisen- und Prekarisierungsprozesse waren der Anlass für eine Fülle arbeitssoziologischer Studien, die sich der Frage nach deren Verarbeitung durch verschiedene Fraktionen der Arbeiterklasse der Gegenwart stellten (vgl. Grimm et al. 2022, S. 6–7; Schumann 2016, S. 556). Ganz im Sinne der klassischen Bewusstseinsforschung wird die Relevanz solcher Studien mit Verweis auf gesamtgesellschaftliche Veränderungen mit politischen, ökologischen und sozialen Dimensionen, in die die arbeitsweltlichen Entwicklungen eingebettet seien, begründet und das Interesse an ihren Ergebnissen erklärt (vgl. Grimm et al. 2022, S. 7). Abermals drängt sich in diesem Krisenkontext die Frage auf nach der (Des-)Integration lohnabhängig Beschäftigter in die kapitalistische Gegenwartsgesellschaft wie ebenso die Frage nach den Potenzialen der politischen Orientierungen dieser Bevölkerungsgruppe (vgl. Schumann 2016, S. 555; Westerheide 2022, S. 56). Die Defizite der historischen Ansätze bleiben dabei jedoch keineswegs unreflektiert. Ohne den gesellschaftspolitischen Anspruch aufzugeben, wird in der untersuchten Empirie und den über sie getroffenen Aussagen auf das Ziel einer „mittleren Reichweite“ orientiert, die sowohl vorschnellen Generalisierungen und Subsumptionen unter Typologien des Arbeiterbewusstseins vorbeugen als auch Verallgemeinerungen über einzelne Beschäftigtengruppen oder Betriebe hinaus ermöglichen soll (vgl. Mayer-Ahuja und Menz 2021, S. 27; Menz 2022, S. 149).
Als ein Ausgangspunkt der jüngeren Auseinandersetzung ist die Prekaritäts- und Prekarisierungsforschung zu nennen, die sich mit den Auswirkungen unsicherer Arbeits- und Lebensverhältnisse und deren subjektiver Verarbeitung beschäftigt. Erste Befunde und Hinweise auf (mitunter rechtspopulistisch gewendete) Formen der Krisenverarbeitung, Resignation oder subjektiven Wettbewerbshärte finden sich bereits in zentralen Pionierstudien (vgl. Brinkmann et al. 2006), in späteren Beiträgen wurden diese und ähnliche Momente dann vertieft: Etwa in der Forschung zu den Auswirkungen der aktivierenden Hartz-IV-Arbeitsmarktpolitik (vgl. Dörre et al. 2013), zur Erfahrung widersprüchlicher Ordnungsrahmen in der Leiharbeit (Kratzer et al. 2015) oder zum Dienstleistungsproletariat (vgl. Bahl und Staab 2010) – um nur einige aufzurufen. Dabei wird die Untersuchung von Gesellschaftsbildern und Bewusstsein teilweise explizit wieder aufgegriffen (vgl. Dörre 2013).
Hierbei nimmt die Frage nach dezidiert rechten Momenten von Lohnabhängigenbewusstsein aus offensichtlichen Gründen einen besonderen Stellenwert in der jüngeren Forschung ein: Vor dem Hintergrund einer neuen Mobilisierungsstärke rechter und populistischer Formationen wie der AfD oder Pegida speziell bei Teilen der Arbeiterschaft wird etwa die Gefahr einer „Arbeiterbewegung von rechts?“ (Dörre et al. 2018; Becker et al. 2018) und die Bedeutung von Abstiegsangst und Deklassierungserfahrungen als Ansatzpunkte rechter Politisierung diskutiert (vgl. Brinkmann et al. 2020), wobei den Gewerkschaften eine besondere Rolle als Austragungsort und Instanz der kollektiven Meinungsbildung zukommt (vgl. Sauer et al. 2018). Unter anderem mit der Frage nach gegenläufigen Momenten und Ansatzpunkten einer möglichen linken Politisierung (vgl. Köster und Lütten 2019) rückt im Anschluss daran aber auch die Frage nach Solidarität und Momenten progressiv unterlegter Kollektivität wieder vermehrt in den Fokus – exemplarisch etwa bei Thomas Goes (2015), der Deutungsmuster prekär Beschäftigter auf dezidiert solidarische und kollektive Orientierungen hin untersucht hat. Und auch im Bereich der Jugend- und Protestforschung wurden prekäre Erfahrungen, deren Wahrnehmungen sowie die subjektive Verarbeitungsformen junger Lohnabhängiger im Kontext von Unternehmens-, Transformations- und Klimakrise(n) empirisch untersucht (vgl. Karg und Laßhof 2021) – hierbei wurde auf die Bedeutung der (nicht-)gelebten Reziprozitätsbeziehungen (also der mit dem Lohnarbeitsverhältnis verbundenen wechselseitigen Erwartungen von Sicherheit, Anerkennung und Verlässlichkeit) für die jeweiligen Wahrnehmungen und subjektiven Verarbeitungsformen verwiesen. Der Rückgriff auf die kanonischen Bestände der Gesellschaftsbilder- und „Arbeiterbewusstseinsforschung“ erfolgt hier bisher insgesamt eher unter empirisch-methodischen Gesichtspunkten und zielt weniger auf die Rekonstruktion der so ambitionierten wie teils hochkomplexen theoretischen Auseinandersetzung.
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Wie sich die arbeitssoziologische Auseinandersetzung mit dem Bewusstsein der Lohnabhängigen entwickeln wird, ist in diesem Sinne noch offen und abzuwarten. Klar ist, dass sich eine Reihe von Fragen allein schon vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Krisendynamiken der vergangenen Jahre völlig neu stellen und etwa das Verhältnis von betrieblicher Erfahrung, subjektiver soziokultureller Prägung und außerbetrieblicher Krisenerfahrung womöglich anders gelagert ist als zu Zeiten der älteren paradigmatischen Untersuchungen (vgl. Mayer-Ahuja und Nachtwey 2021). Zu untersuchen bliebe ferner, welche sozialen Instanzen als zentral für die Bildung und Vermittlung von Bewusstsein identifiziert werden müssen, ist doch der betriebliche Erfahrungskontext heute teils stark fragmentiert – womit der Betrieb als „Formierungsbasis der Arbeiterklasse“ (IMSF 1984) möglicherweise eine andere Rolle spielt als früher. Zu vermuten ist ferner, dass „Arbeiterbewusstsein“ sich heute angesichts beruflicher und lebensweltlicher Differenzierung noch einmal deutlich heterogener darstellt als früher und daher womöglich viel stärker noch als bisher von verschiedenen Gruppen und Fraktionen der Lohnabhängigen ausgegangen werden muss (vgl. z.B. Vester et al. 2007). Für linke Politik wiederum stellt sich vor allem die Frage, wo in den beruflichen und sozialen Selbstverortungen von Beschäftigten sowie deren politisch-sozialer Verarbeitung alltäglicher Klassenerfahrung Ansatzpunkte für ein politisches Klassenbewusstsein identifiziert werden können.
Literatur
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