Lula gewinnt, aber der Bolsonarismus bleibt

Eingestellt, 1.11.2022

01.11.2022
von Andreas Nöthen

Das war knapp – mit nur 50,9 Prozent der Stimmen ist Luiz Inácio Lula da Silva in der Stichwahl gegen Amtsinhaber Jair Bolsonaro hauchdünn zum Präsidenten gewählt worden. Noch nie war es so eng: Nur 1,6 Millionen Stimmen trennten die Kontrahenten. Am Ende kann Lula dem Nordosten danken. Sein Stimmenvorsprung dort reichte, um sich als Sieger über die Ziellinie zu schleppen. In allen anderen Regionen lag Bolsonaro vorne. Im Süden sogar sehr deutlich mit teilweise 70 Prozent der Wählerstimmen. Nichtsdestotrotz wird Lula am 1. Januar 2023 die dritte Amtszeit als Staatschef antreten – erstmals in der Geschichte Brasiliens.

Für die Amazonasregion, für Brasilien und den Rest der Welt bedeutet dieses Votum: Aufatmen. Aufatmen deshalb, weil Jair Bolsonaro keine zweite Amtszeit bekommt, sein zerstörerisches Werk an Gesellschaft, Staat und Umwelt fortzusetzen. Demokratische Kräfte haben gesiegt. Das ist die gute Nachricht – auch wenn wiederum gut 30 Millionen sich mit keinem der beiden anfreunden konnten.

Die schlechte Nachricht ist: Auch ohne Jair Bolsonaro an der Spitze bleibt der Bolsonarismus Brasilien bis auf weiteres erhalten. Die teilweise radikalisierten und bis unter die Zähne bewaffneten Anhänger ihres „Mito“ – übersetzt Mythos, so der Spitzname Bolsonaros im Kreise seiner militanten Gefolgschaft – werden sicher nicht plötzlich verstummen und aus der Gesellschaft verschwinden. Mit einem deutlich nach rechts gerückten Kongress, rechts-konservativen Gouverneuren in den wichtigsten Bundesstaaten und gestärkten Fraktionen der Waffenlobby, Großgrundbesitzer und evangelikalen Pfingstkirchen und einem vom Militär durchsetzen Staatsapparat dürfte es für Lula zudem alles andere als leicht werden, das fünftgrößte Land der Erde, die zweitgrößte Demokratie Amerikas in eine bessere Zukunft zu führen.

Man sieht: Lula und die Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) scheinen nur vordergründig alles richtig gemacht zu haben. Das Minimalziel wurde erreicht. Aber die nach wie vor hohe Zahl von Nichtwählern ist beispielsweise eine Sache, die den Verantwortlichen in der Partei zu denken geben sollte. Bis heute gab es keine Versuche, das Gewesene intern aufzuarbeiten und öffentlich Besserung zu geloben, kein „mea culpa“ oder „wir haben verstanden“. Das hat bis heute viele durchaus treue und langjährige PT-Wähler verprellt. Und auch die hohe Zahl der Wählerstimmen, die nötig waren, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine ganze Menge Brasilianer in Lula bestenfalls das kleinere Übel gesehen hatten.

Auf Lula und seine Regierung wartet nun jede Menge Arbeit. Zunächst muss aus der extrem überdehnten Front, die Lula an Unterstützern zusammengesammelt hatte, eine funktionierende Regierung gebildet werden. Von Links bis weit in die Mitte und sogar ins eher rechte Spektrum haben sich Politiker und Parteien hinter den Altmeister gestellt und wollen nun ein Stück vom Kuchen abhaben. Sie werden sich beobachten und belauern. Wie lange ein solches Gebilde halten wird, ist fraglich.

Es hat schon ordentlich an der Basis rumort, als Lula – übrigens aufgrund einer Idee von Fernando Haddad, dem PT-Kandidaten für das Gouverneursamt von Sao Paulo und PT-Präsidentschaftskandidaten 2018 – Geralso Alckmin zum Vize-Kandidaten ernannte. Alckmin, der 2006 noch selbst gegen Lula in der Stichwahl stand, passt inhaltlich kaum zu Lula. Aber sie ergänzen sich: Alckmin ist ein regierungserfahrener Verwaltungsmann, das Bindeglied zu Oberschicht und Wirtschaft. Wahrscheinlich wird auch Simone Tebet und ihre Partei MDB (Movimento Democrático Brasileiro) mit einem Ministerinnenposten belohnt werden. Jene Partei also, die 2016 Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff die Koalition aufkündigte und mit Michel Temer als Interimspräsident Bolsonaros Aufstieg den Weg ebnete.

Gut möglich, dass die verschiedenen linken bis linksextremen Strömungen innerhalb der PT da Probleme haben werden, sich inhaltlich wiederzufinden. Doch einen Zwei-Fronten-Krieg – einen nach außen und einen nach innen an der Basis, könnte einen Präsidenten Lula aufreiben, der in dieser Amtszeit ohne seine alten engsten Verbündeten in der PT auskommen muss, die ihm viel Arbeit nach innen abnahmen und die Wogen glätteten.

Auch ein Blick auf die Rahmenbedingungen lässt vermuten, dass die kommende Legislaturperiode kein Selbstläufer sein wird. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind mau. Diesmal erwartet Lula kein vom Vorgänger gut bestelltes Feld. Vielmehr ein großes Land, das nach jahrelanger Wirtschaftskrise, einer Pandemie, die das Land übler erwischte als die meisten anderen, und bei einem nach wie vor großen Misstrauen in die Politik und das Funktionieren der Demokratie – Stichwort: Korruption – stark verunsichert ist.

Vielleicht hat Lula Glück, dass die aktuell sich neu sortierende Weltordnung und die Neuorientierung Europas auf der Suche nach zuverlässigen und demokratischen Energielieferanten den Übergang etwas leichter gestalten, als es bisher aussieht. Es wäre nach 2003 der zweite Commodities-Boom, von dem seine Regierung profitieren könnte. Aber wird es abermals reichen, einfach viel Geld in Umverteilungsprozesse zu pumpen? Zumal Bolsonaro in den letzten Zügen seiner Amtszeit dem Staatshaushalt mit seinen „Orcamentos secretos“ (Schatten-Haushalten) eine 60 Milliarden Reais (Brasilianische Währung Real) schwere Hypothek hinterlassen hat.

Und hinter all diesen Fragezeichen steht noch ein weiteres, langfristigeres: Wer soll eigentlich nach vier arbeitsreichen Jahren Lula als Galionsfigur der Linken beerben? Wer hat überhaupt das Zeug, in die übergroßen Fußstapfen des Mannes zu treten, der, mit nun 77 Jahren, seit fast einem halben Jahrhundert die Politik Brasiliens maßgeblich mitprägt?

Und über allem wird der Geist Bolsonaros weiter schweben. Vielleicht nicht in seiner Person. Aber es gibt genügend andere, teilweise noch radikalere, die diese Lücke schließen werden. Lula mag die Wahl gewonnen haben. Gesiegt hat allerdings vorerst der Bolsonarismus.

Lula hat gut daran getan, gleich nach dem Wahlsieg in seiner ersten Rede versöhnliche Töne anzuschlagen. Er muss versuchen, in den kommenden Jahren so viele Brasilianer wie möglich hinter sich zu scharen. Auch solche, die jetzt noch anders entschieden. Und noch etwas macht Hoffnung: Gleich nach der Entscheidung ließen wichtige Verbündete von Bolsonaro, etwa Parlamentspräsident Arthur Lima oder der Kandidat für das Gouverneursamt in Rio Grando do Sul, Ex-Minister Onxy Lorenzoni, keine Zweifel daran, dass sie das Wahlergebnis akzeptieren werden. Auch aus dem Ausland, allen voran den USA, kamen prompt Glückwünsche. All das setzt Bolsonaro unter Druck ebenfalls das Ergebnis der Wahl anzuerkennen und den Finger vom Abzug zu nehmen.