Nur knapp zwei heiße Sommermonate lagen zwischen dem unerwarteten Rücktritt Mario Draghis und dem Termin für Neuwahlen. Er war 2020 angetreten, um das Land durch die schwere Corona-und Wirtschaftskrise zu führen, entzog sich aber der zunehmend konfliktschwangeren Lage seines Landes auf ungewöhnliche Weise: Er reichte seinen Rücktritt ein, obwohl das Parlament ihm am 14. Juli 2022 sein Vertrauen bestätigt hatte. In dem Moment war schon absehbar, dass das rechte Lager mit Giorgia Meloni eine Neuwahl gewinnen würde. Unterstützt wurde diese Aussicht auch durch die sofortige Weigerung des stärksten politischen Gegners, Enrico Letta (PD), ein breites Gegenbündnis der Opposition inklusive 5-Sterne-Bewegung aufzustellen, um „die faschistische Gefahr“ zu bannen. Das war ein Verlustspiel von Beginn an, denn die PD lag in den letzten offiziellen Voraussagen nur bei etwa 20% gegenüber den über 40% des Rechtsbündnisses aus Giorgia Melonis Postfaschisten, Salvinis Lega und Berlusconis Forza Italia.
Aber von den 51 Mio. Wahlberechtigten haben am 25. September 2022 gut 36% von ihrem einst hart erkämpften Recht keinen Gebrauch mehr gemacht. Die Nichtwähler sind inzwischen zur stärksten (Nicht-) Partei geworden und umfassen einen beträchtlichen Teil nicht nur der unteren, weniger informierten Schichten, sondern auch all derer – einstige Linke, Kommunisten – die keine politische Heimat mehr haben. Und dort, wo es an der Basis und in den Peripherien kaum noch Linke gibt, breiten sich extreme Formationen des rechten Spektrums aus. Diese Tendenz zur zunehmenden Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsschichten (siehe USA) scheint für die heute führenden Partei-Unternehmen kein Problem darzustellen. Im Gegenteil, man bleibt unter sich.
Der Wahlsieg Giorgia Melonis, der ersten Frau an der Spitze einer Partei (Fratelli d’Italia), die mit 26% ein Rechtsbündnis von insgesamt knapp 44% anführt, ist der Epilog eines seit drei Jahrzehnten währenden wirtschaftlichen und politischen Niedergangs, einer Entwicklung nach rechts, die das Nachkriegs-Belpaese auch kulturell so stark verändert hat, dass viele Menschen sich nicht mehr zurechtfinden.
Nach dem Ende der sogenannten Ersten Republik mit der Auflösung des Parteiensystems des antifaschistischen Verfassungsbogens (1992/93), hat Silvio Berlusconi mit seiner medialen Präsenz einen ideologischen Siegeszug des Neoliberalismus gestartet mit verstärkten Angriffen auf die konstitutionelle Verfasstheit des Landes. Viele Institutionen wurden nachhaltig geschwächt. Ein massiver Antikommunismus ersetzte den republikanischen Antifaschismus. Berlusconi übernahm 1994 gleich fünf MSI-Minister in seine erste Regierung und machte das faschistische Movimento Sociale Italiano (MSI) als Alleanza Nazionale (AN) mit Gianfranco Fini hoffähig. Der Jungfaschistin Giorgia Meloni übertrug er ein Ministeramt und bereits 2008 das einer stellvertretenden Parlamentspräsidentin.
Die schon lange bestehende Distanz zwischen Politikern und Wahlvolk wurde bei diesem Wahlgang auf ein Maximum verstärkt durch das berüchtigte „Rosatellum”-Wahlgesetz, das die Stimmabgabe der Wähler einseitig repräsentiert. Es kombiniert – wie alle seine Vorgänger seit 1993 – proportionale und majoritäre Wahlmodi miteinander. Die stimmenstärkste Partei bzw. Koalition wird mit einem üppigen Mehrheitsbonus belohnt, der deren Gewicht im Parlament auf mindestens 60% der Abgeordneten verstärkt, also nahe der Zweidrittelmehrheit, mit der Verfassungsänderungen durchsetzbar sind. Auch sind die Abgeordneten nicht mehr – wie einst – lokal verankert und an ihre Wähler gebunden. Sie werden allein von den Partei-Spitzen bestimmt und stehen zu diesen wie Vasallen. Die Repräsentanz des Wählerwillens wird nicht mehr garantiert und die sich nicht vertreten fühlenden Wähler wenden sich mehr und mehr von der Politik ab. Was zeigt, dass mit einem Mehrheitsbonus das Votum der Wähler so gelenkt werden kann, dass bestehende Machtverhältnisse nicht in Frage gestellt werden. Die Regierungen Berlusconis waren beispielhaft dafür.
Dieses vom Verfassungsgericht bereits bei vorhergehenden Wahlgesetzen als verfassungswidrig verworfene Defizit der fehlenden Repräsentanz haben die Parteien denn auch bisher nie reformiert, ebenso wenig wie die langatmigen Modalitäten einer Regierungsbildung. Allein die Anzahl der Volksvertreter in beiden Kammern ist 2019 von über 900 auf 600 verringert worden – vorgeblich um die Kaste der Politiker zu schwächen, wie die 5-Sterne erhofften – ein Boomerang.
Die im Januar 1948 in Kraft getretene antifaschistische Verfassung der Republik, eine der fortschrittlichsten Europas, steht bis heute im Visier der Rechten, sie soll aus den Angeln gehoben werden. Und nun peilt die Rechtskoalition sogar erneut die Durchsetzung eines Präsidialsystems an, sowie eine ökonomische Spaltung der Nation in arme und reiche autonome Regionen, aller national(istisch)en Ideologie zum Trotz. Das würde das Ende der antifaschistischen Republik Italien bedeuten. Doch die neue Regierung wird sich mit vielem anderen beschäftigen müssen. Alle die Zukunft entscheidenden finanziellen Maßnahmen stehen an; der Haushalt für 2023 wird noch von Mario Draghi vorbereitet, der erste Entwurf ist am 15. Oktober fällig. Aber alle Zahlen dafür zeigen weiter nach unten, und der Einwurf der Financial Times am 28. Juli, eine Regierungskrise in einer so brisanten Lage wie der Italiens zwischen Ukraine-Krieg, Energiekrise und Inflation sei denkbar inopportun, lassen keinen Optimismus aufkommen.
Offenbar kommt diese Rechte den „poteri forti” im Hintergrund gar nicht so ungelegen, wie vielfach vermutet. Meloni gibt sich seit längerem staatsmännisch, hat nicht nur im Vatikan, sondern auch bereits in den USA vorgesprochen, steht nun auch fest zur NATO, zur EU und zum Ukraine-Krieg und hat vor, die bestehenden sozialen Verhältnisse, d.h. die tiefe Spaltung der italienischen Gesellschaft weiter zu zementieren: sie will die Steuern (der Reichen) senken und den Armen ein paar Brosamen lassen, die südlichen Immigranten fern und alle zivilen Rechtsansprüche stark im Zaum halten.
Dagegen will sich die zersplitterte und lädierte Opposition in Italien bald neu organisieren, denn der soziale Konsens kann brechen, wenn der großen Ungleichheit zwischen Arm und Reich, zwischen Norden und Süden nicht abgeholfen wird. Immense Probleme stehen in nächster Zukunft an, die im Wahlkampf nicht auftauchten: neben Krieg und Frieden vor allem Umwelt und Klima, und den absehbaren Stürmen wird man nicht nur mit „law and order” begegnen können.
Venedig, 27.9.2022
Eine erweiterte Fassung erscheint in
Lunapark 21, Heft 59/2022