In kaum einem anderen Zusammenhang tritt die Scheinheiligkeit des Westens in Sachen Menschenrechte, Demokratie und Freiheit so offen zutage wie im Fall Julian Assange. Seit nunmehr dreizehn Jahren ist der Journalist und Gründer der EnthüllungsplattformWikiLeaks seiner Freiheit beraubt. Für seine investigative Enthüllungsarbeit wie im Video „Collateral Murder“, das die Ermordung irakischer Zivilisten, darunter zwei Journalisten der Agentur Reuters, durch die US-Armee im Irak dokumentiert oder den Kriegstagebüchern des NATO-Krieges in Afghanistan, soll Julian Assange bis zum Tode weggesperrt bleiben. Mit der Entscheidung der britischen Innenministerin Priti Patel Mitte Juni ist seine Auslieferung an die USA nun einen Schritt näher gerückt.
Nachdem das Anwaltsteam von Julian Assange am britischen High Court Berufung gegen die Entscheidung der konservativen Hardlinerin eingelegt hat, geht das schier endlose Verfahren in die nächste Runde. Anders als der chilenische Diktator und Massenmörder Augusto Pinochet, der seine „Auslieferungshaft“ um die Jahrtausendwende in London unter Hausarrest in einer schicken Villa mit Aufwartungen zahlreicher prominenter Unterstützer, unter anderen Ex-Premierministerin Margaret Thatcher, genoss, fristet Assange seit drei Jahren ein unwürdiges Dasein im britischen Hochsicherheitsknast Belmarsh, während das Damoklesschwert der Auslieferung in die USA über ihm schwebt. Wegen seiner publizistischen Arbeit in Kooperation mit Medienhäusern wie dem SPIEGEL, der New York Times und dem Guardian drohen Assange dort bis zu 175 Jahre Haft. Auf der Grundlage des Espionage Acts – einem Gesetz aus der Zeit des Ersten Weltkriegs zur Verfolgung von Spionen und Saboteuren – soll der WikiLeaks-Gründer weggesperrt werden. Mit dieser unsäglichen Anklage wird Journalismus zum Verbrechen erklärt. Nicht ohne Grund warnen weltweit Journalisten- und Pressefreiheitsorganisationen davor, mit der Auslieferung von Assange einen gefährlichen Präzedenzfall für andere Medien und Journalisten zu schaffen.
Es ist ein großer Erfolg, dass sich anderthalb Jahre nach Gründung der fraktionsübergreifenden Arbeitsgemeinschaft „Freiheit für Julian Assange“ Anfang Juli erstmals der Deutsche Bundestag dieser Warnung angeschlossen hat. Mit der Annahme einer Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses verurteilten alle Fraktionen mit Ausnahme der CDU/CSU die politische Verfolgung von Julian Assange als Angriff auf die Pressefreiheit und riefen die Bundesregierung dazu auf, sich für die Freilassung des Journalisten und Wikileaks-Gründers aus britischer Haft und die Nichtauslieferung an die USA einzusetzen. Dass die Unterstützung für Julian Assange an Zulauf gewinnt, zeigt auch eine gemeinsame Erklärung vom 7. Juli 2022: Darin haben sich mehr als 80 Abgeordnete fraktionsübergreifend gegen die Auslieferung von Julian Assange an die USA ausgesprochen – womit sich seit einem Schreiben deutscher Parlamentarier an das britische Unterhaus Anfang Mai binnen weniger Wochen die Zahl der Unterstützerinnen und Unterstützer im Bundestag für das Leben und die Freiheit von Julian Assange mehr als verdoppelt hat.
Ungeachtet des parlamentarischen Protests hält die Bundesregierung unbeirrt an ihrer Nibelungentreue zu Washington fest und lässt den Dissidenten des Westens im Stich. Dabei sitzen auf der Regierungsbank fünf Minister, die noch kurz vor der Bundestagswahl gefordert hatten, die Verfolgung des WikiLeaks-Gründers im Sinne der Verteidigung der Pressefreiheit einzustellen. Eine der Wendehälse ist die Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth. In Amt und Würden posaunt nun ausgerechnet das Grünen-Urgestein in die Welt hinaus, dass Assange im Fall einer Auslieferung ein „sehr faires Verfahren“ in den USA erhalten werde, also dem Land, dessen Geheimdienst nachweislich die Entführung und Ermordung des Journalisten geplant hat.
Gebetsmühlenartig verweist die Bundesregierung auf den britischen Rechtsstaat. Angesichts der unverhältnismäßigen Haftbedingungen, dem weitgehenden Ausschluss der Öffentlichkeit, dem Einsatz befangener Richter und zahlreicher weiterer Verfahrensfehler ist das nichts weiter als blanker Hohn. Seit Jahren kritisiert der inzwischen ehemalige UN-Sonderberichterstatter zum Thema Folter Nils Melzer, dass Assange sein Recht auf ein faires Verfahren „konsequent verwehrt“ werde. Mit seiner Feststellung, dass Assange angesichts der jahrelangen Verfolgung und unmenschlichen Haftbedingungen unter „psychologischer Folter“ leide, stieß Melzer schon vor Jahren bei Außenminister Heiko Maas auf taube Ohren.
Wer wie die Bundesregierung tatenlos dabei zusieht, wie der Journalist Julian Assange vor den Augen der Weltöffentlichkeit lebendig begraben wird, beraubt sich jeglicher Glaubwürdigkeit beim Beschwören von Demokratie und Menschenrechten. Die Auslieferung von Julian Assange steht bevor, doch noch ist es nicht zu spät. Schon allein um im eigenen Interesse Schadensbegrenzung zu betreiben, muss sich die Bundesregierung ernsthaft für die Freilassung von Julian Assange und die Beendigung seiner Anklage einsetzen. Journalismus ist kein Verbrechen und darf kein Verbrechen sein – auch wenn er westliche Kriegsverbrechen aufdeckt.