Verschiebungen im Weltsystem II

Streikrecht in China?

Expertentagung in Oldenburg – Ein Bericht

März 2011

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Eine erste deutsch-chinesische Konferenz zu Fragen der Koalitionsfreiheit, des Streikrechts und der Gewerkschaften fand am 27. November 2010 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg statt unter dem Titel „China & die Gewerkschaften“. Sie war vom Hamburger Institut für Arbeit – ICOLAIR organisiert worden. Dessen Leiter, der Hamburger Fachanwalt für Arbeitsrecht und Lehrbeauftragte für chinesisches Recht, Rolf Geffken, leitete auch die Veranstaltung, an der 50 Personen teilnahmen. Unter den 14 Referenten waren acht chinesische Experten. Zu ihnen gehörten der stellvertretende Vorsitzende der chinesischen Staatsratskommission zur Ausarbeitung eines neuen Arbeitsvertragsgesetzes Prof. Chang Kai von der Renmin Universität in Beijing, sowie zwei weitere Professoren, ein unabhängiger Publizist und zwei Anwälte.

Von deutscher Seite nahmen mehrere Professoren, Doktoranden, Anwälte und Gewerkschaftssekretäre an der Konferenz teil. In seinem Grußwort betonte der DGB-Regionsvorsitzende Manfred Klöpper, die Rechte der Arbeitnehmer in China hätten bislang nicht ausreichend im Fokus deutscher Gewerkschaften gestanden. Deshalb sei zu hoffen, dass die Tagung „praktische Konsequenzen“ haben werde.

In seinem Eröffnungsbeitrag hob Rolf Geffken hervor: „Die deutschen Gewerkschaften haben ein erhebliches Defizit in Sachen China.“ Darin würden sie sich von deutschen Unternehmen unterscheiden, die nun schon seit über 30 Jahren in China engagiert seien. Es sei das mittelfristige Ziel der Konferenz, einen Dialog zwischen deutschen und chinesischen Experten über gemeinsam interessierende Fragen gewerkschaftlicher Arbeit und der Entwicklung von Arbeitsbeziehungen zu beginnen. Dabei sei auch von Bedeutung, dass das so genannte deutsche „Sozialmodell“ in China als Vorbild für künftige Entwicklungen in im eigenen Land angesehen werde. Eigentlicher Anlass der Konferenz sei die erhebliche Zunahme der Aktivitäten der chinesischen Arbeiterschaft bei der Vertretung ihrer eigenen Interessen. Spätestens seit den Ereignissen bei Honda und Foxconn würde sich sogar die Europäische Handelskammer mit dem Thema „Streikrecht in China“ befassen. Vor diesem Hintergrund wagte der Konferenzleiter die These, dass die chinesischen Gewerkschaften und chinesischen Arbeitnehmer von den Erfahrungen deutscher Gewerkschafter und deutscher Arbeitnehmer mehr lernen könnten als von der Gegenwart deutscher Arbeitsbeziehungen. Die darin liegende Dialektik von Organisation und Kampf, von Streik und Gewerkschaft sei nicht nur für die chinesischen Gewerkschaften, sondern auch für die deutschen Gewerkschaften von höchster Aktualität.

Seine Ausführungen vertiefte der Konferenzleiter in seinen bereits vor der Konferenz vorgelegten „20 Thesen für einen Deutsch-Chinesischen Gewerkschaftsdialog“.

In dem ersten Themenabschnitt zu Wirtschaft und Gesellschaft im heutigen China referierte Michael Trautwein, Chinabeauftragter der Universität Oldenburg, zum Thema „Europäische Arbeitsmärkte und wirtschaftliche Entwicklung in China“. Dabei stellte er fest, dass es per saldo weniger um Standortverlagerung von Europa nach China, sondern um Produktionserweiterung gehe, die wiederum in Europa Beschäftigung und Einkommen sichere. Den europäischen Gewerkschaften sei zu empfehlen, eine Doppelstrategie zu fahren. Sie müssten sich gegen das Unterlaufen von anerkannten Arbeitsstandards wehren, indem sie die Nutznießer solcher Praktiken identifizierten und auf die Einhaltung solcher Standards drängten. Zum anderen müssten sie dazu beitragen, dass Gewinne, die im Zuge des Strukturwandels in Europa gemacht werden, zu dessen sozialverträglicher Abfederung genützt würden.

Helmut Peters, ehemaliger DDR-Sinologe und langjähriger Mitarbeiter der DDR-Botschaft in Beijing, referierte zum Thema „Arbeit und Kapital im Prozess der nationalen Renaissance der VR China“. In seinen neun Thesen entwickelte Peters eine Analyse der jetzigen Situation Chinas von einem marxistischen Standpunkt aus. Er vertrat die These, dass sich China in einem Prozess des Übergangs von einer im Wesentlichen vorkapitalistischen Gesellschaft zu einem „möglichen“ Sozialismus befände. Dem Transformationsprozess habe letztlich die Erkenntnis zugrunde gelegen, dass es in der bisherigen Geschichte des Sozialismus noch nirgendwo gelungen sei, eine im Vergleich zum heutigen Kapitalismus effektivere sozialistische Produktionsweise zu entwickeln. Aber die Dialektik zwischen Zusammenarbeit und Auseinandersetzung mit dem Kapital lasse den Ausgang des chinesischen Experiments als durchaus „offen“ erscheinen. In der Gewerkschaftspolitik der KP gäbe es zwar eine gewisse Bewegung. Dennoch seien wesentliche Ursachen für die mangelnde Funktionsfähigkeit der chinesischen Gewerkschaften nach wie vor nicht beseitigt. Es sei offenkundig, dass die objektiven und subjektiven Schwierigkeiten bei der Sicherung der gesellschaftlichen Stabilität zunehmen würden, wenn das Land wie bisher in „traditioneller“ Weise regiert werde.

In seinen zwanzig Thesen für einen deutsch-chinesischen Gewerkschaftsdialog hatte der Rolf Geffken demgegenüber Bezug genommen auf den Prozess der Industrialisierung Chinas, der mit einem Prozess „ursprünglicher Akkumulation“ einhergehe.[2] So wie China einen solchen Prozess jetzt durchlaufe, hätten die europäischen Industrieländer diesen Prozess im 19. Jahrhundert durchlaufen. Vergleichbare Entwicklungen gäbe es aber auch und gerade bei den um sich greifenden spontanen Aktionen chinesischer Arbeiter: Historisch sei dies nichts anderes als der Prozess der Entstehung von Gewerkschaften. Da die chinesischen Gewerkschaften allerdings immer noch eine völlig andere Funktion hätten und von diesen Bewegungen politisch, rechtlich und leider auch ideologisch abgekoppelt seien, enthielten sie allenfalls „die Möglichkeit einer Adaption kollektiver Handlungsformen“.

Chang Kai[3] von der Renmin-Universität Bejing referierte sodann zu den aktuellen Streiks in China sowie zum Verhältnis der Gewerkschaften zu Streiks generell. Er stellte fest, dass die Arbeitsbeziehungen Chinas auf bestem Wege seien, sich von einer „individuellen Ausrichtung“ auf eine „kollektive Struktur“ hinzubewegen. Tatsächlich seien Streiks zunächst keinesfalls „neue Erscheinungen“, sondern nur „gewöhnliche Phänomene unter den Bedingungen einer Marktwirtschaft“. Seit der Einführung der Marktwirtschaft in China seien Streiks unvermeidlicher Teil im Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung. Dabei dürfe man nicht vergessen, dass Streiks nie zufällig ausbrechen würden, sondern stets nur eine Art „Interessenverteidigung aus Not“ für die Arbeiter seien. Gerade die Streiks etwa bei Honda hätten gezeigt, dass im Falle ungerechter Behandlung der Arbeiter offizielle Institutionen fehlt, die in Vertretung der Arbeiterschaft mit den Unternehmen verhandeln könnten. Die chinesischen Gewerkschaften müssten sich vorwerfen lassen, dass sie im Wesentlichen untätig blieben, obwohl sie den Arbeitern einen starken Rückhalt in all diesen Konflikten hätten geben können. Um zu effektiven Konfliktlösungsmechanismen zu kommen, müssten zunächst die grundlegenden Arbeiterrechte anerkannt werden. Arbeitskonflikte dürften zudem nicht politisiert werden. Das gelte vor allem für die Lokalregierungen, die immer wieder die Staatsgewalt und sogar das Strafrecht gegen streikende Arbeiter einsetzen würden. Ferner müssten wegen des ungleichen Kräfteverhältnisses zwischen Arbeit und Kapital die Arbeiter vor willkürlichen Entlassungen, vor Bestrafungen und anderen gegen sie bestehenden Druckmitteln geschützt werden. Gerade deshalb sei es die Aufgabe wissenschaftlicher Experten, für die Arbeiter Partei zu ergreifen und dafür einzutreten, dass im Falle von Streiks strikt die geltenden Gesetze angewendet würden. Nur wenn legitime Interessenvertretungen auch gesetzlich geregelt seien, könnte echte soziale Stabilität erreicht werden.

Im Anschluss an die Diskussion ging die wissenschaftliche Mitarbeitern an der Universität Oldenburg Frau Xin Hou auf die Geschichte der chinesischen Gewerkschaften ein und schilderte deren Anfänge in den 20er Jahren sowie deren vorläufiges Ende in der Kulturrevolution.

In dem der Diskussion folgenden Themenkomplex ging es um die Thematik „Kollektivverträge, Streiks und betriebliche Konflikte“. Hierzu referierte zunächst der unabhängige chinesische Publizist Zhong Dajun. Sein Thema war „die Bürokratisierung der chinesischen Gewerkschaften“. Er ging dabei auf „die große Kluft zwischen Theorie und Wirklichkeit“ in China ein und verwies auf die chinesische Verfassung. In ihr genieße die chinesische Arbeiterschaft hohes Ansehen. Im wirklichen Leben Chinas allerdings sei der Status der chinesischen Arbeiter wesentlich niedriger angesiedelt. Nach Auffassung von Zhong sind die Gewerkschaften seien praktisch Verwaltungsorgane der Regierung. Gewerkschaftsführer seien auch gleichzeitig Regierungsbeamte. Die Kosten der Gewerkschaftsbürokratie würden vom Staat übernommen. Dies bestimme die grundlegende Arbeitsweise und das Auftreten der chinesischen Gewerkschaften. Sie verträten nicht primär die Interessen der Arbeiter, sondern in erster Linie die Interessen der Partei. Fast alle Streiks oder Proteste seien von den Arbeitern an den Gewerkschaften vorbei spontan organisiert worden. Die Arbeitervertretungen seien von den Unternehmen vollständig kontrolliert. In der Regel sei der Personalchef gleichzeitig auch der Gewerkschaftschef. Über zahlreiche Arbeitsniederlegungen würde in den chinesischen Medien nicht berichtet. Chinas Arbeiter wollten kämpfen. Damit sie aber ebenfalls von der rasanten Wirtschaftsentwicklung profitieren könnten, müssten sie ihre „eigenen unabhängigen Gewerkschaften gründen“. In zwei Punkten allerdings wird und kann es keine Änderungen geben: Chinas Gewerkschaften müssten der Linie der KPC treu bleiben. Auch eine Aufspaltung der Gewerkschaftsbewegung werde nicht möglich sein.

Vor dem Hintergrund eigener Untersuchungen innerhalb der letzten dreißig Jahre setzte sich dann Feng Tongqing vom Institut für Arbeitsbeziehungen in Beijing mit dem wachsenden Selbstbewusstsein chinesischer Arbeiter auseinander. Er stellte zunächst fest, dass Arbeiter nicht bemitleidet werden wollten, sondern als positive soziale Kräfte mit einer eigenen Menschenwürde ausgestattet seien. Im Vergleich zu den 20 bis 30 Jahre zurückliegenden Untersuchungen in verschiedenen Betrieben habe er feststellen müssen, dass sich der Status der Arbeiter zwischenzeitlich erheblich verschlechtert habe. Der Widerstand der Arbeiter im Zusammenhang mit der Reform der Staatsbetriebe Anfang der 80er Jahre sei zum Teil sehr massiv gewesen. Letztlich habe die schon damals ansteigende Zahl von Arbeitsniederlegungen zu Diskussionen im Sekretariat des Zentralkomitees der KP geführt, die darauf hinausliefen, den Gewerkschaften wieder stärkere Funktionen bei der Vertretung der Interessen der Arbeiter zuzuweisen. Umgesetzt worden sei dies schließlich im Gewerkschaftsgesetz von 1992, zuletzt geändert im Jahre 2001, wonach die Gewerkschaften die Aufgabe hätten, im Falle von Arbeitsniederlegungen für die Arbeiter zu verhandeln. Das wachsende Selbstbewusstsein der Arbeiter habe dann auch in einigen Provinzen und Städten dazu geführt, dass die Aufgaben und Funktionen des Arbeiterkongresses (Belegschaftsversammlung) in den Staatsbetrieben erheblich ausgeweitet wurden. Die neue Generation der Arbeiter zeichne sich durch geringe Verbindungen zum traditionellen System, aber gleichzeitig durch ein wachsendes Selbstbewusstsein bei der Vertretung der eigenen Interessen aus. Dies gelte vor allem auch für die Wahrnehmung von Arbeitnehmerrechten. In einigen Küstenregionen Südostchinas habe das wachsende Selbstbewusstsein junger Arbeiter dazu geführt, dass es in einigen Gewerkschaften zu originären demokratischen und basisorientierten Wahlen gekommen sei. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung warnte der Referent davor, die Ereignisse vom Frühjahr und Sommer 2010 als „Wendepunkt“ im subjektiven Bewusstsein unter dem Verhalten der Arbeiter zu betrachten. Objektive und subjektive Veränderungen seien vielmehr bereits in den Jahren zuvor innerhalb der Arbeiterschaft zu verzeichnen gewesen.

Anschließend referierte von deutscher Seite aus der Arbeitsrechtsanwalt Ralf Bonkowski aus Bremen, ehemaliger Gewerkschaftssekretär der IG Metall zum Thema „Betriebsräte und Gewerkschaften – Gegensatz und Ergänzung?“ Bonkowski sah in dem dualen deutschen Betriebsverfassungssystem überwiegend Vorteile. Die Gewerkschaft unterstütze lediglich ihre Mitglieder, während der Betriebsrat alle Arbeitnehmer im Betrieb vertreten müsse. Außerdem sei der Betriebsrat nicht an die Gewerkschaftshierarchie gebunden, so dass dadurch der Schutz von Minderheiten möglich sei. Betriebsräte hätten auch eine Innovationsfunktion: Sie müssten sich ständig mit Neuerungen im Betrieb aktiv auseinandersetzen.

Im dritten Themenkomplex referierte zunächst der Pekinger Anwalt Wei Rujiu zum Thema „Streik und unabhängige Gewerkschaft“. Er hob noch einmal hervor, dass Streiks in China weder verboten noch erlaubt seien und dass das Streikrecht 1982 aus der chinesischen Verfassung gestrichen wurde, während die Bewohner von Hongkong ein Streikrecht hätten. Im Hinblick auf die Streikgarantie im UNO-Menschenrechtspakt I sei das Recht auf Streik im Sinne eines individuellen Freiheitsrechts gewährleistet. Dieses gelte auch für China, denn China habe den UNO-Pakt unterzeichnet. [4] Der Streik der Honda-Arbeiter in Foshan habe nicht nur dem Ziel höherer Löhne gedient, sondern auch einer Umstrukturierung der Gewerkschaft. Nach Auffassung des Referenten werden in den nächsten zehn Jahren Streiks weiter zunehmen, denn nach wie vor würden in China zu niedrige Löhne gezahlt, und die neue Generation der Arbeiter, vor allem die ländlichen Wanderarbeitnehmer sei gegen die bisherige offizielle Politik eingestellt. Käme es nicht zur Legalisierung sich bereits jetzt abzeichnender unabhängiger Gewerkschaften, so würden diese zu „geheimen politischen Organisationen“ und damit unmittelbar vom Strafrecht bedroht sein. Der Referent hielt fest, dass bereits jetzt die Streiks chinesischer Arbeiter erhebliche Auswirkungen auf die chinesische Politik gehabt hätten. Streiks hätten Veränderungen in der Politik der Lokalregierungen herbeigeführt. Streiks zwängen die Regierungsverantwortlichen dazu, die realen Lebensbedingungen der Arbeiter wahrzunehmen und ihre Politik anzupassen.

Der Anwalt und Hochschuldozent Wei Xiaolin aus Guangzhou setzte sich mit dem „Dilemma der Legalisierung von Streiks in Guangdong“ auseinander. Anlass des von ihm gewählten Themas war die Gesetzesinitiative der dortigen Provinzregierung, die erstmals in China ein Gesetz über die Regelung kollektiver Arbeitskonflikte einführen will. Die Initiative sei ein erheblicher Fortschritt, als Unternehmen kollektive Verhandlungen ohne berechtigte Gründe nicht ablehnen könnten. Auch Arbeitsverhältnisse könnten im Hinblick auf Kollektivverhandlungen nicht gekündigt werden. Erstmals halte man zwar an der Führung durch die Gewerkschaft fest. Wenn jedoch eine bestimmte Anzahl von Arbeitern es verlange, so müssten Verhandlungsführer durch von der Gewerkschaft organisierte demokratische Wahlen gewählt und Verhandlungsbedingungen demokratisch beschlossen werden. Der Referent verwies darauf, dass auch aus pragmatischen Gesichtspunkten heraus der Streik unbedingt rechtlich umfassend garantiert und seine Rechtsfolgen geregelt werden müssten. Dies sei auch im Interesse der Unternehmen. Alles andere würde zu Rechtlosigkeit und mangelnder Transparenz bei Maßnahmen führen, die in irgendeiner Weise mit dem Streik zusammenhingen. Investoren könnten sonst keine Stabilität erwarten und soziale Konflikte könnten nicht kanalisiert und frei ausgetragen werden. Zur Logik der Legalisierung von Streiks gehöre auch die Friedenspflicht während der Gültigkeit der Kollektivverträge und die damit verbundene größere Berechenbarkeit auch von Investitionen für die Unternehmer.

In der letzten Themenrunde ging es um den Gewerkschaftsdialog zwischen Deutschland und China. Hier referierte zunächst Frau Jing Wang, Professorin am Institut für Arbeit der Universität für Wirtschaft und Handel in Beijing. Ihr Thema war „Dialog, Austausch und Umsetzung: Der chinesisch-deutsche Dialog der Gewerkschaften.“ In Bezug auf die Gewerkschaften in China betonte auch sie die Skepsis und Herausforderung der neuen Arbeitergeneration an die Gewerkschaften. Als „deutsches Modell“ bezeichnete sie die enge Verzahnung der deutschen Gewerkschaften mit der Politik und den Parteien bei gleichzeitiger Unabhängigkeit der Gewerkschaften in ihrer Entwicklung sowie ihre Verankerung in der Verfassung. In Deutschland würden unabhängige und gesetzlich garantierte Gewerkschaften die Koalitionsfreiheit wahrnehmen, Tarifverträge abschließen und dadurch helfen, die Interessen der Arbeiterschaft zu wahren sowie „Konflikte und Chaos zu vermeiden“. Die deutschen Gewerkschaften hätten ihre gesellschaftliche und politische Stellung weiter ausbauen können und in Folge kollektiven Arbeitsrechts sich einen größeren Spielraum erkämpfen können. Für China sei die „Überparteilichkeit“ der deutschen Gewerkschaften sowie deren verfassungsrechtliche Verankerung durchaus als Modell anzusehen. Um ein solches Modell durchzusetzen, bedürfe es allerdings noch eines erheblichen Zeitraumes.

Lars Mörking, Doktorand an der Universität Münster, lenkte in seinem Beitrag „Sozialpartnerschaft gegen Internationale Solidarität“ noch einmal das Augenmerk auf die Notwendigkeit eines Zugangs deutscher Gewerkschaften zum Thema China. Die gewerkschaftseigenen Medien hätten im Wesentlichen die Haltung der offiziellen Berichterstattung zu China übernommen, die durch das Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden Exportwirtschaften Chinas und Deutschland bestimmt sei (Standortlogik). Erschwerend komme hinzu, dass einem solchen Bild nicht einfach durch Delegationsreisen und Bildungsfahrten nach China begegnet werden könne, da China die Eigenheit habe, jedwede Vorurteile bestätigen oder aber auch beseitigen zu können, je nachdem, welche Region besucht werde und mit welchen Partnern vor Ort gesprochen werde. Es gelte, alle offiziellen Kanäle auf zentraler Ebene, aber auch auf Basisebene zu öffnen. Die verschiedenen Zugänge und die Variabilität der Akteure müssten auf beiden Seiten gezielt genutzt werden. Mörking betonte, dass eine einheitliche Strategie auf Seiten der deutschen Gewerkschaften zu diesem Thema nicht erkennbar sei. Ein erster Schritt in diese Richtung wäre deshalb die zentrale Erfassung von gewerkschaftlichen, betrieblichen und gewerkschaftsnahen Initiativen sowie deren Einbindung in die gewerkschaftliche Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit.

In seinem Schlusswort unterstrich der Leiter der Konferenz die historische Bedeutung des mit dieser Konferenz begonnenen Dialogs. Jetzt gelte es, diesen Dialog auch und gerade in kleineren Initiativen fortzusetzen. Zunächst im Bereich der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, aber darüber hinaus auch in gezielten weiteren wissenschaftlichen Projekten.

Als vorläufiges Fazit sei hier ergänzt, dass die Nichtteilnahme so manch anderer Experten – gerade vor dem Hintergrund einiger aktueller Veröffentlichungen[5] – auf Unverständnis stieß. Als Vorteil wurde übereinstimmend die überwiegende Teilnahme von Experten eingeschätzt, die über die jeweilige Situation (insbesondere über China) gut informiert waren. Dies erleichterte eine gemeinsame Sprache und eröffnete die Möglichkeit einer echten Diskussion. Die hochkarätige chinesische Delegation vertrat keineswegs einheitliche Positionen. Sie war sich andererseits in der Forderung nach „unabhängigen“ Gewerkschaften ebenso einig wie in der Anerkennung der dominierenden Rolle der KP. Kritisch festzustellen bleibt allerdings das Bestehen gewisser Wahrnehmungsdefizite auf beiden Seiten: Während die chinesische Seite immer noch das so genannte deutsche Sozialmodell stark idealisiert, gibt es bei der Betrachtung der chinesischen Situation von deutscher Seite im Wesentlichen drei Varianten eines Wahrnehmungsdefizits: Zum einen die Sicht jener, die aufgrund wirtschaftlicher Vorteile ihres Engagements in China weder die tatsächliche rechtstaatliche Entwicklung noch die Entwicklung der Arbeitsbeziehungen in China kritisch reflektieren. Diese Sichtweise war auf der Konferenz allenfalls „in der dritten Person“ vertreten. Zum anderen bestimmen immer wieder Wunschvorstellungen im Bezug auf China hiesige Sichtweisen. Das gilt sowohl für die gezielte Verneinung von Rechts- und Sozialfortschritten in China wie für die Überhöhung und Idealisierung solcher Fortschritte. Deutschen Experten wäre dabei vor allem zu empfehlen, sich mit der Sichtweise der Chinesen selbst auseinander zu setzen. So war beispielsweise trotz zum Teil völlig unterschiedlicher Ausrichtung der einzelnen Delegationsteilnehmer unter den chinesischen Experten die Frage des „langfristigen Aufbaus des Sozialismus“ kein Thema.

Was von deutscher Seite vielfach übersehen wird, ist das für China zentrale Phänomen des mangelnden Vollzugs vieler Rechtsnormen, darunter insbesondere auch der Normen des Arbeitsrechts. Das chinesische Arbeitsrecht ist nicht geeignet, irgendeinen Beweis dafür zu erbringen, dass sich China auf dem Weg zum „Sozialstaat“ oder gar „auf dem Weg zum Sozialismus“ befindet. Im Gegenteil: Der Vollzug des Arbeitsrechts hängt in entscheidender Weise von den Aktivitäten der chinesischen Arbeiterschaft ab. Dies wurde von den chinesischen Experten an Hand vieler Beispiele selbst bestätigt.

Je mehr in dem gegenwärtigen Industrialisierungsprozess Chinas auch Parallelen zur Geschichte der deutschen Industrialisierung erkannt werden, umso leichter ist es, zu einer gemeinsamen Sprache bei der Entwicklung von Arbeitsbeziehungen und dem Dialog über die Entwicklung interessenorientierter Gewerkschaften zu kommen. Notwendig erscheint dabei neben der juristisch normativen Betrachtung vor allem eine umfassende wissenschaftliche Analyse der wirtschaftlichen und sozialen Gesamtsituation in beiden Ländern.

Mit der Konferenz wurde ein wichtiger Schritt in Richtung auf einen deutsch-chinesischen Gewerkschaftsdialog gemacht. Zahlreiche weitere dezentrale Veranstaltungen auf lokaler Gewerkschaftsebene sind geplant.

[1] Vollständige Fassung des Berichts unter: http://www.drgeffken.de/index.php?id=19.

[2] Vgl. Geffken, Labour and trade unions in China, Brüssel 2006, S. 46, 106.

[3] Chang Kai war von den Streikenden bei Honda zum Verhandlungsführer bestimmt worden!

[4] Anm. d. Verf.: China hat den Pakt zwar unterzeichnet, aber nur unter Vorbehalt ratifiziert. Der Vorbehalt bezieht sich exakt auch auf diesen Punkt.

[5] Ein besonders ärgerliches Beispiel fehlender Vernetzung liefert hier Florian Butollo, der in einem soeben erschienenen Aufsatz (PROKLA 161, S. 619 ff.) beim Eingehen auf das neue chinesische Arbeitsvertragsgesetz den Aufsatz eines US-amerikanischen Autors zitiert, aber den dreisprachigen (!) und soeben in 2. Auflage in Deutschland erschienenen Kommentar von Geffken/Ma/Hsieh ignoriert.