Der russische Angriff auf die Ukraine erfolgte vor dem Hintergrund einer durch einschneidende Veränderungen der internationalen Kräfteverhältnisse charakterisierten Weltlage. Die nach dem Zerfall des Sozialismus kurzzeitig herrschende „Fukuyama-Illusion“ (Erhard Crome) einer nach marktwirtschaftlich-demokratischen Regeln funktionierenden US-dominierten Weltordnung, zu deren Durchsetzung natürlich militärische Mittel (auch gegen Zivilbevölkerungen) eingesetzt werden ‚durften‘ (von Afghanistan bis Jugoslawien), zerplatzte mit der Finanzmarktkrise 2008/09. Der ‚Westen‘ musste feststellen, dass mit China ein neuer weltpolitischer Akteur entstanden war, der sich mitnichten mit der Rolle der ‚verlängerten Werkbank‘ transnationaler Konzerne zufriedengeben wollte. Überall auf der Welt regte sich Widerstand gegen die wirtschaftliche und politische Vormundschaft der USA. Dabei spielt Russland eine besondere Rolle, die sowohl mit der Geschichte und dem Niedergang dieser ehemaligen Weltmacht zu tun hat als auch mit der besonderen Form des Kapitalismus, der sich dort im Ergebnis westlicher ‚Beratungsleistungen‘ herausbildete.
Im Folgenden wird versucht, einige Hintergründe des Krieges auszuleuchten. Der Fokus liegt dabei auf dem Zusammenhang zwischen den inneren und äußeren Faktoren insbesondere auf russischer Seite. Die Gefahr, dass der aktuelle Krieg in ein weltweites – auch militärisches – Ringen um eine neue hegemoniale Weltordnung übergeht, ist unübersehbar.
Für Erhard Crome gehört der Ukraine-Krieg zu jenen Weltordnungskriegen, die nach dem Sieg des ‚Westens‘ 1990 an vielen Stellen aufgebrochen sind. Sie seien Ausfluss der Vorstellung, mit der Etablierung einer unipolaren Weltordnung sei die Geschichte an ihr Ende gekommen. In diesem Verständnis war es legitim, alle Mächte, die dem im Wege standen, mit Krieg zu überziehen. Der Angriff auf die Ukraine könne als Versuch Russlands verstanden werden, die Kriege des Westens zu „spiegeln“. Dies sei gründlich misslungen. Viel spreche dafür, dass der Krieg mittelfristig Russland schwächen und die Chancen für eine multipolare Weltordnung verringern werde: „Gewinner scheinen die USA.“ Gerhard Weiß liefert eine ausführliche Besprechung der Studie von Bernd Greiner über das unheilvolle Agieren der USA in der Welt seit 1945. Ihre Herangehensweise an Russland und an den Ukraine-Krieg ist die logische Fortsetzung dieses imperialen Agierens. Nach der Auflösung der UdSSR änderte sich die Hegemoniepolitik der USA nicht grundsätzlich. Die neoliberalen globalen Wirtschafts- und Handelsstrukturen sollten – auch mit militärischen Mitteln – auf die ehemals sozialistischen Länder ausgeweitet werden. Je schärfer sich ein neuer globaler Machtkonflikt mit China als neuer Großmacht abzeichnete, desto deutlicher wurde der Konflikt mit Russland zu einem Teil des Ringens der USA um die weltweite Hegemonie.
Die russische Außenpolitik ist schon länger auf die Sicherung imperialer Interessen ausgerichtet, so die These von Felix Jaitner. Sie hängt unmittelbar mit den innergesellschaftlichen Entwicklungen und der semi-peripheren Lage des Landes in der globalen Arbeitsteilung zusammen (Russland als Rohstofflieferant für die kapitalistischen Zentren und in wachsendem Maße für China). Seit der Finanzkrise 2008/09 haben die Maßnahmen zur Modernisierung der russischen Wirtschaft stark zugenommen. Dabei haben sich die Kräfteverhältnisse innerhalb der russischen oligarchisch-etatistischen Ordnung zu Gunsten binnenorientierter Kapitalfraktionen und mit ihnen verbundener national-konservativer Kräfte verschoben, die die geopolitische Konfrontation zur Sicherung der Interessen Russlands antreiben. Auch der russische Präsident konnte seine Rolle als Vermittler zwischen den divergierenden Fraktionen des Machtblocks stärken. Joachim Becker untersucht die Wirtschaftssanktionen gegen Russland, die allerdings bislang nur vom Westen, nicht aber vom globalen Süden unterstützt werden. Er unterscheidet zwischen geopolitischen Sanktionen (Ausschaltung Russlands als eigenständiger Akteur) und friedenspolitischen Sanktionen, die die Kriegsführungsfähigkeit Russlands verringern sollen. Letztere müssten klar mit dem Ende des Krieges und politischen Lösungen verknüpft sein. Der westliche Wirtschaftskrieg gegen Russland aber ist geopolitischer Natur, selbst um den Preis einer Eskalation des Kriegsgeschehens.
Jürgen Wagner zeigt, dass die jüngst beschlossene verstärkte deutsche Aufrüstung mitnichten eine „Zeitenwende“ darstellt, sondern nur eine spätestens 2013 eingeleitete Militarisierung der Außenpolitik zuspitzt und verstärkt. Der Angriff Russlands auf die Ukraine ermöglichte es allerdings, strittige Themen wie bewaffnete Kampfdrohnen und die nukleare Teilhabe ohne Debatten abzuräumen. Norman Paech beschäftigt sich mit den zahlreichen juristischen Schritten, die gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit unternommen werden. Er vergleicht sie mit entsprechenden Versuchen, die ebenfalls völkerrechtswidrigen Angriffskriege der NATO bzw. von NATO-Verbündeten juristisch aufzuarbeiten. Diese dauerten meist viele Jahre bzw. wurden aus durchsichtigen Gründen fallengelassen. Werner Ruf geht dem Begriff der „Zeitenwende“ nach. Der Ukraine-Krieg muss tatsächlich als gravierender zeitlicher Einschnitt betrachtet werden. Im Zuge des Protests gegen die Aggression Russlands ist es gelungen, nicht nur die Politik, sondern auch die öffentliche Meinung zu großen Teilen bellizistisch zu wenden. Ein militärisch geprägter, auf Abschreckung und In-Schach-halten der Gegenseite ausgelegter Sicherheitsbegriff greift Raum und verdrängt Konzepte von gemeinsamer Sicherheit. Der Anteil von USA und Nato an der Zuspitzung des Konflikts gerät in den Hintergrund. Eine europäische Sicherheitsordnung, die die EU wie auch Russland umfasst, rückt in weite Ferne. Eine große Herausforderung für die Friedensbewegung.
Online-Heftpräsentation zu diesem Heft am 13.06 2022, 19 Uhr, mit Felix Jaitner und weiteren Autoren des Heftes. Informationen: Z-Homepage und in unseren Social-Media-Auftritten.
Zugang: kurzelinks.de/z130 / Meeting-ID: 813 1047 6308 / Kenncode: Z130
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Weitere Beiträge: Luca Karg und Maurice Laßhof hatten in Z 123 die Fridays for Future Bewegung mit einer Befragung ihrer Aktiven untersucht. Sie beleuchten jetzt die Veränderungen über die letzten zwei Jahre mit Fokus auf Inhalt und Qualität der von den Klimademonstrant:innen artikulierten Systemkritik. An der FfF-Basis überwiegen links-reformistische Tendenzen, die Anknüpfungspunkte für die gesellschaftliche Linke bieten. Die Eskalation und Verdichtung unterschiedlicher Krisen gefährdet die Existenz der menschlichen Zivilisation. Damit wird – so Dieter Klein – eine veränderte Regulationsweise jenseits des kapitalistischen Profitprinzips zu einer Überlebensfrage. Diese Regulationsweise muss durch die Kombination von staatlicher strategischer Planung und Lenkung, einem „gebändigten Marktmechanismus“ und dem Handeln zivilgesellschaftlicher Akteure gekennzeichnet sein. Andreas Diers gibt einen Überblick zu Leben und Werk des marxistischen Historikers und Archäologen Vere Gordon Childe, auf den Begriff und Theorie der neolithischen Revolution zurückgehen. In ihrer Fortsetzung der Beitragsreihe zu Entwicklungstendenzen der Sozialstruktur der BRD 1996 – 2019 gehen André Leisewitz und John Lütten auf die weitreichenden Veränderungen in den Beschäftigungsverhältnissen der Lohnabhängigen (Erosion des sog. Normalarbeitsverhältnisses) und ihrer Qualifikationsstruktur in den letzten 25 Jahren ein.
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Marx-Engels-Forschung: Wir setzen die in Z 125 begonnene Diskussion über die werttheoretischen Auffassungen von Michael Heinrich und der sog. Neuen Marx-Lektüre fort. Paula Rauhala gibt einen Überblick zu der um 1960 in der DDR geführten Debatte über die Messbarkeit des Arbeitswerts. Sie zeigt, dass die dem „traditionellen“ Marxismus oft unterstellte substanzialistische Wertauffassung und naturalistische Interpretation der abstrakten Arbeit damals keineswegs vorherrschte. Heinrich hatte in Z 129 auf seine Kritiker geantwortet. Barbara Lietz und Winfried Schwarz unterstreichen in ihrer Replik, dass Wert und abstrakt menschliche Arbeit nicht erst aus dem Austausch resultieren. Der Wert ergibt sich aus Produktion und Austausch im Sinne der Einheit von Wert in der Produktion und Wertform im Austausch. Ferner weisen sie Heinrichs Ansicht zurück, dass erst der Austausch die konkrete Arbeit auf abstrakte reduziere. Abstrakt menschliche Arbeit bildet in der Warenproduktion von vornherein den spezifisch gesellschaftlichen Charakter der Privatarbeiten, den der Austausch nicht herstellt, sondern realisiert. Herbert Rünzi und Klaus Müller tragenmit ihren Zuschriften zu der Debatte bei. Beide unterstreichen, dass Wertbildung in der Produktion stattfindet und diskutieren die Beziehung zwischen Wertgröße und gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit.
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Aus der Redaktion: Der „Streikmonitor“ wird in Z 131 (September) fortgesetzt. Für das Heft sind darüber hinaus u.a. Beiträge zu Medienanalysen und zum Strukturwandel der Öffentlichkeit geplant. Vom 15. bis 19. August findet nach zweimaliger, coronabedingter Unterbrechung wieder eine Marxistische Studienwoche statt, die dem Thema „Krieg und Frieden“ gewidmet ist. Tagungsort ist das Haus der Jugend in Frankfurt/M. Nähere Informationen enthält eine diesem Heft beigefügte Beilage; um Anmeldung wird aus organisatorischen Gründen gebeten.