Russland: Von autoritären Umbrüchen bis zum Krieg

von Felix Jaitner
Juni 2022

Der für viele unerwartet erfolgte russische Angriff auf die Ukraine verdeutlicht eindrücklich das begrenzte Instrumentarium zur Analyse der Putin-Administration. Noch vor wenigen Wochen bewerteten Bundeswehr-Generäle die russische Militärpräsenz als Drohkulisse in den Verhandlungen mit den USA, zu gering sei die Anzahl an Soldaten und Kriegsgerät, zu stark die Widerstandskraft der ukrainischen Armee. Sogar der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow bezeichnete die Wahrscheinlichkeit eines russischen Angriffs nur drei Tage vor dem tatsächlichen Überfall als „lächerlich“ (Welt 2022).

Der eingeschränkte Zugang zu politischen Entscheidungsträger:innen sowie die intransparente Form der Entscheidungsfindung in kleinen, ausgewählten Beratungsgremien, die sich im Zuge der Corona-Epidemie noch einmal intensiviert hat, lässt die Russland-Expert:innen auf die bereits zu Sowjetzeiten erprobte Praxis der Kreml-Astrologie zurückfallen. Dies verstärkt die Fixierung auf die Person Wladimir Putins und reduziert die Außenwahrnehmung russischer Politik auf die Launen und psychische Konstitution eines einzelnen Mannes und seiner (überwiegend männlichen) Berater. Die Widersprüche der russischen Gesellschaft, die sie prägenden Machtverhältnisse oder die oftmals verworrenen Konflikte innerhalb des Machtblocks geraten dadurch aus dem Blick. Die seit einigen Jahren erfolgte Neuausrichtung der russischen Außenpolitik zur Sicherung imperialer Interessen, so die These in diesem Beitrag, steht jedoch in einem unmittelbaren Zusammenhang zu den innergesellschaftlichen Entwicklungen und der semi-peripheren Lage des Landes in der globalen Arbeitsteilung, in der es die Rolle eines Rohstofflieferanten für die kapitalistischen Zentrumsstaaten und in wachsendem Maße für China einnimmt.

Autoritäre Brüche: Von Jelzin bis Putin

In der westlichen Russland-Berichterstattung wird oft eine Trennlinie gezogen: Der Amtsantritt Wladimir Putins zum Präsidenten im Jahr 2000 gilt als Zäsur und Auftakt eines autoritären gesellschaftlichen Umbaus. Dem gegenüber verkörpern die 1990er Jahre unter Boris Jelzin die Zeit des demokratischen Aufbruchs. Dieses Schwarz-Weiß-Schema hat einige Schwachstellen, denn es übersieht die Kontinuität der gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die durch eine enge Verbindung zwischen Staat und Oligarchie geprägt sind, und in den 1990er Jahren ihren Ursprung haben.

Der aus der kapitalistischen Transformation hervorgegangene Machtblock hatte von Anfang an ein widersprüchliches Verhältnis zur Demokratie. Die neoliberalen Reformer der Jelzin-Administration, die Architekten der russischen Schocktherapie, diskutierten bereits in den späten 1980er Jahren, wie sich die geplante Wirtschaftspolitik in einer Demokratie und vor allem gegen parlamentarische Mehrheiten durchsetzen ließen (Jaitner 2014:87-90, Rupprecht 2016).

Gesellschaftlicher Widerstand gegen die Einführung marktwirtschaftlicher Reformen wurde von der Jelzin-Administration in letzter Konsequenz gewaltsam bekämpft. So geschehen im Jahr 1993, als regierungstreue Truppen das Parlament beschossen und Jelzin nach dessen Kapitulation eine autoritäre, präsidentielle Verfassung per Referendum durchsetzte. Im Westen wurde die Auseinandersetzung um die Gestaltung des marktwirtschaftlichen Übergangs mehrheitlich nicht als Bestandteil demokratischer Willensbildung begriffen, sondern als Ausdruck demokratischer Unreife sowjetischer Beharrungskräfte diskreditiert. So schrieb der damalige ZDF-Korrespondent in Moskau, Dirk Sager (1996:89), später selbstkritisch, die gewaltsame Niederschlagung des parlamentarischen Protests sei „als weiterer Sieg Jelzins über die Kommunisten“ gefeiert worden. „Westliche Korrespondenten gerieten damals in zwielichtigen Ruch, wenn ihre Berichterstattung nicht dieser Lesart entsprach.“ (ebd.)

Die Verabschiedung der präsidentiellen Verfassung bedeutete de-facto das Ende des gesellschaftlichen Demokratisierungsprozesses in Russland. Dies verdeutlichen der brutale Krieg der Regierung gegen die abtrünnige Provinz Tschetschenien (1994-1996) und die forcierte Privatisierung staatlicher Konzerne (1995-1997), insbesondere aus dem Öl- und Gassektor, die auf der Grundlage präsidentieller Dekrete gegen den Widerstand des Parlaments erfolgte und von der eine Gruppe staatsnaher Unternehmer, die sogenannten Oligarchen, profitierte (vgl. Muchačëw 2013). Die Verschränkung von politischer und ökonomischer Macht ermöglichte privaten Kapitalgruppen einen relativ direkten Zugriff auf die Staatsapparate. Deutlich wurde dies bei der Präsidentschaftswahl 1996, die Jelzin nur durch die finanzielle und mediale Unterstützung der neuen Oligarchie gewinnen konnte, und die zum anschließenden Eintritt einzelner Oligarchen in die Regierung führte. Der Herausbildung der russischen Bourgeoisie steht die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten gegenüber. Nach Angaben der Soziologin Natalija Tichonowa verarmte ein Drittel der russischen Bevölkerung als direkte Folge des Privatisierungsprozesses (Tichonova 2011).

Rohstofflieferant für den Weltmarkt

Der Übergang der Präsidentschaft von Jelzin zu Putin fällt mit dem vorläufigen Höhepunkt der krisenhaften Entwicklung zusammen. Im Sommer 1998 stürzte Russland in eine „klassische Finanzkrise“ (Sutela 1999: 5), bestehend aus einer Währungs-, Banken- und Schuldenkrise und musste einen zeitweiligen Zahlungsstopp verkünden. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ging um 5,3 % zurück. Zweifellos trug die Asienkrise dazu bei, die Krise in Russland zu verschärfen. Ihre Ursachen liegen jedoch hauptsächlich in dem instabilen und krisenhaften Entwicklungsmodell, das sich im Zuge der Transformation herausbildete.

Die Schocktherapie der Regierung Jelzin leitete eine Dekade des ökonomischen Niedergangs ein, der Russland bis heute spürbar prägt (Gräfe 2014). Fast über die gesamten 1990er Jahre hinweg verzeichnete die russische Volkswirtschaft einen Rückgang des BIPs. Eine Ausnahme bilden die Jahre 1997 und 1999, wobei Ministerpräsident Primakow als Reaktion auf die Wirtschafts- und Finanzkrise 1998 explizit die Dominanz neoliberaler Ansätze kritisierte und stattdessen auf eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik setzte.

Die von der Jelzin-Administration verfolgte umfassende Integration Russlands in den kapitalistischen Weltmarkt setzte die einheimische Industrie mit einem Schlag der globalen Konkurrenz aus. Russischen Unternehmen verfügten jedoch weder über die internationalen Vertriebsnetze zum Export ihrer Produkte noch über umfangreiches Eigenkapital zur Tätigung notwendiger Investitionen. Die Folge war ein rasanter Deindustrialisierungsprozess. Nimmt man das Jahr 1990 als Ausgangsjahr mit dem Indexwert 100 fiel die Industrieproduktion bis 1998 auf 45,8 % (Goskomstat Rossii 2002: 19). Der Anteil der Beschäftigten in der Industrie ging um ca. ein Drittel zurück (ebd.). Der Bedeutungsverlust der Industrie lässt sich auch in absoluten Zahlen belegen. Der Anteil industriell produzierter Güter am Bruttoinlandsprodukt ging von 65,5 % (1990) auf 41 % (2004) zurück (Grinberg et al. 2006). Eine Ausnahme bildeten der Rohstoffsektor, die Buntmetallurgie sowie die Eisen-, Stahl-, Chemie- und petrochemische Industrie. Dabei handelt es sich um jene Branchen, die in der sowjetischen Planwirtschaft eine zentrale Versorgungsfunktion durch die Lieferung billiger Ressourcen in hoher Stückzahl einnahmen. Ihre internationale Konkurrenzfähigkeit beruht auf der Ausbeutung der im internationalen Vergleich günstigen Arbeitskraft, relativ moderner Produktionsanlagen und großer Transportkapazitäten. Die Neuausrichtung der politischen Ökonomie Russlands als Rohstofflieferant für die kapitalistischen Zentrumsstaaten begünstigte die Konzentration auf ein ressourcenextraktivistisches Entwicklungsmodell. Darunter wird eine spezifische Form peripherer kapitalistischer Entwicklung verstanden, bei dem (unverarbeitete) Rohstoffe und Agrarland für den Export ausgebeutet werden (Gudynas 2012).

Die oligarchisch-etatistische Ordnung

Die Politik der ersten Putin-Administrationen (2000-2008) war eine Reaktion des Machtblocks auf die spezifischen Dysfunktionalitäten des unregulierten neoliberalen Kapitalismus der 1990er-Jahre in Russland und verfolgte das Ziel, die Reproduktionsbedingungen der kapitalistischen Produktionsweise zu verbessern. Ein wichtiger Schritt dazu bestand in der Stärkung der Autonomie des Staates gegenüber dem unter Jelzin so mächtigen Großkapital. Die Neuordnung gesellschaftlicher Herrschafts- und Machtverhältnisse in Russland kann als oligarchisch-etatistische Ordnung beschrieben werden und umfasst vier zentrale Pfeiler: (1) Die Zentralisierung politischer Macht in der Exekutive und die Stärkung der staatlichen Gewaltapparate, (2) die ideologische Neuausrichtung des herrschenden Blocks, (3) die Stabilisierung sozialer Verhältnisse und (4) die partielle Modernisierung der Ökonomie.

Eine der ersten Amtshandlungen Putins noch als Ministerpräsident war die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen in Tschetschenien. Damit setzte er die bereits unter Jelzin beginnende Militarisierung der Innenpolitik fort. Der Kampf gegen den Terrorismus dient als Vehikel, oppositionelle Tätigkeit – auch dann, wenn sie keinen Bezug zu dem Konflikt im Nordkaukasus aufweist – beliebig einzuschränken. Durch die Gründung der Partei Einiges Russland existiert – anders als in den 1990er Jahren – eine Plattform zur Aushandlung von Interessen und Strategien unterschiedlicher Fraktionen des herrschenden Blocks.

Die ersten beiden Amtszeiten Wladimir Putins fielen mit einer wirtschaftlichen Aufschwungsphase zusammen, die in erster Linie auf einer intensivierten Rohstoffausbeutung (vor allem Öl und Gas) beruhte. In diesem Zeitraum ging der Bevölkerungsanteil mit einem Einkommen unter dem Existenzminimum von 43,8 Millionen (30 Prozent der Gesamtbevölkerung) auf 19 Millionen (13,5 Prozent der Gesamtbevölkerung) zurück. Dadurch entstand eine städtische Mittelschicht, die sich als wichtige Stütze der oligarchisch-etatistischen Ordnung erweist. Das gilt auch für einen relevanten Teil der Transformationsverlierer:innen (Arbeiter:innen, Rentner:innen und Staatsangestellte des Bildungs- und Gesundheitssektors). Diese profitierten von Renten- und Lohnerhöhungen, eine Maßnahme, die nach Angaben des Ökonomen Stanislaw Menshikov (2007: 299 ff.) zur Erhöhung des Konsums um circa 20 Prozent beitrug. Die klientelistische Einbindung einzelner Schichten sollte jedoch nicht mit einer aktiven Umverteilungspolitik verwechselt werden. Zwar stiegen die staatlichen Sozialausgaben von 2005 bis 2009 um 126 Prozent. Allerdings fällt der Anstieg weniger beeindruckend aus, wenn man berücksichtigt, dass die Gesamtausgaben des Staates im selben Zeitraum um 132 Prozent erhöht wurden (vgl. Sutela 2012: 202). Im Gegensatz dazu stieg die Zahl von Dollarmilliardär:innen in Russland von null (2000) auf 87 (2008).

Die Maßnahmen zur Modernisierung der russischen Wirtschaft lassen sich an der Restrukturierung des Öl- und Gassektors veranschaulichen. Die kurzfristige Profitorientierung der privatisierten Öl- und Gasunternehmen sowie die intransparenten institutionellen Rahmenbedingungen verhinderten umfassende Investitionen und damit eine Steigerung der Öl- bzw. Gasproduktion. Diese sank dementsprechend in den 1990er Jahren kontinuierlich und erreichte im Jahr 1996 ihren historischen Tiefpunkt. Parallel dazu ging der staatliche Anteil an der Ölproduktion von 100 % im Jahr 1992 auf 15 % im Jahr 2004 zurück, bevor er anschließend wieder auf 40 % (2008) bzw. 51 % (2012) anstieg (Moser 2016: 76). Der von der Regierung vorangetriebene Konzentrationsprozess der Branche unter staatlicher Führung (Übernahme der privaten Ölkonzerne Sibneft durch Gazprom und Yukos durch Rosneft) und klarere Steuer- und Investitionsregeln ermöglichten eine Steigerung der Öl- und Gasproduktion und eine Ausweitung der Exporte – was dem Staat beträchtliche Einnahmen verschaffte. Der Ökonom Rafael Fernández plädiert daher dafür, das Vorgehen der Putin-Administration gegen einzelne Oligarchen als Reaktion auf die Entwicklungshemmnisse dieses Sektors zu sehen (vgl. Fernández 2009). Obwohl die Regierungspolitik zu Konflikten mit einzelnen Oligarchen, wie z.B. Michail Chodorkowskij, führte, akzeptierte ihre Mehrheit diese Entwicklung, da nur ein konsolidierter Staat ihren wirtschaftlichen Besitz sichern und die Internationalisierung ihrer Unternehmen ermöglichen konnte. So wurde der Beitritt zur Welthandelsorganisation eines der zentralen Projekte der Regierungen Putin/Medwedjew.

Der Aufstieg national-konservativer Kräfte

Gestützt auf das Öl-getriebene Wachstum konnte die Putin-Administration die aus den 1990er-Jahren herrührenden Widersprüche des extraktiven Entwicklungsmodells (soziale Polarisierung, regionale Entwicklungsunterschiede) eindämmen. Darüber hinaus stabilisierten Maßnahmen zur Konsolidierung des produktiven Sektors (Konzentration von Hochtechnologiefirmen in der Atom-, Flugzeug- und Rüstungsindustrie sowie im Agro-industriellen Komplex unter staatlicher Führung) die Wirtschaft, änderten jedoch wenig an der bestehenden Abhängigkeit vom Rohstoffexport.

Die 2008 einsetzende Wirtschafts- und Finanzkrise verschärfte vielmehr die multiplen Widersprüche des extraktiven Entwicklungsmodells. Die russische Regierung setzte zur Bekämpfung der Krise auf eine angebotsorientierte Politik, nur 10 % der bereitgestellten Mittel wurden zur Stimulierung der Binnennachfrage eingesetzt (World Bank 2009). Zwar erzielten die Maßnahmen der Regierung ihre gewünschte Wirkung und kurbelten das Wirtschaftswachstum vorübergehend an (2010: 4,5 % und 2011: 5,2 %), doch bereits im Jahr 2012 ließ die wirtschaftliche Dynamik nach (+3,6 %) und kündigte den Beginn einer bis heute andauernden zweiten Krisenphase an.

Die stagnierende ökonomische Entwicklung und die immer offener zu Tage tretenden Konflikte um die Vorherrschaft im postsowjetischen Raum verschärfen die innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen um das russische Entwicklungsmodell. Zur Stärkung der produktiven Sektoren fordern national-konservative Kräfte in Staat und Regierung sowie mit ihnen verbundene binnenorientierte Kapitalfraktionen eine Re-Industrialisierung des Landes im Rahmen einer staatlich koordinierten Importsubstitutionspolitik. Damit einher gehen Forderungen nach neuen außenpolitischen Bündnissen. Die Westorientierung, so die Kritik, zementiere den semiperipheren Status Russlands als Rohstofflieferant für die kapitalistischen Zentrumsstaaten, während eine Ausrichtung auf den postsowjetischen und asiatischen Raum neue Expansionsmöglichkeiten biete und ein politisches Gegengewicht zur US- Hegemonie bilde, wobei Russland aufgrund seiner Größe und des militärischen Potenzials eine Führungsrolle einnehmen würde (exemplarisch: Glazew 2015).

Der Krim-Konsens

Als Reaktion auf die im Zuge des ersten Ukraine-Krieges erlassenen westlichen Sanktionen gründete die russische Regierung eine Kommission zur Importsubstitution. Diese, so kommentiert die liberale Wirtschaftszeitung Kommersant, beanspruche im Hinblick auf den Firmensektor Vollmachten, die „seit 1993-1994 weder das Wirtschaftsministerium noch … das Industrieministerium oder andere Ministerien“ jemals hatten (Kommersant 2015). Damit verschiebt sich das Kräfteverhältnis innerhalb des russischen Machtblocks zu Gunsten binnenorientierter Kapitalfraktionen und mit ihnen verbundener national-konservativer Kräfte. Letztere sind nicht nur wichtige ideologische Wegbereiter der Re-Industrialisierungsstrategie, sie stehen auch in einem stärkeren Konkurrenzverhältnis zum Westen. Dies untermauert der russische Industrieminister, Denis Manturow, mit der Aussage: „Wir sind sehr an der Verlängerung der Sanktionen gegen Russland interessiert.“ (Innosmi 2017) Denn die Aufrechterhaltung der Sanktionen – und die damit einhergehende wirtschaftliche Entkopplung Russlands vom Westen – fördere die Entwicklung der einheimischen Industrieproduktion. Die Re-Industrialisierungsstrategie dient einzelnen Kapitalgruppen offensichtlich dazu, ihre Position national und langfristig auch global zu stärken.

Vor diesem Hintergrund erfährt die oligarchisch-etatistische Ordnung seit 2014 einige Modifikationen. Am deutlichsten ist eine weitere autoritäre Verschärfung im Inneren: Das repressive Vorgehen gegen oppositionelle Kräfte wie die Bewegung des rechten Anti-Korruptionsaktivisten Alexej Nawalnyj und NGOs (Agentengesetz), Verschärfungen in der Migrationspolitik und Gesetze gegen „homosexuelle Propaganda“ oder die Verminderung des Strafmaßes bei häuslicher Gewalt. Parallel forciert die russische Regierung mit der Erhöhung des Renteneintrittsalters den Abbau der Reste des Sozialstaates. Die Verschiebung der innergesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und die damit einhergehende autoritäre Verhärtung im Inneren schlägt sich auch in einer veränderten Außenpolitik nieder. Der „Krim-Konsens“ symbolisiert den offenen Übergang zu Sicherung der imperialen Interessen Russlands, was in einer wachsendenden Anzahl militärischer Interventionen (Georgien, Syrien, Ukraine, Kasachstan) und einer nationalistischen, imperialen Rhetorik Ausdruck findet. Im Angesicht der sich verschärfenden Auseinandersetzungen innerhalb des Machtblocks stärkt die politische Neuausrichtung vorläufig die Positionen des russischen Präsidenten, denn dieser verkörpert nicht nur Stabilität in ökonomischen Krisenzeiten, sondern auch Russlands Rückkehr auf die Weltbühne (vgl. Jaitner 2018).

Fazit

Die autoritären Umbrüche in Russland stehen in krassem Widerspruch zu den Hoffnungen, die mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes einhergingen. Bis heute gelten die 1990er Jahre als Phase des demokratischen Aufbruchs in Russland. Doch der in der Perestroika einsetzende gesellschaftliche Demokratisierungsprozess kam mit dem gewaltsamen Vorgehen der Jelzin-Administration gegen die parlamentarische Opposition im Jahr 1993 endgültig zum Erliegen, was demokratische Institutionen und Prozesse nachhaltig delegitimierte und schwächte. Eine wichtige Ursache für die autoritäre Wende in Russland ist das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus, der formalen politischen Gleichheit und der sozialen Ungleichheit und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Machtasymmetrien. Die Schocktherapie garantierte zwar die Einführung des Kapitalismus. Allerdings erwies sie sich, wie die Historikerin Sušova-Salminen treffend feststellt, als ein Hindernis für die Demokratisierung osteuropäischer und postsowjetischer Gesellschaften (Sušova-Salminen 2018: 4).

Mit dem Amtsantritt Wladimir Putins trat der russische Kapitalismus in eine neue Entwicklungsphase ein. Die Stabilisierung der aus den 1990er Jahren hervorgegangenen gesellschaftlichen Herrschafts- und Machtverhältnisse wurde durch die Zentralisierung der politischen Entscheidungsprozesse und -kompetenzen im Staat, der Institutionalisierung des Verhältnisses zwischen Staat und Oligarchie und der Integration ausgewählter gesellschaftlicher Schichten (Arbeiter:innen, Rentner:innen und Staatsangestellte) in die oligarchisch-etatistische Ordnung erreicht, ohne die Widersprüche des russischen Entwicklungsmodells effektiv zu bearbeiten.

Die Schwäche der jungen russischen Bourgeoisie, die gesellschaftlichen Umbrüche durch ein hegemoniales Projekt abzusichern und damit ihre Klassenherrschaft zu festigen, setzt sich daher bis heute fort und ist ein wichtiger Grund für die zunehmend aggressive Außenpolitik. Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft im postsowjetischen Raum einerseits und der extremen Abhängigkeit Russlands vom Öl- und Gasexport andererseits nehmen die Konflikte innerhalb des Machtblocks um die künftige Ausrichtung des extraktiven Entwicklungsmodells zu. Der Krim-Konsens stärkt nicht nur national-konservative Kräfte und mit ihnen verbundene Kapitalfraktionen, die in einem konfrontativen Verhältnis zum Westen stehen und zur Sicherung der imperialen Interessen Russlands die geopolitische Konfrontation weiter verschärfen. Auch der russische Präsident stärkt seine Rolle als Vermittler zwischen den divergierenden Fraktionen des Machtblocks.

Im Zuge des russischen Angriffs auf die Ukraine und der daraufhin erlassenen westlichen Sanktionen gewinnen diese Entwicklungen weiter an Dynamik. Das Importverbot westlicher Hochtechnologie, der Rückzug vieler Firmen vom russischen Markt und der Ausschluss vom internationalen Zahlungssystem erhöhen die Dringlichkeit eines wirtschaftspolitischen Kurswechsels zur Stärkung der industriellen Basis des Landes (Importsubstitution), verbunden mit einer geopolitischen Ausrichtung auf Asien (insbesondere China und Indien). Eine weitere Tendenz ist die fortschreitende Fragmentierung des postsowjetischen Raums in ein pro-westliches und pro-russisches Lager. Angesichts der vielfältigen Krisen in der Region scheinen neue Konflikte in absehbarer Zeit unausweichlich. Damit gewinnt die multipolare Weltordnung immer deutlichere Konturen. Die Grundlage dieser sich verändernden Kräftekonstellation droht allerdings nicht die friedliche Koexistenz verschiedener regionaler Machtblöcke zu bilden, sondern die zunehmende imperiale Konkurrenz und damit Konflikte um Einflusssphären.

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