Editorial

September 2012

Seit der durch den Zusammenbruch der Hypothekenmärkte in den USA aus-gelösten (nicht verursachten) Krise der entwickelten kapitalistischen Länder sind fünf Jahre vergangen, ohne dass Aussicht auf eine nachhaltige Stabilisie-rung bestünde. Im Gegenteil: Nach einer trügerischen Erholung im Jahre 2010 verfestigen sich Depressionserscheinungen. Das dominierende Wirtschafts-modell, der finanzmarktgetriebene Kapitalismus, treibt die Realökonomie in die Stagnation und bedroht selbst die Dynamik in der ehemaligen Peripherie. Ein Ausweg ist nicht sichtbar. Denn das der Krise zugrunde liegende Miss-verhältnis zwischen der spekulativ aufgeblähten Finanzsphäre und einer stag-nierenden Realwirtschaft wird nicht aufgelöst. Ansätze dazu scheitern immer wieder an der Macht der Finanzindustrie, die alle Maßnahmen zu ihren Lasten erfolgreich zu hintertreiben versteht. Jede akute Zuspitzung wird von der Poli-tik mit immer neuen Geldspritzen bekämpft, was vorübergehend Erleichterung bringt, das Grundproblem jedoch verschärft.
Dass die Krise keine Krise der Staatsverschuldung ist, macht Vladimiro Giac-che deutlich: Es handelt sich um eine Überschuldung der Gesamtwirtschaft, die öffentlichen Schulden sind nur der kleinere Teil. Die Unfähigkeit der nationalen und supranationalen wirtschaftspolitischen Akteure, die Krise zu beherrschen, ist dabei auch dem neoliberalen Krisenverständnis geschuldet. Wie er am Beispiel Italien zeigt, stehen die Verteilungsrelationen und der Sozialstaat im Mittelpunkt: Für das Kapital sind zu hohe Löhne, unflexible Arbeitsmärkte und zu viel soziale Sicherheit die Ursachen der Schwäche der Industrieländer. Die Krise wird funktionalisiert, um die Arbeiter- und Bürgerrechte auf den Stand des 19. Jahrhunderts zurückzuschrauben.
Die Funktionalisierung der Staatsverschuldung für Zwecke des Klassenkamp-fes von oben zeigt sich besonders deutlich am spanischen Beispiel. Miren Et-xezerreta zufolge gibt es zwar in Spanien durchaus ein Schuldenproblem, die-ses besteht aber vor allem in der privaten Auslandsverschuldung, während die öffentliche Verschuldung deutlich unter dem Durchschnitt der übrigen Euro-Länder liegt. Erst die großzügigen öffentlichen Hilfen für die Banken haben daraus ein Staatsschuldenproblem gemacht, welches nun durch neoliberale Spar- und Strukturprogramme bekämpft wird, die die Rezession verschärfen.
Griechenland ist bekanntlich jenes Land, in dem – auch vor dem Hintergrund traditioneller Strukturschwächen – die Krise am heftigsten wütet. Dies ist aber Jannis Milios zufolge nicht primär dem Druck der starken EU-Länder, an der Spitze Deutschland, geschuldet. Es sind vielmehr die griechischen Eliten, die die Krise nutzen, um die von ihnen seit 20 Jahren verfolgten sozialreaktionären Ziele endlich zu verwirklichen. Die griechische Linke könnte den Krisenkurs noch stoppen, allerdings nur in einem europäischen Rahmen. Das sieht Costas Lapavitsas anders. Er meint, nur ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone, die Einstellung des Schuldendienstes und eine Restrukturierung der griechischen Wirtschaft und Gesellschaft im Interesse der abhängig Beschäf-tigten könnten verhindern, dass Griechenland in einer lang anhaltenden Dep-ression versinkt. Dieser Weg berge viele Risiken in sich – die aber gegen die Perspektive eines dauerhaften Niedergangs abzuwägen seien.
Klaus Dräger befasst sich mit den Positionen der europäischen sozialdemo-kratisch/grünen Linken, aber auch mit denen der Gewerkschaften und der ‚Linken der Linken‘. Den ersteren bescheinigt er, dass sie bei aller Rhetorik konsequent an ihrer „sozialliberalistischen“ Variante des Neoliberalismus fes-thalten und sich – wenn sie wie in Frankreich die Regierung übernehmen – mit rein symbolischen Korrekturen der konservativen Austeritätspolitik zufrieden geben. Den Alternativen der Gewerkschaften und der Linken wirft er dagegen vor, dass diese bei ihren Einzelvorschlägen die politischen Kräfteverhältnisse ausblenden: Nur ein allgemeiner sozialer Aufruhr könne die EU-Eliten zum Einlenken bewegen.
Ein Kernaspekt der Krise und des gegenwärtigen kapitalistischen Entwicklungsmodells war und ist die Verselbständigung des Finanzsektors, u.a. eine Folge des Deregulierungswahns der 1990er Jahre. Notwendig wäre eine Re-Regulierung der Finanzindustrie, verbunden mit einer drastischen Reduktion des Gewichts der Finanzsphäre. Joachim Bischoff und Norbert Weber schildern den (unbefriedigenden) Stand der Regulierungsreformen und zeigen, dass die expansive Geldpolitik der Notenbanken die Bereinigung der Hypertrophie des Finanzsektors eher verhindert hat. Kernpunkt einer wirksamen Reform müsse eine Restrukturierung der Realökonomie, nicht eine Sanierung der Bankbilanzen sein.
Hermann Bömer stellt die Entstehung und Entwicklung der linken Euromemo-Gruppe im Kontext der EU-Politik dar und geht auf deren Alternativposition ein. Da die Krise und deren Formwandel von der Banken- zur Staats-schuldenkrise nur vor dem Hintergrund der erfolgreichen Verteilungsoffensive des Kapitals verstanden werden könne, schlägt die Gruppe eine offensive, durch veränderte und gestärkte EU-Institutionen gestützte soziale und ökolo-gische Reformpolitik vor. Es bestehe aber auch das Risiko einer „wirtschaftlichen und sozialen Großkrise“.
Für Klaus Busch und Dierk Hirschel hat die aktuelle Krise einen Konstruktionsfehler der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion offen gelegt. Bei gemeinsamem Binnenmarkt und gemeinsamer Währung bleibt das System der konkurrierenden Wettbewerbsstaaten bestehen. Die Folge sind wachsende Ungleichgewichte, wobei vor allem Deutschland profitiert. Trotzdem halten die Autoren eine Renationalisierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik für den falschen Weg. Sie sind für „mehr Europa, aber anders“. Sie plädieren für ein europäisches Aufbau- und Entwicklungsprogramm zur Überwindung der Wachstumsschwäche, das durch eine europaweite Vermögensabgabe finanziert werden könnte.

Ökonomisch-ökologische Krise: Die grün-schwarze Energiepolitik hat seit dem Atomausstiegsbeschluss mit einem grundlegenden Widerspruch zu kämpfen: Die bestehende Energieversorgungsinfrastruktur ist mit einem Umstieg auf er-neuerbare Energien nicht vereinbar. Die Bundesregierung bleibt jedoch den Interessen der dominierenden Energieversorgungskonzerne verpflichtet. Aus der „Energiewende“ wird, so Bernd Brouns, daher ein „weiter so“. In der Klimapolitik erweisen sich die Kyoto-Mechanismen als ungenügend. Sie sind nachfrageorientiert und vernachlässigen die Angebotsseite. Mohssen Massarat betont in Auseinandersetzung mit dem konservativen Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn die Notwendigkeit einer präzisen Analyse der auf den Ressourcenmärkten herrschenden Machtverhältnisse, wenn eine wirksame, politisch festgelegte Mengenbewirtschaftung von Kohlenstoffen (Energieträgern) realisiert werden soll. Sabine Leidig gibt einen Überblick zu Arbeit der Enquête-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“. Sie erwartet von ihr zwar „kaum wegweisende Ergebnisse“, nimmt sie aber als Anregung für die Linke, die eigenen konzeptionellen Defizite hinsichtlich Wachstumskritik, sozial-ökologischer Umbauprozesse und einer „Theorie des grünen Sozialismus“ zu bearbeiten. Eine Strategie, die Wachstum von Umwelteingriffen, Konsum, Warenproduktion und Profit zurückschrauben will, muss sich, so Karl Hermann Tjaden, auf den Mechanismus der kapitalistischen Produktion selbst konzentrieren und im Sinne eines „Akkumulations-Stopps“ das überproportionale Wachstum des Einsatzes von Sachanlagen und Sachmitteln zu Lasten der Beschäftigung von Arbeitskräften einschränken.

Geschichte: „Historische Krisen und ihre Verarbeitung“ ist er Titel eines Bei-trags von Josef Schleifstein vom Juni 1990, den wir aus Anlass seines 20. To-destages (24. Juli 2012) nachdrucken. Das damals noch ganz gegenwärtige „Scheitern des ersten praktischen Gestaltungsversuchs einer Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft“ erfordere, so Schleifstein, eine „grausam-gründliche Selbstkritik“, wie dies Rosa Luxemburgs mit Blick auf den August 1914 verlangt hatte. Werner Röhr bespricht die materialreiche Darstellung von Christoph Dieckmann zu den Massenverbrechen der deutschen Besatzer und ihrer litauischen Helfer im Litauen der Jahre 1941 bis 1944. Eric Hobsbawm würdigt das Lebenswerk des britischen Historikers Tony Judt, mit dem ihn eine streitbare und oftmals kontroverse Freundschaft verband.

Weitere Beiträge: Nico Biver analysiert die französischen Parlamentswahlen, die nach den Präsidentschaftswahlen eine herbe Enttäuschung für die Links-front Mélanchons brachten, und zeichnet die strategischen Diskussionen nach, die nach der Wahl innerhalb des Bündnisses begonnen haben. Lothar Peter charakterisiert zeitgenössische Beiträge zu Revolution und Kommunismus von Badiou, Žižek, Holloway und Onfray als „postmodernen Linksradikalismus“. Er kritisiert die empirische Blindheit der Autoren, die sie von einer „politischen Praxis“ isoliere, die an den konkreten Widersprüchen und krisenhaften Entwicklungen der modernen kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft anknüpft. Claudius Vellay debattiert die Kategorie der Entfremdung unter Rückgriff auf die „Ontologie des gesellschaftlichen Seins“ von Georg Lukács vor dem Hintergrund der Hypostasierung der Kategorie (Frankfurter Schule) einerseits, ihrer grundlegenden Verwerfung (Althusser-Schule) andererseits. Gretchen Binus plädiert dafür, die marxistische Monopoltheorie für die Analyse des Gegenwartskapitalismus – gerade angesichts der globalen Finanzkrise – fruchtbar zu machen.

Der Fortgang der Finanzmarkt- und EU-Krise wird uns auch in Z 92 (Dezember 2012) beschäftigen. Den Schwerpunkt werden Beiträge zu Gewerkschaftsfragen bilden.