Seit der durch den Zusammenbruch der Hypothekenmärkte in
den USA aus-gelösten (nicht verursachten) Krise der
entwickelten kapitalistischen Länder sind fünf Jahre
vergangen, ohne dass Aussicht auf eine nachhaltige Stabilisie-rung
bestünde. Im Gegenteil: Nach einer trügerischen Erholung
im Jahre 2010 verfestigen sich Depressionserscheinungen. Das
dominierende Wirtschafts-modell, der finanzmarktgetriebene
Kapitalismus, treibt die Realökonomie in die Stagnation und
bedroht selbst die Dynamik in der ehemaligen Peripherie. Ein Ausweg
ist nicht sichtbar. Denn das der Krise zugrunde liegende
Miss-verhältnis zwischen der spekulativ aufgeblähten
Finanzsphäre und einer stag-nierenden Realwirtschaft wird
nicht aufgelöst. Ansätze dazu scheitern immer wieder an
der Macht der Finanzindustrie, die alle Maßnahmen zu ihren
Lasten erfolgreich zu hintertreiben versteht. Jede akute Zuspitzung
wird von der Poli-tik mit immer neuen Geldspritzen bekämpft,
was vorübergehend Erleichterung bringt, das Grundproblem
jedoch verschärft.
Dass die Krise keine Krise der Staatsverschuldung ist, macht
Vladimiro Giac-che deutlich: Es handelt sich um eine
Überschuldung der Gesamtwirtschaft, die öffentlichen
Schulden sind nur der kleinere Teil. Die Unfähigkeit der
nationalen und supranationalen wirtschaftspolitischen Akteure, die
Krise zu beherrschen, ist dabei auch dem neoliberalen
Krisenverständnis geschuldet. Wie er am Beispiel Italien
zeigt, stehen die Verteilungsrelationen und der Sozialstaat im
Mittelpunkt: Für das Kapital sind zu hohe Löhne,
unflexible Arbeitsmärkte und zu viel soziale Sicherheit die
Ursachen der Schwäche der Industrieländer. Die Krise wird
funktionalisiert, um die Arbeiter- und Bürgerrechte auf den
Stand des 19. Jahrhunderts zurückzuschrauben.
Die Funktionalisierung der Staatsverschuldung für Zwecke des
Klassenkamp-fes von oben zeigt sich besonders deutlich am
spanischen Beispiel. Miren Et-xezerreta zufolge gibt es zwar in
Spanien durchaus ein Schuldenproblem, die-ses besteht aber vor
allem in der privaten Auslandsverschuldung, während die
öffentliche Verschuldung deutlich unter dem Durchschnitt der
übrigen Euro-Länder liegt. Erst die
großzügigen öffentlichen Hilfen für die Banken
haben daraus ein Staatsschuldenproblem gemacht, welches nun durch
neoliberale Spar- und Strukturprogramme bekämpft wird, die die
Rezession verschärfen.
Griechenland ist bekanntlich jenes Land, in dem – auch vor
dem Hintergrund traditioneller Strukturschwächen – die
Krise am heftigsten wütet. Dies ist aber Jannis Milios zufolge
nicht primär dem Druck der starken EU-Länder, an der
Spitze Deutschland, geschuldet. Es sind vielmehr die griechischen
Eliten, die die Krise nutzen, um die von ihnen seit 20 Jahren
verfolgten sozialreaktionären Ziele endlich zu verwirklichen.
Die griechische Linke könnte den Krisenkurs noch stoppen,
allerdings nur in einem europäischen Rahmen. Das sieht Costas
Lapavitsas anders. Er meint, nur ein Austritt Griechenlands aus der
Eurozone, die Einstellung des Schuldendienstes und eine
Restrukturierung der griechischen Wirtschaft und Gesellschaft im
Interesse der abhängig Beschäf-tigten könnten
verhindern, dass Griechenland in einer lang anhaltenden Dep-ression
versinkt. Dieser Weg berge viele Risiken in sich – die aber
gegen die Perspektive eines dauerhaften Niedergangs abzuwägen
seien.
Klaus Dräger befasst sich mit den Positionen der
europäischen sozialdemo-kratisch/grünen Linken, aber auch
mit denen der Gewerkschaften und der ‚Linken der
Linken‘. Den ersteren bescheinigt er, dass sie bei aller
Rhetorik konsequent an ihrer „sozialliberalistischen“
Variante des Neoliberalismus fes-thalten und sich – wenn sie
wie in Frankreich die Regierung übernehmen – mit rein
symbolischen Korrekturen der konservativen Austeritätspolitik
zufrieden geben. Den Alternativen der Gewerkschaften und der Linken
wirft er dagegen vor, dass diese bei ihren Einzelvorschlägen
die politischen Kräfteverhältnisse ausblenden: Nur ein
allgemeiner sozialer Aufruhr könne die EU-Eliten zum Einlenken
bewegen.
Ein Kernaspekt der Krise und des gegenwärtigen
kapitalistischen Entwicklungsmodells war und ist die
Verselbständigung des Finanzsektors, u.a. eine Folge des
Deregulierungswahns der 1990er Jahre. Notwendig wäre eine
Re-Regulierung der Finanzindustrie, verbunden mit einer drastischen
Reduktion des Gewichts der Finanzsphäre. Joachim Bischoff und
Norbert Weber schildern den (unbefriedigenden) Stand der
Regulierungsreformen und zeigen, dass die expansive Geldpolitik der
Notenbanken die Bereinigung der Hypertrophie des Finanzsektors eher
verhindert hat. Kernpunkt einer wirksamen Reform müsse eine
Restrukturierung der Realökonomie, nicht eine Sanierung der
Bankbilanzen sein.
Hermann Bömer stellt die Entstehung und Entwicklung der linken
Euromemo-Gruppe im Kontext der EU-Politik dar und geht auf deren
Alternativposition ein. Da die Krise und deren Formwandel von der
Banken- zur Staats-schuldenkrise nur vor dem Hintergrund der
erfolgreichen Verteilungsoffensive des Kapitals verstanden werden
könne, schlägt die Gruppe eine offensive, durch
veränderte und gestärkte EU-Institutionen gestützte
soziale und ökolo-gische Reformpolitik vor. Es bestehe aber
auch das Risiko einer „wirtschaftlichen und sozialen
Großkrise“.
Für Klaus Busch und Dierk Hirschel hat die aktuelle Krise
einen Konstruktionsfehler der europäischen Wirtschafts- und
Währungsunion offen gelegt. Bei gemeinsamem Binnenmarkt und
gemeinsamer Währung bleibt das System der konkurrierenden
Wettbewerbsstaaten bestehen. Die Folge sind wachsende
Ungleichgewichte, wobei vor allem Deutschland profitiert. Trotzdem
halten die Autoren eine Renationalisierung der Wirtschafts- und
Sozialpolitik für den falschen Weg. Sie sind für
„mehr Europa, aber anders“. Sie plädieren für
ein europäisches Aufbau- und Entwicklungsprogramm zur
Überwindung der Wachstumsschwäche, das durch eine
europaweite Vermögensabgabe finanziert werden
könnte.
Ökonomisch-ökologische Krise: Die grün-schwarze
Energiepolitik hat seit dem Atomausstiegsbeschluss mit einem
grundlegenden Widerspruch zu kämpfen: Die bestehende
Energieversorgungsinfrastruktur ist mit einem Umstieg auf
er-neuerbare Energien nicht vereinbar. Die Bundesregierung bleibt
jedoch den Interessen der dominierenden Energieversorgungskonzerne
verpflichtet. Aus der „Energiewende“ wird, so Bernd
Brouns, daher ein „weiter so“. In der Klimapolitik
erweisen sich die Kyoto-Mechanismen als ungenügend. Sie sind
nachfrageorientiert und vernachlässigen die Angebotsseite.
Mohssen Massarat betont in Auseinandersetzung mit dem konservativen
Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn die Notwendigkeit einer
präzisen Analyse der auf den Ressourcenmärkten
herrschenden Machtverhältnisse, wenn eine wirksame, politisch
festgelegte Mengenbewirtschaftung von Kohlenstoffen
(Energieträgern) realisiert werden soll. Sabine Leidig gibt
einen Überblick zu Arbeit der Enquête-Kommission
„Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“. Sie
erwartet von ihr zwar „kaum wegweisende Ergebnisse“,
nimmt sie aber als Anregung für die Linke, die eigenen
konzeptionellen Defizite hinsichtlich Wachstumskritik,
sozial-ökologischer Umbauprozesse und einer „Theorie des
grünen Sozialismus“ zu bearbeiten. Eine Strategie, die
Wachstum von Umwelteingriffen, Konsum, Warenproduktion und Profit
zurückschrauben will, muss sich, so Karl Hermann Tjaden, auf
den Mechanismus der kapitalistischen Produktion selbst
konzentrieren und im Sinne eines „Akkumulations-Stopps“
das überproportionale Wachstum des Einsatzes von Sachanlagen
und Sachmitteln zu Lasten der Beschäftigung von
Arbeitskräften einschränken.
Geschichte: „Historische Krisen und ihre Verarbeitung“
ist er Titel eines Bei-trags von Josef Schleifstein vom Juni 1990,
den wir aus Anlass seines 20. To-destages (24. Juli 2012)
nachdrucken. Das damals noch ganz gegenwärtige
„Scheitern des ersten praktischen Gestaltungsversuchs einer
Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft“ erfordere, so
Schleifstein, eine „grausam-gründliche
Selbstkritik“, wie dies Rosa Luxemburgs mit Blick auf den
August 1914 verlangt hatte. Werner Röhr bespricht die
materialreiche Darstellung von Christoph Dieckmann zu den
Massenverbrechen der deutschen Besatzer und ihrer litauischen
Helfer im Litauen der Jahre 1941 bis 1944. Eric Hobsbawm
würdigt das Lebenswerk des britischen Historikers Tony Judt,
mit dem ihn eine streitbare und oftmals kontroverse Freundschaft
verband.
Weitere Beiträge: Nico Biver analysiert die französischen
Parlamentswahlen, die nach den Präsidentschaftswahlen eine
herbe Enttäuschung für die Links-front Mélanchons
brachten, und zeichnet die strategischen Diskussionen nach, die
nach der Wahl innerhalb des Bündnisses begonnen haben. Lothar
Peter charakterisiert zeitgenössische Beiträge zu
Revolution und Kommunismus von Badiou, Žižek, Holloway
und Onfray als „postmodernen Linksradikalismus“. Er
kritisiert die empirische Blindheit der Autoren, die sie von einer
„politischen Praxis“ isoliere, die an den konkreten
Widersprüchen und krisenhaften Entwicklungen der modernen
kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft anknüpft.
Claudius Vellay debattiert die Kategorie der Entfremdung unter
Rückgriff auf die „Ontologie des gesellschaftlichen
Seins“ von Georg Lukács vor dem Hintergrund der
Hypostasierung der Kategorie (Frankfurter Schule) einerseits, ihrer
grundlegenden Verwerfung (Althusser-Schule) andererseits. Gretchen
Binus plädiert dafür, die marxistische Monopoltheorie
für die Analyse des Gegenwartskapitalismus – gerade
angesichts der globalen Finanzkrise – fruchtbar zu
machen.
Der Fortgang der Finanzmarkt- und EU-Krise wird uns auch in Z 92
(Dezember 2012) beschäftigen. Den Schwerpunkt werden
Beiträge zu Gewerkschaftsfragen bilden.