Editorial

März 2022

Im letzten Heft – Z 128 (Dezember 2021) – hatten wir im Kontext des abrupten Endes der US- und NATO-Intervention in Afghanistan die heraufziehenden geopolitischen Auseinandersetzungen um eine neue Weltordnung thematisiert. Seitdem hat sich der Schauplatz der Konfrontation schlagartig nach Europa verlagert: Den Kommentaren zum neuen Kalten Krieg (Frank Deppe), zur geopolitischen Strategie im postsowjetischen Raum (Joachim Becker) und zu den Interessen und Optionen der Politik Russlands (Reinhard Lauterbach) ist gemeinsam die Forderung nach einer die wechselseitigen Interessen respektierenden Sicherheitspolitik im Interesse des Friedens.

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Globale Waren- und Wertschöpfungsketten: Die Vervielfältigung und Verflechtung internationaler Warenketten ist ein Kernelement der sogenannten Globalisierung des heutigen Welt-Kapitalismus. Die Lieferengpässe im Zuge der Corona-Pandemie (z.B. Chip-Mangel in der Auto-Industrie) haben ihre Bedeutung auch für die Öffentlichkeit spürbar werden lassen. Globale Waren- und Wertschöpfungsketten sind Gegenstand des Schwerpunktes. Christian Christen geht von einer steigenden Divergenz zwischen Zentrum und Peripherie in der kapitalistischen Weltwirtschaft aus. Die globale Vernetzung durch Produktionsverlagerung und Liberalisierung des Welthandels hat die Produktions- und Wertschöpfungsketten verwundbarer und krisenanfälliger gemacht. Christen erörtert die heutige Stellung Chinas in diesem Netzwerk und Vorstellungen, wie Krisen durch Reformen des globalen Produktionsnetzes gelöst werden könnten. Christin Bernhold gibt einen Überblick zur Theoriegeschichte der Forschung über Warenketten und der marxistischen Beiträge auf diesem Gebiet. Sie stellt deren Wurzeln in der Weltsystemanalyse vor und skizziert die konzeptionellen Veränderungen in den 1990er und 2000er Jahren. Dabei geht sie auch auf die Diskussion über globale Warenketten als mögliche Kanäle für soziale Aufwertung ein. Die Analyse der Machtbeziehungen in Produktionsnetzwerken, so Christoph Scherrer, beschränkt sich meist auf das Verhältnis zwischen Betrieben (‚ungleicher Tausch‘). Die Macht der Leitfirmen gegenüber den Zulieferbetrieben beruhe aber nicht bloß auf ökonomischen Faktoren, sondern auch auf institutionellen Bedingungen. Die von Gramsci entwickelten Kategorien der ‚Hegemonie‘ und des ‚historischen Blocks‘ seien hilfreich, um die „Entstehung und Reproduktion der Institutionen, die die Macht der transnationalen Konzerne untermauern“, zu erklären.

Intan Suwandi, R. Jamil Jonna und John Bellamy Foster vergleichen Lohnstückkosten in Ländern des globalen Nordens und Südens und analysieren die zunehmende globale Reichweite multinationaler Konzerne und deren Strategie der Ausnutzung von divergierenden Arbeitskosten. Die Wertschöpfungsketten werden von multinationalen Unternehmen gesteuert, die sich einen Teil der in der Peripherie geschaffenen Werte durch ungleichen Austausch aneignen und dadurch „mehr Arbeit im Austausch für weniger“ erhalten. Globale Warenketten sind Benjamin Selwyn zufolge Ergebnis einer ‚business revolution‘, in deren Rahmen sich die Transnationalen Konzerne auf die rentabelsten Kernkompetenzen konzentrierten und große Teile der Produktionstätigkeit outsourcten. Sie nutzten die Tatsache, dass die Zulieferbetriebe des Globalen Südens zwar hoch produktiv sind, die Lohnkosten aber durch das niedrige Reproduktionsniveau und schwache Arbeiterorganisationen begrenzt werden. Armutslöhne bei hoher Produktivität sichern überdurchschnittliche Mehrwertraten, die sich die Leitfirmen aneignen.

Die öffentliche Diskussion über globale Lieferketten bezieht sich i.d.R. auf Menschenrechte und Umweltschutzstandards. In Folge der Corona-Krise ging es diesmal, so Romy Siegert und Max Waclawczyk, primär um die Resilienz dieser Lieferketten. Stärker als bisher sollte dabei die Kritik der mit ihnen verbundenen Ausbeutungsverhältnisse akzentuiert werden. Für entsprechende Ansätze transnationaler Gewerkschaftsarbeit bietet sich hier ein kleines window of opportunity, das es zu nutzen gelte. Konkrete Einblicke in die Möglichkeiten und Strategien transnationaler gewerkschaftlicher Arbeit geben anschließend Tatiana López und Michael Fütterer. Von den Schwierigkeiten gewerkschaftlicher Organisation entlang der Waren- und Wertschöpfungskette ausgehend diskutieren sie Maßnahmen, die die Einhaltung sozialer Standards und die Interessenvertretung der Beschäftigten gewährleisten sollen. Sie verweisen u.a. auf ‚Bottom-up‘-Ansätze gewerkschaftlicher Solidarität zur Stärkung konfliktbereiter Belegschaften am Beispiel des TIE-ExChains- und Rede-Suco-Netzwerks zur Unterstützung von Beschäftigten in der Bekleidungs- und Orangensaft-Industrie.

Online-Heftpräsentation zu diesem Heft am 17. März 2022, 19 Uhr, mit Christian Christen, Tanja Paulitz und Gerd Wiegel. Informationen: Z-Homepage und in unseren Social-Media-Auftritten.
Zugang: kurzelinks.de/z129 / Meeting-ID: 813 1047 6308 / Kenncode: Z129

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Kapitalistische Transformation: Das „Fortschritts“-Konzept der Ampel-Koalition zielt darauf, durch umfassende technische Innovation und „ökologische Modernisierung“ die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtchaft auf ein neues Niveau zu heben, Klimapolitik inklusive, um weiter in der europäischen und weltweiten „Spitzenliga“ mitzuspielen. Das erfordert, so eine Autorengruppe der Z-Redaktion, eine sehr viel aktivere Rolle des Staates (neuer „Etatismus“) als bisher und könnte auf einen Bruch in der Entwicklung der Reproduktionsweise des Kapitalismus in der BRD hindeuten. Ein Kernbereich dieses kapitalistischen Transformationskonzepts ist die Klimapolitik, die André Leisewitz in einem gesonderten Beitrag hinsichtlich ihrer Ziele und politisch-ökonomischen Konzeption überprüft.

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Marx-Engels-Forschung: Ehrenfried Galander und Axel Rüdiger geben einen Abriss zum Debattenverlauf über den von Marx 1859 formulierten sechsgliedrigen Aufbauplan seiner Kritik der politischen Ökonomie (Sowjetunion seit den 1920er Jahren, DDR und BRD). Die Auseinandersetzung mit dem Aufbauplan spiegelt sich auch in Edition und Bearbeitung der MEGA²-Bände wieder. Die Verfasser betonen das Potential einer Rekonstruktion des sechsgliedrigen Aufbauplanes für eine Aktualisierung der Theorie von Marx. In seiner Replik auf Lietz/Schwarz (Z 125/126) weist Michael Heinrich den Vorwurf zurück, die Bildung von Wert und abstrakt menschlicher Arbeit auf den Austausch der Waren zu reduzieren und die Produktion zu ignorieren. Gleichwohl sei es keine Fehlinterpretation des Marx’schen „Zwischenmanuskripts“ von 1871/72, die besondere Rolle des Austauschs zu betonen. Es gelte der Marx’sche Satz aus jenem „Zwischenmanuskript“, dass nur der Austausch die Reduktion auf abstrakte Arbeit, und damit auf Wert, vollziehe.

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Weitere Beiträge: Mit der Auffassung, die Corona-Krise habe gerade erst erreichte geschlechterspezifische Modernisierungsgewinne zunichte gemacht und so zu einer Retraditionalisierung der Geschlechterverhältnisse geführt, setzt sich Tanja Paulitz auseinander. Solche Benachteiligungen gebe es tatsächlich, doch habe die Krise bestehende Klassen- und Geschlechterungleichheiten zu Lasten vieler Frauen weiter verschärft. Deren Auswirkungen auf die Schwächsten, vor allem Frauen in der Teilzeitfalle und im Niedriglohnsektor, müssten in den Blick genommen werden. Sowohl Digitalisierung als auch E-Mobilität gelten als Schlüsseltrends, die die Automobilindustrie vor immense Herausforderungen stellen. Peter Schadt und Nathan Weis differenzieren: Während die Digitalisierung durch das Kapital selbst hervorgebracht wurde, um Produktionsabläufe und Produkte zu vernetzen, handelt es sich bei der E-Mobilität um eine staatliche Initiative, mit der das Interesse des Kapitals an der Umstellung auf den E-Motor überhaupt erst geweckt werden soll. Gegen Alexander von Pechmanns Ansicht, die Menschheit – in Gestalt der Vereinten Nationen – solle rechtliche Eigentümerin der Erde werden („Eigentumsfrage des 21. Jahrhunderts“), wendet Jürgen Leibiger ein, dass Pechmann die Eigentumsverhältnisse als rechtliche, nicht aber als politökonomische Kategorie behandelt. Die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse könnten nicht durch Verwandlung in Gemeineigentum eines fiktiven Weltstaats abgeschafft werden. Matin Baraki behandelt im zweiten Teil seines Beitrags zur Geschichte Afghanistans die kurze, aber dramatische Phase der Revolution von 1978, die Intervention der Sowjetunion und den von den USA mit anderen westlichen Staaten organisierten Bürgerkrieg bis zum Machtantritt der Taliban.

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Wir hoffen, dass die „kleinen Rubriken“ Zeitschriftenschau, Berichte und Buchbesprechungen Anregungen aus verschiedenen Themenbereichen der marxistischen oder für marxistisches Denken relevanten Diskussion bieten. Fast die Hälfte der über vierzig Autorinnen und Autoren dieses Heftes haben zu diesen Rubriken beigetragen. Jule Kettelhoit und Frank Walensky ist für Beteiligung an Redaktion und Gestaltung des vorliegenden Heftes zu danken. Der erneut gute Abo-Zuwachs im letzten Jahr (erstmals dreistellig) und Einzelheftverkauf ermöglichen es, trotz gestiegener Herstellungs- und Vertriebskosten zumindest vorerst die Heftpreise stabil zu halten. Themen in Z 130 (Juni 2022) u.a.: Marxistische Medientheorie; Sozialismuskonzeption beim späten Engels; Postkapitalistische Regulationsweise; Jugendliche und Systemkritik; Sozialstrukturentwicklung BRD; Streikmonitor.