Täglich hört und liest man Berichte über Lieferschwierigkeiten und Engpässe in Unternehmen, gedrosselte Produktion und Stornierungen bis hin zu Kurzarbeit bei guter Auftragslage. Parallel zur Pandemie-Berichterstattung sind vor aller Augen handfeste Schwierigkeiten im internationalen Handel und der Arbeitsteilung – herkömmlich als Globalisierung bezeichnet – sicht- und erfahrbar geworden. Sei es durch steigende Preise (Inflation), beim Versuch ein bestimmtes Fahrrad, Auto oder Elektrogerät zu kaufen oder bei der Sanierung von Wohnraum und Realisation von Bauvorhaben.
Eine neue Erfahrung für viele, wurde unser Konsum doch vor der Pandemie über den Onlinehandel, die vernetzte, schlanke Produktion (just in time) furios beschleunigt und das Dienstleistungsangebot immer kleinteiliger und schneller genutzt. Wenn etwas die Globalisierung charakterisiert, dann ist es die Verdichtung von Raum und Zeit, mit der Kontinente und Volkswirtschaften über den gewaltigen Umschlag und die Transformation von Rohstoffen in komplexe Konsum- und Investitionsgüter vernetzt wurden. Millionen Teile werden hin- und hertransportiert, ergänzt und aus tausend Komponenten irgendwo auf der Welt wird ein Endprodukt montiert, auf dem das „Made in…“ Label oft nicht mehr bedeutet, als das Branding des Hauptauftrag- und Lizenzgebers.
Je stärker vernetzt, desto abhängiger sind die Beteiligten voneinander, was in akuten Krisen zum Tragen kommt. Im Grunde eine Banalität, ebenso wie die Einsicht, dass es Stabilität und Kontinuität nie automatisch und nicht zum Nulltarif gibt. In den letzten Monaten wird dies erneut belegt und es zeigen sich deutliche ökonomische wie physische Grenzen der zurückliegenden Arbeitsteilung. Kurzfristig erklären sie sich als Pandemie-Effekte: Angebotsschocks durch abrupte Produktionsstopps, kombiniert mit Nachfrageschocks aufgrund des konzentrierten Bedarfs nach gleichen Produkten (medizinische, hygienische Grundstoffe und Pharmazie) und Konsumartikeln in allen Ländern. Nun ging aber die erwähnte Verdichtung einher mit der Verlagerung industrieller Produktionen in die Peripherie und einer zugehörigen De-Industrialisierung in den OECD-Nationen. Ergebnis ist, dass sich die Verwundbarkeit dieser Netze erhöht und dann etwa als sogenanntes Lieferketten-Problem zurückschlägt.
Politik, Medien und Öffentlichkeit scheinen oft überrascht, wie abhängig die eigene Gesellschaft und Wirtschaft ist, mahnen mehr Resilienz (Krisenfestigkeit) von Produktion und Logistik an und verstehen diese Aufgabe im üblichen Narrativ der Globalisierung als Optimierungsproblem: Es geht dann um die bessere Kenntnis der Lieferantennetze, um Alternativen und die Substitution von Komponenten sowie von Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffen. Es geht um veränderte Transportwege, regionale Strukturen und Lagerhaltung (vgl. McKinsey & Co 2021). Letzteres ist als akute Krisenreaktion zu verstehen und nicht als betriebswirtschaftliche Umkehr in der Breite zu deuten. Denn gerade die Vorratshaltung und Logistik ist über Jahrzehnte outgesourct und mittels Zunahme des Transports zu den heutigen Produktionsnetzen rekombiniert worden. Die Kosten der Lagerhaltung und folglich für höhere Resilienz wurden systematisch reduziert, verlagert in die Lieferketten und sozialisiert. Denn der Boom des Transportwesens zu Lande (Straßenverkehr, Schiene), in der Luft und zur See hat neben massivem Flächenverbrauch (Verkehrswege, Infrastruktur) den Durchsatz fossiler Energie und von Rohstoffen mit negativen Umwelteffekten in Kauf genommen.
Mittlerweile wird durchaus korrekt formuliert, dass die Pandemie wie ein Brennglas lange bekannte Probleme sichtbar macht. Für die hier interessierende Problematik von Globalisierung, Produktionsnetzwerken und Lieferketten trifft dies ebenfalls zu (vgl. Tooze 2021). Hierbei sind direkte Effekte der Pandemie bzw. der politischen, unternehmerischen Reaktion getrennt von den strukturellen Effekten zu betrachten, die als Pendant der Entwicklung der internationalen Arbeitsteilung seit den 1950er Jahren interpretiert werden können. Letztere lassen sich zwei Komplexen zuordnen, die den Industriekapitalismus respektive die Produktions- und Wirtschaftsweise auch von weniger entwickelten Volkswirtschaften heute prägen: Einerseits sind es geoökonomische, technologische Änderungen, andererseits wachsende ökologische und soziale Probleme. Die Effekte haben Wechselwirkungen, generieren unterschiedliche Dynamiken und die exakte Prognose potentieller Strukturbrüche bleibt ungewiss. Sie lassen sich nicht einfach aus einem theoretischen Konstrukt und der Analyse „ableiten“. Zumindest nicht, wenn die Flexibilität des Kapitalismus ernst genommen wird und keiner teleologischen Geschichtsschreibung dient. Jenseits anekdotischer Beispiele aus der individuellen Konsumwelt und/oder Schwierigkeiten einzelner Branchen und Unternehmen werden im folgenden Text Eckpunkte von globaler Produktion und Verteilung von Waren, Gütern und Dienstleistungen in einen breiteren Kontext industrieller Netze und deren Entwicklung eingebettet, um so einige aktuelle und künftige Probleme besser zu verstehen.
Globale Rekombination von Wertschöpfung
Globalisierung meinte nie den ganzen Globus und sie betraf nie gleichwertig oder gleichzeitig alle Nationen hinsichtlich der entscheidenden ökonomischen Parameter der „Weltwirtschaft“. Verkürzt ausgedrückt entstand seit den 1970er Jahren über die zunehmende Internationalisierung der Produktion und des Handels eine verzweigte Netzwerkstruktur für die Herstellung von Konsum- und Investitionsgütern, die um große Industrieunternehmen (meist multinationale Konzerne) und Dienstleister herum gruppiert waren. Das Ende des festen Wechselkursregimes von Bretton-Woods und das Aufbrechen bis dato regulierter Finanzmärkte erzeugte zusätzlich einen Liberalisierungsschub für Finanzdienstleistungen privater Banken, Fonds und Versicherungen. Beides zusammen eröffnete neue Möglichkeiten des ausländischen Marktzugangs über vermehrte Direktinvestitionen und steigenden Im- und Export. Die klassischen Industrienationen blieben erst einmal politisch, technologisch wie ökonomisch bestimmend, um deren industrielle Zentren (Nordamerika und Europa) gruppierten sich zahlreiche Länder der Peripherie. Diese waren mehr oder weniger organisiert in regionalen Netzwerken, in denen sie ab den 1950er Jahren als Zulieferer für manuell gefertigte Komponenten mit hoher Arbeitsintensität für den Export (freie Industrie- bzw. Wirtschaftszonen) für die Industrienationen fungierten. Parallel wurden sie mit dem so erzeugten Wachstum zu Absatzmärkten für Konsum- und Investitionsprodukte (Maschinen, Anlagen, Technik) aus den Industrienationen und in dieser Form in die internationale Arbeitsteilung integriert (vgl. Schoeller 1976, S. 186 ff.). Multinationale Konzerne, ihre Ableger und heimische Produzenten für den Binnenmarkt existierten nebeneinander – nie ohne Krisen oder gar konfliktfrei.
Die durch zwei Weltkriege unterbrochene Globalisierungsphase des frühen 20. Jahrhunderts legte damit nach 1945 sehr früh die Basis für die darauf aufbauende nachholende Industrialisierung in vielen Ländern, insbesondere über den Weg der internationalen Arbeitsteilung und des Handels (vgl. O`Rourke/Williamson 1999). Einige Regionen fielen aus unterschiedlichen Gründen zurück (u.a. Afrika südlich der Sahara; Naher und Mittlerer Osten; Lateinamerika) und blieben bei Arbeits- und Kapitalproduktivität auf dem Niveau eines Entwicklungslandes. Zeitgleich vernetzten sich andere Regionen enger, die von Ländern verschiedener Produktivität und sozio-ökonomischer wie politischer, geographischer Voraussetzung umgeben waren. Im Ergebnis entwickelten sich bis zum Übergang ins 21. Jahrhundert drei Makroregionen: Nordamerika mit dem Zentrum USA. Europa, genauer die Handels- und Produktionszone des EU-Binnenmarktes, mit osteuropäischer und nordafrikanischer Peripherie. Der asiatisch-pazifische Raum, in dem Japan und zeitverzögert Südkorea produktionstechnisch und technologisch für die globale Wertschöpfung immer wichtiger wurden. In den 1980er Jahren gesellten sich die südostasiatischen Tigerstaaten hinzu. Einerseits dienten sie als vor- und nachgelagerte Werkbank der asiatisch-pazifischen Wertschöpfungsketten, in denen das industrielle Endprodukt in Teilsegmente zerlegt und die entsprechende Komponentenfertigung outgesourct wurde. Andererseits wurden die Tigerstaaten sehr attraktive Investitionsstandorte für nordamerikanische und europäische Unternehmen, Banken und Fonds, was die eigene nachholende Entwicklung in Asien stützte (vgl. Aoki et al. 1998. Thompson 1998).
Im Hintergrund des asiatisch-pazifischen Raums wuchs aufgrund der Öffnungs- und Reformpolitik Deng Xiao Pings schließlich China heran (vgl. Weber 2021). Zunächst über die bekannte Auftragsfertigung für den Export in Sonderwirtschaftszonen. Später über die aktive Planung und Finanzierung gesteuerter Produktion von Konsum- und Investitionsgütern für den chinesischen Binnenmarkt. Trotz starkem Entwicklungsgefälle zwischen den chinesischen Provinzen und ungelösten Problemen: China ist das jüngste und größte Beispiel, wie und durch welche Maßnahmen sich der „stoffliche Kapitalmangel“ in einer produktionstechnisch rückständigen Ökonomie überwinden ließ und der sozio-ökonomische Aufstieg möglich wurde (vgl. Steiner 1997). Marktwirtschaft, Wettbewerb und freies Unternehmertum waren nicht entscheidend, ebenso wenig wie für die Entwicklung der klassischen Industrienationen. Während deren Aufstieg mit Krieg, räuberischen Merkantilismus, brutaler Kolonialisierung und Handel mit Rohstoffen, Sklaven, Edelmetallen und Luxusgütern für die feudalen Klassen und das aufstrebende Bürgertum verbunden war, fand der ökonomische Abstieg und neuzeitliche (Wieder)Aufstieg im asiatisch-pazifischen Raum zu anderer Zeit und unter völlig anderen Bedingungen statt (vgl. Gunder Frank 1997).
Entgegen der konventionellen wirtschaftswissenschaftlichen Lehrmeinung haben sich diese „erfolgreichen“ Länder auch nicht am theoretischen Idealbild orientiert, indem sie sich aufgrund ihres Überfluss an „billigen“ Arbeitskräften und geringer Ausstattung mit Kapitalgütern (Maschinerie und Technologie) auf arbeitsintensive Produktion beschränkten. Auch haben sie sich nicht allein auf die Kultivierung, Extraktion und den Export agrarisch/mineralischer Rohstoffe verlegt und nicht über die vermeintlich komparativen Vorteile des eigenen Standortes langfristig in den Welthandel integriert (vgl. Christen et al. 2017). Während in vielen Ländern Afrikas und Lateinamerikas eben diese „Fehler“ nachwirken, die industrielle Fertigung gering blieb und ein hoher Anteil an Wertschöpfung in den industriellen Zentren generiert wurde, war dieser Ansatz in vielen asiatisch-pazifischen Ländern nur ein temporäres Element der Transformation. Die Ansiedlung einer Produktion industrieller Vorprodukte, arbeitsintensiver Waren und der Abbau von Rohstoffen für den Export dienten explizit für den internen Ressourcentransfer. Es wurden darüber u.a. Devisen erwirtschaftet, die Produktivität erhöht und neue sowie freiwerdende Mittel (Ressourcen und Menschen) in den Aufbau der eigenen Infrastruktur und Produktion umgeleitet. Früh wurde versucht, eigenes know-how zu entwickeln und die günstigen Arbeitsbedingungen mit technologischem Import und steigender Kapitalintensität zu verbinden. Hier ist nicht der Raum, um die internen wie externen Gründe für Erfolg und Misserfolg zu betrachten. Zentral ist, dass die Erfolgsgründe sich in den Netzwerkbeziehungen der globalen Produktion und zugehörigen Lieferketten manifestierten (vgl. World Bank 2020). Noch heute sind am Gesamtvolumen der Exporte relativ wenig Firmen beteiligt: Etwa 15 Prozent der Im-/Exportfirmen sind für etwa 80 Prozent des Handelsvolumens dieser Länder verantwortlich (vgl. ebenda S. 15).
Nicht der allgemeine Aufwuchs der globalen Im- und Exporte an Fertigwaren ist folglich für die Dynamik der Globalisierung und Entwicklung entscheidend: Es ist erstens der intraregionale Handel mit dem ein über die Grenzen hinausgehender Binnenmarkt erst konstruiert wurde. Positive Lern- und Größeneffekte (economies of scale) konnten dann stärker wirken als es im engen nationalen Rahmen möglich war. Zweitens ist der Warentausch wie beschrieben zuvorderst ein Handel zwischen Unternehmen mit unzähligen Vorprodukten und Komponenten. Erst so wird schließlich der intraindustrielle Handel mit ähnlichen/identischen Gütern global überhaupt möglich. Der Welthandel und die Produktion sind nicht idealtypisch entlang völlig unterschiedlicher Produktgruppen getrennt (Kartoffelchips gegen Mikrochips), sondern die einzelnen Volkswirtschaften konkurrieren mit ähnlichen Produkten (PKW, Elektrogeräte, Pharmazie, Lebensmittel u.v.m.) zwischen vergleichbaren Branchen. Letzteres begünstigt wiederum den Technologietransfer über die Komponentenfertigung. Je anspruchsvoller die Zulieferer sein müssen, desto mehr Kapitalgüter (Maschinen) und Ausbildung (Humankapital) wird benötigt. Je größer die Auslagerung von Produktionsteilen und sogar ganzen Industrien (Bekleidung, Maschinebau, Elektronik), desto stärker wächst das Potential für Konkurrenz. Produktpiraterie und Patentverstöße sind hier nachgeordnet (identisch agierten die klassischen Industrienationen) und nicht ursächlich für den Aufstieg Japans, Südkoreas oder Chinas. Letztlich haben alle europäischen und amerikanischen Firmen durch ihre eigenen Investitionsentscheidungen seit 1945 im Rahmen der von ihnen favorisierten Globalisierung die Situation erst mit geschaffen und forciert, die bei anderer Gelegenheit als krisenanfällig und wenig resilient beklagt wird.
Zwei Seiten einer Medaille: Stärke und Abhängigkeit
Logischerweise entwickelte sich die globale Netzwerkstruktur von Produktion und Vertrieb nicht störungsfrei. Nach einer relativ dynamischen Phase ab den 1980er Jahren kam es u.a. zu einer schweren Währungs- und Finanzkrise in Südostasien Ende der 1990er Jahre. In den industriellen Kernländern hatte sie kaum negative Folgen, was im asiatisch-pazifischen Raum anders war. Beispielhaft zeigte sich in dieser Phase, dass ein regulierter Marktzugang für Unternehmen und besonders für Kapitalflüsse von Vorteil war – was der internationalen „Expertenansicht“ in Wirtschaftsfragen zuwiderlief. Trotz stärkerer Im- und Exportbeziehungen war die chinesische Wirtschaft von den internationalen Finanzströmen relativ abgekoppelt, entsprechend konnte die süd-ostasiatische Finanzkrise genutzt werden, um im asiatisch-pazifischen Raum als Stabilitätsanker zu reüssieren. Im Übergang zum 21. Jahrhundert kam es zur Dot.Com/New Economy-Krise in den USA und Europa. Erneuter Ausgangspunkt waren die Finanzmärkte, was vor allem die High-Tech Finanzierung traf, aber keine signifikanten Abstürze in der Breite in realwirtschaftlich-zentraler Sektoren zur Folge hatte. Einzig die Produktion schon lange outgesourcter elektronischer Komponenten verstärkte und die Dominanz asiatischer Anbieter festigte sich. Wenige Jahre später gab es 2008/2009 dann die große Wirtschafts- und Finanzmarktkrise mit gravierenderen Effekten für die globale Realwirtschaft. Diese resultieren nicht aus den öffentlichen Rettungs- und Stabilisierungsmaßnahmen an sich. Es wurde schlicht versäumt, den Finanzsektor nach der Krise drastisch zurückzufahren, dessen Funktion über effektive öffentliche Interventionen zu garantieren und die Finanzierung des anstehenden sozio-ökonomischen Transformationsprozesses von Wirtschaft und Gesellschaft anzustoßen. Stattdessen werden bis heute anhaltend hohe Ressourcen gebunden oder „verpulvert“, genauer gesagt umverteilt an falsche Personen/Institutionen zur Stabilisierung eines für Investitionen und reale Entwicklung ineffizienten Finanzsystems. Als Fußnote leistet sich die EU eine eigene „Eurokrise“, die bis heute nachwirkt und aus ideologischen Gründen ungelöst bleibt.
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass sich die Dynamik der Vernetzung der Produktion über unterschiedliche Lieferketten und das Outsourcing seit 2008 reduzierte, ohne die skizzierte Struktur der Globalisierung zu verändern: Einige wenige Länder sind mittlerweile Haupterzeuger bestimmter Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe geworden, die im Land zum Teil veredelt werden und die als wesentliche Grundstoffe nicht nur der chemisch-pharmazeutischen Industrie angeboten werden. Einige Länder sind zum Hauptstandort für die Produktion und mittlerweile für die Entwicklung entscheidender Komponenten-/Teilfertigung für die Elektro-/Automobilindustrie, den Maschinenbau, die Unterhaltungselektronik, Optronik und Robotik (u.a. Halbleiter, Kondensatoren, Mikrochips) und regenerativer Energien (Solar, Windkraft) und digitaler Vernetzung geworden. Andere Nationen extrahieren/produzieren weiter agrarische, mineralische und fossile Rohstoffe (Öl, Gas), haben nur wenige Stufen der Weiterverarbeitung, Veredlung und Produktentwicklung im eigenen Land und exportieren mit geringer Wertschöpfung und sinkender bzw. geringer Produktivität hergestellte „Rohwaren“. Entweder direkt in industrielle Kernländer und/oder an die Schwellenländer, in denen nachgelagerte Zulieferbetriebe die nächsten Stufen der Wertschöpfung ergänzen. Die ungleiche internationale Arbeitsteilung und der sogenannte „ungleiche Tausch“ bleiben damit Ausdruck der produktionstechnischen Ungleichheit und abweichender Arbeits- und Kapitalproduktivität, was sich empirisch seit den 1950er Jahren zeigt (vgl. Schoeller, ebd., S. 258 ff.).
Ungeachtet dessen hat das Outsourcing in den Industrieländern zur schrittweisen De-Industrialisierung und Arbeitsplatzverlusten geführt. Nicht immer flächendeckend wie in der Bekleidungs- oder später der Elektro- und Solarindustrie, vielmehr oft sehr sporadisch und an neuralgischen Punkten. Letzteres wird erst in umfassenden Krisen – wie einer Pandemie – sicht- und spürbar. Nämlich dann, wenn überall gleichzeitig benötigte medizinische Masken nicht vor Ort (u.a. in Europa) hergestellt werden können, da sowohl der Grundstoff (Fließ) als auch die Unternehmen und Maschinen der Maskenproduktion im industriellen Maßstab fehlen und lange schon in China angesiedelt sind. Wenn Desinfektionsmittel und pharmazeutische Grundstoffe nicht allein für Vakzine primär aus Indien/Südostasien eingeführt werden müssen, ebenso wie Mikrochips, Transistoren, Halbleiter und die meisten elektronischen Bauteile.
Die wachsende Vulnerabilität als Pendant der skizzierten Globalisierung ist Ergebnis einer kosteninduzierten Einsparung, Verlagerung und regionalen Konzentration auf Zulieferer im Ausland. Im Alltag ist das üblicherweise kaum problematisch und nicht virulent durch Lieferschwierigkeiten, Preissprünge und Knappheiten. Polit-ökonomisch ist dieser Prozess bereits lange hinterfragt worden, denn unterschwellig stand die Frage im Raum, wie mit der Abhängigkeit umzugehen sei. In Europa und Deutschland sind die Antworten darauf bis zum Ausbruch der Pandemie eher banal ausgefallen. Fluchtpunkt vieler Debatten war die Hoffnung oder der Glaube, der „freie Welthandel“ würde die beste Allokation herstellen, kurzfristige Lieferschwierigkeiten und Krisen könnten ausgesessen und/oder durch diplomatisches Geschick aus dem Weg „verhandelt“ werden u.a. über Freihandels- und Investitionsverträge und Rohstoffpartnerschaften. Der zugespitzt europäische Ansatz entspricht mehr einem kaufmännischen Verständnis und sieht Lösungen in der Optimierung, was zu kurz greift. Nicht alles lässt sich „weg optimieren“, bei real begrenzten und nicht vorhandenen Kapazitäten wird es Engpässe geben müssen, die Störungen der Gesamtwirtschaft nach sich ziehen. Als Optimierung können die Grade von Abhängigkeit nicht progressiv aufgelöst werden, die durch die Liberalisierung des Welthandels und vor allem die geoökonomischen Entwicklungen entstanden sind.
Der kaufmännische, wirtschaftsliberale Ansatz wird bislang in der öffentlichen Debatte einem gesamtwirtschaftlich, industriepolitisch vorausschauendem und strategischem Denken und Handeln diametral entgegengesetzt. Ersterer wird automatisch als überlegen postuliert, letzterer meist als staatsinterventionistisch und protektionistisch diffamiert. Dabei ist selbst die zurückliegende Globalisierung politisch und staatsinterventionistisch durch- und umgesetzt worden. „Märkte“ werden in der Regel konstruiert, Entwicklung und Transformation ist im gesellschaftlichen Umfeld eingebettet. Das hat nicht nur Karl Polanyi (2013) sozialhistorisch treffend geschildert, sondern dies gilt besonders heute angesichts großer transformativer Herausforderungen, die praktisch von der Politik zu beantworten sind.
Jenseits des erratischen, rechtspopulistischen Verhaltens des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump haben etwa führende Köpfe in den USA schon Jahre vorher die Problematik der Abhängigkeit der US-Wirtschaft durch die Liberalisierung und das Outsourcing erkannt und auch benannt. Die Kontroverse um das NAFTA-Abkommen unter Bill Clinton war hier ein Ausgangspunkt, was in den folgenden Jahren einen rapiden Druck erzeugt hatte, der in die De-Industrialisierung einiger Teilbereiche der US-amerikanischen Wirtschaft mündete. Mit der Zeit haben nicht nur die Gewerkschaften und NGOs die sozio-ökonomischen Ergebnisse scharf kritisiert und das politische Scheitern der TPP (Trans-Pacific-Partnership) in den USA später als Erfolg verbucht. Abgelehnt wurde das TPP im Vorfeld des Wahlkampfs Clinton vs. Trump von den Republikanern und Demokraten gleichermaßen, womit dort die Debatte um die Folgen des „Freihandels“ und des Outsourcings von US-Jobs, Industrie und Technologie heute einen neuen Stellenwert hat. Außenwirtschaftlich wurden von der Trump-Administration klare Zeichen gesetzt: Es ging einerseits mit harten Sanktionen gegen High-Tech Firmen, Übernahmen und Kooperationen und dem Verkaufsverbot sensibler Technologien gegen den geopolitischen ökonomischen Rivalen China. Anderseits ging es gegen die EU und besonders Deutschland, das seit Jahrzehnten die breite internationale Kritik an seinen Exportüberschüssen, dem unterbewerteten Euro und der fiskalpolitischen Austerität schulterzuckend zur Kenntnis nahm. Als die USA für Stahl und Aluminium hohe Zölle und Quoten einführte und der Automobilindustrie deutliche Konsequenzen androhten – „heilige Kuh“ der deutschen Volkswirtschaft – gab es zumindest im politischen Establishment in Brüssel und Berlin ein hartes Erwachen.
Bis heute gelten die meisten Einfuhrbeschränkungen und Sanktionen der Trump-Administration fort und die neue Biden-Administration behält den außenwirtschaftlichen Kurs der USA bei. Rationaler Hintergrund ist, dass eine imperiale Macht mit geopolitischem Anspruch nie allein auf der Überlegenheit der Armee gründen kann. Sie muss immer auch in der Lage sein, selbst in zugespitzten Phasen und Krisen ökonomisch weitgehend „unabhängig“ agieren zu können. Sie muss auch künftig in industriell produktiven Bereichen weiter (mit) führend sein, technologische Entwicklungen prägen und uneingeschränkt nutzen können. Der bloße Import und die outgesourcte Produktion von Unternehmen, die im juristischen Besitz von eigenen Staatsbürgern sind, reichen nicht. Dann wäre die Abhängigkeit von Rivalen zu groß und der Machtanspruch verwirkt.
Transformation, Disruption und Lieferketten
Diese geostrategische Betrachtung der US-Administration und – abgeschwächt – ähnliche Entwicklung auch in der EU haben einen realen produktionstechnischen und ökonomischen Anlass, der durch die Pandemie noch einmal anders ins Blickfeld rückte. Die zurückliegenden Entwicklungen haben China die Möglichkeit geboten, sich auf der Weltbühne und vor allem als globaler ökonomischer Konkurrent zu den beiden alten Makroregionen Nordamerika und Europa zu positionieren. Sie konkurrieren dabei nicht allein um die neue Aufteilung bestehender Marktanteile bei Konsum- und Investitionsgütern. Parallel zur skizzierten Auslagerung und Konstruktion von Produktionsnetzwerken stieg China immer mehr von der Werkbank der Welt mit billigen Arbeitskräften und geringer Kapitalintensität zu einem Land auf, in dem Forschung und Entwicklung, eine eigene industrielle Produktion bis hin zu High-Tech Gütern und hohen Investitionsquoten das jährliche Wachstum befeuern. Wenn von Digitalisierung, Industrie 4.0, neuer Mobilität und dem Umbau der Energieproduktion und der Netzinfrastruktur gesprochen und geschrieben wird, dann ist unverkennbar, dass in China genau diese Perspektive als nächster Schritt der Entwicklung angestrebt und mit allen Mitteln verfolgt wird. Hier manifestiert sich das entscheidende künftige Problem aller Industrienationen mit dem skizzierten Zustand der globalen Produktionsnetzwerke und Lieferketten dann auch deutlich: nahezu alle technischen Komponenten, die für diese Entwicklungsschritte zwingend als physische Basis genutzt werden müssen, werden in weiten Teilen in China und der südostasiatischen Peripherie (also ihrer Makroregion) hergestellt. Während es in manchen Bereichen noch technischen Fortschritt US-amerikanischer und europäischer Anbieter gibt und das global sourcing und die Auslagerung von Forschung und Entwicklung nicht vollendet ist, sind in vielen Bereichen asiatisch/chinesische Konkurrenten mindestens ebenbürtig. Genau aus diesem Grund scheinen die geopolitische Konfrontation und die Sanktionen (etwa gegen Huawei beim Ausbau der 5G-Netze; Verbot des Verkaufs bestimmter Mikrochips und Maschinen/Teile zu deren Fertigung) aus „westlicher“ Sicht notwendig, um diese Entwicklung zu verhindern oder zu verzögern. Verzögern, um in dem verbleibenden Zeitfenster eigene industrielle Kapazitäten aufzubauen, Forschung und Entwicklung konzentrierter voranzutreiben und außenwirtschaftlich neu abzusichern.
International gibt es deshalb nicht erst seit der Präsidentschaft Trumps eine Debatte, ob und wie reshoring (Rückverlagerung von Teilen der Wertschöpfung) notwendig ist und wie dies überhaupt gelingen könnte. In Kombination mit den geostrategischen Überlegungen eines decoupling – Trennung der Produktionsnetze zwischen USA und China und ihren Makroregionen – würde die Globalisierung damit in eine andere Phase als in den letzten Jahrzehnten eintreten (vgl. Economist 2019; RDCY 2022). Ob und wie das reshoring sowie die „Neuansiedlung“ von Industrie und Dienstleistung in mittlerweile de-industrialisierten und oft auch strukturschwachen Gebieten möglich ist, bleibt unbestimmt. In den USA und Europa sind die notwendigen progressiven Interventionen in den „Markt“ und die benötigten hohen öffentlichen Investitionen für diese Schritte hoch umstritten und (noch) nicht in der Breite opportun. Privatwirtschaftlich wird dieser Schwenk allein nicht finanziert und selbst die Abkehr vom Outsourcing, die stärkere Vorhaltung und Bereitstellung neuer Produktion und von Lagerkapazitäten für gesamtgesellschaftlich relevante Bereiche wird nicht unternehmerisch entschieden werden können. Es gibt dafür kein immanentes Motiv, außer die Resilienz der eigenen Lieferketten zu erhöhen und den Produktionsausfall in Krisen zu minimieren. Relativ gleiches Verhalten der Unternehmen führt auch nie automatisch zu gesamtwirtschaftlicher Stabilität und so würde das mögliche Herdenverhalten zum Aufbau bestimmter Kapazitäten an einer Stelle führen und an anderer Stelle nicht. Resilienz primär verfolgt aus individueller Risikoabwägung und betrieblichem Nutzenkalkül würde gesellschaftliche Resilienz weiter vernachlässigen und lediglich Angebots-/Nachfrage- und Preiseffekte mit sich bringen – wie bisher.
Ein „weiter wie bisher“ und Vertrauen auf Marktkräfte ist aber kein überzeugender Ausgangspunkt. Dem steht allein die berechtigte Strategie Chinas entgegen, sich weiter zu modernisieren. Eckpunkte dafür liefert die 2015 präsentierte Blaupause „China 2025“, in der zentrale Branchen und technologische Bereiche als Zwischenschritt identifiziert wurden, um China 2050 vollends zum Industrieland zu entwickeln. Die identifizierten Schlüsselbranchen (u.a. Luft- und Raumfahrt, Robotik/Maschinebau, Mobilität, Pharmazie/Agrarchemie, Energieproduktion, Mikroelektronik/künstliche Intelligenz) sind in zweierlei Hinsicht richtungsweisend für die Bewertung künftiger Lieferprobleme und globaler Produktion. Erstens lässt sich nur so eine tiefgestaffelte industrielle Wertschöpfung in China mit zugehörigen Dienstleistungen in hoher Qualität vor Ort in der Breite etablieren, die global in allen Bereichen konkurrenzfähig ist. Zweitens befinden wir uns auch in den übrigen Industrienationen am Beginn einer generellen industriellen Transformation, die durch globale ökologische Probleme überfällig ist und international angestrebt wird. Der Verschmutzungsgrad und Ressourceneinsatz muss rapide sinken und gleichzeitig muss der Bedarf an Energie durch erneuerbare Quellen gedeckt werden.
In dieser Hinsicht ist Chinas Ansatz für die nächsten Jahrzehnte nicht eine bloße Kopie der klassischen Industrienationen und deren Produktion und Distribution, sondern ein rationaler Versuch, technologische Stufen zu überspringen, gleichzuziehen oder die Industrienationen gar zu überholen. Folglich geht die laufende Transformation nicht allein mit technologischen Disruptionen/Brüchen einher und schon aus der ökonomischen Größe und Rolle Chinas lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit interpretieren, wie und wo die künftige industrielle Produktion organisiert sein wird, welche Strukturen, Branchen und Unternehmen obsolet oder randständig sind und „verschwinden“ werden.
Chinas Strategie ist ökonomisch und sozial relativ logisch, wenn der Status eines Schwellenlandes überwunden werden soll. Es sind vor allem die großen Unterschiede zwischen dynamischen Industriezentren und regionaler Rückständigkeit im Land abzubauen und der ökonomische Wildwuchs ist einzugrenzen, um das fragile Wirtschaftssystem zu stabilisieren. Die technologischen Ambitionen haben damit auch den Zweck, die Kapitalintensität und Produktivität zu erhöhen und in der Breite die Einkommen zu heben. Chinas Devise ist, bis 2025 als Hocheinkommensland eingruppiert zu werden und bis 2035 die Wirtschaftsleistung zu verdoppeln (vgl. KfW 2022). Arbeitsintensive Produktion mit niedrigen Löhnen in den Zuliefererbetrieben gibt es bis heute, aber auch hier hat sich die Struktur über Jahre verändert und chinesische Unternehmen lassen in anderen Ländern fertigen – selbst in Afrika – und bedienen sich des Outsourcings von Teilen der Produktion.
Die industrielle Schwerpunktsetzung in China hat im Unterschied zum politischen Agieren in Nordamerika und Europa vehement eigene technologische Grundlagen gefördert und entwickelt, wobei nicht absehbar ist, ob diese partielle Eigenständigkeit zur technologischen Führerschaft ausgebaut werden kann. Die harten Konflikte (u.a. Huawei, Qualcomm) um Zugriff und Einsatz von Chiptechnologie, IuK-Technik und Datenverarbeitung der digitalen Konkurrenten USA und China ist nicht entschieden. Europa spielt hier bislang eine eher nachgeordnete Rolle. Lieferketten-Probleme werden deshalb auch künftig nach der Pandemie aus den skizzierten Gründen eher zunehmen, was eine adäquate aktive Wirtschafts-, Struktur- oder gar Industriepolitik etwas mildern könnte. Aber die entsprechende progressive politische Umkehr wird bei „uns“ wahrscheinlich eher durch starken externen Zugzwang als durch Einsicht und rationale Bewertung angestoßen. Nicht nur in dieser Hinsicht ist uns China in seiner planerischen Perspektive und deren Umsetzung um Einiges voraus.
Literatur
Aoki, M./Kim, H.-K./Okuno-Fujiwara, M. (1998): The Role of Government in East Asian Economic Development. Oxford
Christen, C./Eberhard-Köster, R./Süß, R. (2017): Friede, Freude, Freihandel. Hamburg
Economist (2019): Special Report – Global supply chains. July 13th; p. 3-12. London
Flassbeck, H./Steinhardt P. (2018): Gescheiterte Globalisierung. Berlin
Gunder Frank, A. (1998): ReOrient – Global Economy in the Asian Age. London
KfW Research (2022): Chinas langfristige Entwicklungsziele als Herausforderung für die Produktivität. Nr. 364, 13. Januar 2022
McKinsey & Company (2021): How COVID-19 is reshaping supply chains.
RDCY (2022): Collaboration & Breakthrough: Dilemma Resolution for American, Chinese, and Global Economies. Chongyang Institute for Financial Studies, Renmin University of China (RDCY) http://en.rdcy.org/indexen/index/news_ cont/id/691842.html
O`Rourke, K./Williamson, J.G. (1999): Globalization and History – The Evolution of a Nineteenth-Century Atlantic Economy. Cambridge/Mass
Polanyi; K. (2013): The Great Transformation – Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt a.M.
Schoeller, W. (1976): Weltmarkt und Reproduktion des Kapitals. Frankfurt a.M.
Steiner, R. (1997): Investierbarer Überschuß und Außenhandel. Marburg
Thompson, G. (1998): Economic Dynamism in the Asia-Pacific. London/New York
Tooze, A. (2021): Welt im Lockdown – Die globale Krise und ihre Folgen. München
Weber, I. (2021): How China Escaped Shock Therapy: The Market Reform Debate. London/New York
World Bank (2020): World Development Report 2020 –Trading for Development in the Age of Global Value Chains. Washington D.C.