Afghanistan 2021 – erste Erklärungsversuche

von Dieter Boris
Dezember 2021

Der plötzliche und dramatische Umschwung in Afghanistan wirft Dutzende von Fragen auf, die z. T. auch von prinzipieller Bedeutung sind:

- Warum konnte es zu diesem von kaum jemandem vorausgesehenen Rückzug (in dieser Form) kommen, der ja in manchen Facetten einem schlagartigen Zusammenbruch, Seitenwechsel oder einer Verflüchtigung der bisherigen Regierung, des Militärapparats, der Sicherheitskräfte etc. gleicht?

- Und dies, obwohl scheinbar ein nicht unerheblicher Teil der afghanischen Bevölkerung die neuen Machthaber fürchtet, teilweise so sehr, dass sie ihr Leben beim Fluchtversuch aufs Spiel setzten?

- Welche Wirkung hatte das militärische Engagement unter Führung der USA, der NATO kurz- und langfristig gehabt, betrachtet man die fast 20-jährige Präsenz?

- Wie haben sich die Ökonomie des Landes, seine Sozialstruktur und das Bewusstsein der verschiedenen Bevölkerungssegmente während dieser Zeitspanne entwickelt? Eine Frage bzw. Problemdimension, die – obwohl zentral für die Erklärung vieler Fragen – bislang kaum oder gar nicht zugunsten der Ereignisschilderungen der letzten Tage und Wochen vor und nach dem Abzug der Interventen aufgegriffen und behandelt wurde.

- Haben sich die Zielsetzungen und Schwerpunkte der äußeren Intervention im Laufe der Zeit verändert und wenn ja, wie und warum?

- Wie ist die Struktur und Handlungsweise/-orientierung der bisherigen – von außen stark gestützten – afghanischen Regierungen zu analysieren und zu bewerten?

- Wie haben sich die regierungsnahen politischen Kräfte und die verschiedenen oppositionellen Gruppierungen in dieser Zeitspanne ideologisch, politisch, ev. militärisch entwickelt?

- Wie ist die angebliche oder tatsächliche Überraschung (bzw. Überforderung) der Bundesregierung, insbes. bestimmter Minister, zu erklären?

1 Zur afghanischen Armee und den Sicherheitskräften

Um bei einem Strang der vielfältig verwobenen Dimensionen, den bewaffneten Armee- und Sicherheitskräften der republikanischen Regierungen zu beginnen: Auch hier lassen sich recht unterschiedliche Einschätzungen wahrnehmen. Die extremste äußerte der französische Islam- und Afghanistanexperte Olivier Roy, der kürzlich in einem Interview resümierte: „Die afghanische Armee hat niemals funktioniert. Sie war ein Kartenhaus, das bei der geringsten Erschütterung zusammenbricht. Es war eine Armee nur auf dem Papier.“ (FR v. 24.8.2021) Dies ist zweifellos eine starke Übertreibung und in dieser Form zurückzuweisen. Von den offiziell ca. 300.000 Armee- und Polizeikräften waren sicher Teile davon faktisch nicht vorhanden bzw. nicht einsatzfähig. Es wird geschätzt, dass zwischen 2001 und 2021 etwa 66.000 afghanische Soldaten und Polizisten getötet wurden (FAZ v. 21.8.2021). Bezüglich der Effizienz des afghanischen Sicherheitspersonals ist darauf hingewiesen worden, dass Ausbildung und Bewaffnung nur bestimmte Aspekte der Problematik abbilden. Wichtig sei vielmehr das gesamte Umfeld, „für das es sich lohnt, zu kämpfen und sein Leben einzusetzen. Und man muss Vertrauen in die eigene Regierung und die eigenen Verbündeten haben. Der bedingungslose Abzug der Amerikaner und der Deutschen über Nacht, ohne konkrete Vorankündigung des Termins, hat den afghanischen Streitkräften moralisch die Beine weggezogen. Die Taliban waren sehr gut vorbereitet, haben über Jahre Kontakte in die Provinzen geknüpft, ihre Leute dort platziert und als es soweit war, zugeschlagen – dann gab es einen Domino-Effekt. Und man darf nicht vergessen, dass die Polizisten, Soldaten und Beamte auch an ihrem Leben hängen.“ (Thomas Ruttig in der Tagesschau 16.8.2021). In den letzten Monaten, so einige Berichte, soll der Sold länger ausgeblieben sein, die Ernährung der Truppe verschlechterte sich. Die Distanz zwischen Regierung und Truppe hatte sich schon wesentlich früher aufgetan. (Über die Unfähigkeit und Korruptheit der afghanischen Regierungen siehe weiter unten). Auch der Hinweis, dass die innere Schwäche der afghanischen Truppe nicht erkannt worden bzw. nicht zu erkennen gewesen sei, kann nicht überzeugen. Was der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat, wusste und jetzt formulierte, war sicherlich in den entsprechenden militärischen Kreisen und im Verteidigungsministerium kein Geheimnis: „Etwa ein Drittel der ausgebildeten afghanischen Streitkräfte ist bereits nach der Ausbildung zu den Taliban übergelaufen, die Taliban haben offenbar auch gezielt Leute geschickt, die Ausbildung war ja gut. Deshalb muss es auch niemanden wundern, dass die afghanische Armee so schnell zusammengebrochen ist.“ (Oberhess. Presse v. 17.8. 2021)

2 Die Regierungstätigkeit, wirtschaftliche und soziale Ergebnisse der Politik der Zentralregierungen

Afghanistan gehört zu den ärmsten und zurückgebliebensten Ländern der Welt. 70-80 Prozent seiner Bevölkerung (39 Mio.) lebt auf dem Land, über die Hälfte sind unter 20 Jahre alt. Mit 5,8 Kindern pro Frau zählt das Land zu den am schnellsten wachsenden überhaupt. Erhebliche Teile der Landwirtschaft sind subsistenzwirtschaftliche Einheiten. Die Analphabetenrate lag vor 2 bis 3 Jahrzehnten bei fast 90 Prozent und liegt nun nach Verstärkung von Alphabetisierung und Erziehung bei 2/3 bis ¾ der Bevölkerung; die Zahl der Studierenden ist in den letzten zwanzig Jahren von knapp 8.000 auf mehr als 170.000 heute gestiegen (FAZ v. 4.9.2021). Handel und Kleingewerbe sind weitere Wirtschaftsbereiche. Industrie und qualifizierte Dienstleistungen sind fast nicht vorhanden. Das Land ist extrem abhängig von externen Hilfsleistungen, sie machen ca. 43 Prozent des gesamten Wirtschaftsvolumens bei einem Bruttosozialprodukt (BSP) von ca. 20 Mrd. US Dollar aus. In den zwanzig Jahren (2001-2021) flossen ca. 145 Mrd. US Dollar in den Aufbau des Landes (USA, Weltbank, IWF, andere westliche Geberländer), dagegen werden die Kosten für militärische Ausrüstung, Unterhaltung der Truppen, militärische Bauten, Infrastruktur etc. auf ca. 840 Mrd. US Dollar veranschlagt, ein Verhältnis von 1:6.[1] So verdreifachte sich zwar das BSP in dieser Periode, was der Ökonom Tooze aber als „statistisches Konstrukt“ bezeichnet, da eine „nationale Ökonomie“ im Sinne der Schaffung endogener Wachstumsimpulse dadurch nicht entstanden ist. Als einziges relevantes Exportprodukt gilt das Opium, das offiziell eigentlich verboten ist. Die Importe Afghanistans werden infolgedessen in erheblichem Umfang über Auslandsgelder finanziert, ebenso der zentrale öffentliche Haushalt, der zu drei Vierteln aus Unterstützungsprogrammen resultiert (german-foreign- policy.com v.14.9.2021). Bei formell hohen Wachstumsraten des BIP (wenigstens bis 2011/12) hat dieses sich extrem ungleich verteilt. Laut Weltbank leben heute 90 Prozent der Afghanen von weniger als zwei Dollar am Tag. In einigen Städten, vor allem in Kabul, sind Wohlstandsinseln entstanden, deren ökonomische Grundlage die Besatzung des Landes war (Stephan Kaufmann in: neues deutschland v. 27.8.2021). Eine sehr schmale Elite hat im Wesentlichen von dieser Scheinblüte profitiert. Trotz des zeitweilig hohen Wachstums des BIP blieb z.B. die gesamte Agrarproduktion in den letzten zwanzig Jahren – trotz hohen Bevölkerungswachstums – fast konstant.

Dies führte zu einer noch stärkeren Distanz und Entgegensetzung zwischen zentraler Regierung und der Masse der Bevölkerung. Insbesondere die Landbevölkerung war immer deutlich von lokalen Strukturen (Dorfgemeinschaften), Großfamilien, Stämmen sowie lokalen Führern/Warlords abhängig; diese Kluft konnte offenbar auch dadurch nicht wesentlich überbrückt oder verkleinert werden, dass Teile der Auslandsgelder (die ja zunächst an die Zentralregierung flossen) – neben der persönlichen Bereicherung der Eliten – auch in gewissem Umfang für den Kauf von Loyalitäten in den Regionen und bei den nachgeordneten „Instanzen“ eingesetzt wurden. Nach den althergebrachten Klientelismus- und Patronagegewohnheiten wurden die empfangenen Anteile an Wohltaten geringer je weiter unten auf der Stufenleiter ihre Empfänger standen. Dieses System konnte vor allem die lokalen bzw. regionalen Warlords und Stammesführer solange bei Laune – im Sinne der Zentralregierung – halten (bzw. nicht etwa zu den Taliban überlaufen lassen), solange diese Gelder „angemessen“ hoch erschienen. Dieses Verfahren der Loyalitätsgewinnung und -erhaltung konnte aber keine langfristige Perspektive entfalten, zumal dann nicht, wenn – wie seit ca. 2014 – die äußeren Hilfsgelder von Jahr zu Jahr gekürzt wurden. Deren Wirkung in Bezug auf den Wiederaufbau des Landes, Demokratisierung der Strukturen und Gewinnung der Zustimmung der Masse der ländlichen Bevölkerung wurde immer fragwürdiger. Das erleichterte den schleichenden und untergründigen Prozess der Sympathieerweiterung für die Taliban, die gegen die Korruption und extreme Ungleichheit auftraten. Das die afghanische Geschichte durchziehende Spannungsverhältnis zwischen „staatlichen Zentralisierungsbemühungen auf der einen Seite und der Resistenz einer stark segmentierten, am Erhalt ihrer relativen Autonomie interessierten ländlichen Gesellschaft auf der anderen Seite“ hat sich auch in diesem Zusammenhang reproduziert. „Außerhalb Kabuls und wenigen städtischen Verwaltungszentren existierte ein relativ autonomes gesellschaftliches Milieu, das 90% der afghanischen Gesellschaft umfasste. ’Kabul repräsentierte den ‚Staat’ – das ländliche Afghanistan die ‚Gesellschaft’ (Grevemeyer)“, wie Renate Kreile (2002: 42) unterstreicht.

So lässt sich resümieren, dass der von der Zentralregierung zu einem erheblichen Teil mitverantwortete sozio-ökonomische Beharrungszustand und Polarisierungsprozess für die Masse der Bevölkerung während der letzten Jahre sowie insbesondere der damit einhergehende Prozess der Verschärfung des Stadt-Land-Gegensatzes vor allem im ländlichen Raum den Taliban in die Hände spielte. Die Wahrnehmung der externen Mächte, der Militärs und teilweise der „Entwicklungshelfer“ als fremde (ungläubige) Besatzer und die der Zentralregierung als „Marionettenregierung“ dieser Besatzer einerseits und andererseits der Taliban als Landsleute, die zwar etwas rigoros, aber ehrlich und gläubig sind, erleichterte zweifellos den schnellen Seitenwechsel bzw. den Übergang zu den Taliban, zumal damit die Perspektive auf endliche Stabilität und Frieden – nach über vierzig Jahren des mehr oder minder intensiven Bürgerkriegs – als möglich erschien. „Die Taliban, die offen für das Zurückdrehen der Uhren kämpften, konnten der militärischen und finanziellen Übermacht des Westens nur deshalb trotzen, weil ihr Ziel von einer stillen Mehrheit im Land geteilt wurde.“ (Jochen Buchsteiner in der FAZ v.1.9.2021)

3 Wer hat „Schuld“ am Umschwung in Afghanistan?

Hierüber tobt schon jetzt ein heftiger Streit, der in langen „Hintergrundartikeln“ in Zeitungen und Zeitschriften ausgetragen wird. Dabei ist zu beobachten, dass häufig ein „Hauptschuldiger“ ausgemacht wird und andere Gruppen/Faktoren eher als beiläufig begleitend oder (willentlich bzw. fähigkeitshalber) als völlig passiv gesehen bzw. in eine Opferrolle gestellt werden. Grundsätzlich aber ist festzuhalten, dass geschichtlich-politische Verläufe und ihre Ergebnisse meistens als Resultat von Interaktionen mehrerer Beteiligter (mit unterschiedlichem Gewicht) anzusehen sind.

Am Zustandekommen der augenblicklichen Situation in Afghanistan haben viele unterschiedliche Kräfte mitgewirkt. Eine vorschnelle moralisierende Betrachtungsweise sollte zunächst zurückgestellt werden. Die aktuelle Lage ist keineswegs nur das Ergebnis des Kampfes „der Guten“ gegen „die Bösen“, wobei letztere bedauerlicherweise als die momentanen Sieger aus dem Ringen hervorgegangen sind.

Die US-Intervention

Die verhängnisvolle Rolle der US-Intervention (einschl. der NATO und der westlichen Bündnispartner) dürfte kaum zu bestreiten sein. Statt einer „Strafaktion“ gegen Al Quaida – als Reaktion auf 9/11 durchzuführen – wurde eine völkerrechtswidrige kriegerische Aktion gegen die Talibanregierung mit dem Ziel des „regime change“ vorgenommen. Mag diese „Überreaktion“ (F. Fukuyama) aus der Situation des post-9/11 möglicherweise verständlich wirken, war diese jedoch rechtswidrig und unwirksam. Dass auch geopolitische und imperiale Interessen zusätzliche Triebkräfte waren, lässt die zwanzigjährige militärische Intervention obendrein als verhängnisvoll und verurteilenswert erscheinen. Die hohe Zahl ziviler Opfer, die Zerstörung der Infrastrukturen und die Etablierung von Marionettenregierungen, die den eigenen Vorstellungen/ Postulaten von demokratischen Institutionen krass widersprechen, sind weitere Negativposten dieser fatalen Entscheidung, fast 20 Jahre lang in einem fremden Land Krieg zu führen – den längsten und niederschmetterndsten in der Geschichte der USA. Die Art der Kriegführung, die – s. unten, Abschnitt 4 – keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nahm, war ein weiteres Element, das eine Ablehnung dieser Besatzung und Intervention bei der Mehrheit der afghanischen Bevölkerung begründete.

Die afghanischen Regierungen

Die von den USA eingesetzten (formell: „gewählten“) Regierungen[2] hatten trotz der hohen Abhängigkeit (militärisch, ökonomisch) von den USA einen gewissen Handlungsspielraum, da sie ja zumindest den Schein einer vom „Volk gewählten“ Regierung erwecken mussten. Diesen haben sie wenig und selten genutzt, sieht man von einigen – folgenlosen – Kritiken an exzessiven Militäreinsätzen ab (nichtatomare Megabombe „Mother of all bombs“, die mehrere Dörfer zerstörte, Drohneneinsatz etc.). Ein hoher Grad der Zerstrittenheit beider Regierungen (der Präsidenten Karzai und Aschraf Ghani) war typisch und verringerte die Handlungsfähigkeit deutlich (keine Komplettierung der Ministerliste z.B. über zwei Jahre lang, heftige Auseinandersetzungen um Positionsbesetzungen und Budgetanteile etc.). Zudem war ihre Politik – Wirtschafts- wie Sozialpolitik – selten auf das ganze Land gerichtet und förderte kaum die Stärkung der Eigendynamik von Segmenten der Bevölkerung. Die entwicklungspolitischen Gelder flossen z. T. an ausländische Firmen, in die Taschen hoher Regierungsmitglieder und der Bürokratie. Nach entsprechenden Studien war eine gewisse zeitliche Parallelität zwischen Überweisungen dieser Mittel an die Regierung und der Auffüllung von bestimmten Konten von Regierungsmitgliedern in Doha und anderen Finanzinstituten der Emirate festzustellen.[3] Neben der Selbstbereicherung und Korruption dienten die reichlich fließenden Auslandsgelder auch dazu, die regionalen Warlords an die Regierungszentrale im Kampf gegen die vorrückenden Taliban zu binden.

Das Ansehen dieser zu Recht als „Marionettenregierung“ eingestuften politischen Spitze war längst auf einen Tiefpunkt gesunken; sie gegenüber den Taliban zu verteidigen, schien wohl niemandem, der nicht direkt vom bestehenden System profitiert hatte, in den Sinn zu kommen.

Die Taliban

Die Taliban (aus dem Paschtunischen: „Schüler“ des Korans), die als eine besondere islamische Gruppierung im Kampf gegen die Präsenz der Sowjetarmee in Afghanistan (1979-1989) in dieser Zeit entstanden waren und die sich gegenüber anderen Gruppierungen (Mudschahedin, Nordallianz, stammesgebundene Warlords etc.) im nachfolgenden Bürgerkrieg als Sieger durchsetzten, führten von 1996 bis 2001 ein Regiment, das in seiner Rigorisität und Repressivität sich keineswegs eines großen Rückhalts in der afghanischen Bevölkerung erfreuen konnte; als sie Ende 2001 von den Interventionsarmeen geschlagen wurden, etablierten letztere eine neue republikanische Regierung, die eine Wende versprach und die wohl zunächst von großen Teilen der Bevölkerung mit einer gewissen Hoffnung begleitet wurde, da nun eine Besserung der Zustände und Stabilität als möglich erschienen.

Umso erstaunlicher ist es, dass schon 2003/04 die Taliban sich wieder organisierten und es ihnen gelang, Einfluss zu gewinnen; zunächst nur in ihren paschtunischen Kern- und Ursprungsgebieten im Süden und Südosten des Landes, dann sukzessive auch in anderen Landesteilen. Um 2020 hatte die talibanische Guerillabewegung schon in der Hälfte des Landes Parallelregierungen entwickelt, das heißt sie regelten die Alltagsprobleme der Bevölkerung und zeigten sich flexibler als vor 2001. „Offenbar haben die Taleban-Führer (sic!) erkannt, dass sie auf Dauer nicht gegen die Bevölkerung regieren können. Im Gegenteil: Gelegentlich werden sie sogar von ihr beeinflusst. Die Taleban halten Schulen und Krankenhäuser am Laufen, manchmal auch Mädchenschulen, wenn auch meist nur bis zu 6. Klasse. Sie sammeln Spenden für kleinere Infrastrukturprojekte und registrieren Hilfsorganisationen, die in ihrem Gebiet aktiv werden wollen. Viele Afghanen ziehen die Taleban-Justiz den Gerichten der Regierung vor, die notorisch korrupt sind. Politische Freiheiten hingegen sucht man im Gebiet der Taleban vergeblich.“ (Ruttig 2021: 51).[4]

Über die Frage, ob die heutigen Taliban sich von denen vor 20 Jahren unterscheiden (und wenn: wie?), wird augenblicklich viel diskutiert und spekuliert. Sicher scheint zu sein, dass ihre internationale Isolation heute geringer ist als 2001. Nicht nur ihre Beziehungen zu den Emiraten (besonders: Qatar), sondern auch zu Russland, China, Pakistan, Iran, Türkei sind nach ihrer Machtübernahme keineswegs unterbrochen (Lefeuvre 2021: 8). Die heutigen Taliban werden von vielen als pragmatischer eingestuft, d.h., dass sie prinzipielle Positionen mit erforderlichen Einzelkonzessionen, die für das Funktionieren des Alltags notwendig sind, kombinieren. Sie scheinen ihre ethnisch-regionalen Schranken zumindest etwas überwunden zu haben, insofern sie über Paschtunen hinaus nun auch Tadschiken, Usbeken u.a. im Norden und Nordwesten sowie ethnische Gruppierungen im Westen des Landes in ihren Reihen haben (in welchem Ausmaß ist allerdings unbekannt). Dies sind alles Hypothesen, Vermutungen, die sich im Laufe der Zeit als unzutreffend herausstellen könnten. Immer häufiger hört man von der Diskrepanz zwischen Ankündigungen/Versprechen und tatsächlichem Verhalten wie früher. Auch die Diskussion über eventuelle innere Spaltungen und Fraktionierungen zwischen „alten“ und „jüngeren“, zwischen „pragmatischeren“ und „radikaleren“ ist in vollem Gange; entsprechende Prozesse werden sich wahrscheinlich erst in einigen Monaten deutlicher abzeichnen.

Die „Warlords“

Als „Warlords“ werden in Afghanistan Führer von Stämmen und deren Untereinheiten, von Clans, Dorfgemeinschaften, Solidarverbänden bezeichnet, die über militärische, politisch-rechtliche und wirtschaftliche Ressourcen und Anerkennung verfügen. Sie können dadurch Außenstehenden/Angreifern und natürlich auch der (schwachen) Zentralgewalt – mit unterschiedlicher Intensität – entgegentreten. Bekannt wurde eine Gruppe von Warlords/Mudschahedin, die sich in den 1990er Jahren zur sog. „Nordallianz“ gegen die Taliban zusammengeschlossen hatten und dann zeitweise mit den westlichen Interventionsgruppen zusammenarbeiteten.[5] In unterschiedlichem Maße vertreten sie die Interessen ihrer Clans oder Stammesgruppierungen. Vielfach geht es darum, welcher der potenziellen Allianzpartner sich am ehesten anbietet bzw. wer als stärker oder schwächer gilt, wenn eine Bedrohung „von außen“ abgewehrt werden soll. „Bereits in den 1980er Jahren (waren) pragmatische, kurzfristige Vorteile für die Allianzpolitik wichtiger als ideologische Nähe und Distanz. Kampfverbände und Milizen wechselten häufig je nach politischer Großwetterlage und finanziellen Anreizen die Seiten. Ihr wesentliches Ziel war es, den eigenen Solidarverband am besten gegenüber äußeren Eingriffen zu schützen.“ (Schetter 2007: 4)

Es ist nicht verwunderlich, dass in national zugespitzten Situationen – wie 2021 – diese Warlords entweder flüchteten (in ein Nachbarland) oder zu den „stärkeren Bataillonen“ (sprich den Taliban) überliefen bzw. mit ihnen „kooperierten“. Eine eigenständige Rolle haben die Warlords im Machtspiel zwischen der zentralstaatlichen Gewalt und den Taliban nicht gespielt; sie waren eher ein Bauelement dafür, die dezentralen, von Patronage, Willkür und Zufällen gekennzeichneten Macht- und Gewaltstrukturen des Landes aufrecht zu erhalten.

Die urbane Bevölkerung (ca. 10-20 Prozent)

Lage und Bewusstsein, politische Orientierung etc. sind natürlich auch bei diesem wichtigen Bevölkerungssegment sehr differenziert. In den letzten 20 Jahren hat dieser Bevölkerungsteil deutlich, auch anteilsmäßig zugenommen (genaue Zahlen fehlen noch). Durch die ökonomische Wachstumsphase, vor allem den extern bedingten Kaufkraftschub (Besatzungsmächte, NGOs, Ausgaben der jeweiligen Orts- und Hilfskräfte, Entfaltung einer auf all das bezogenen Versorgungs-„industrie“ in Form von Dienstleistungen, Kleingewerbe, Handwerk etc.) schien dieser Beschäftigungssektor klar zu expandieren und daher eine starke Zuwanderung aus Kleinstädten und vom Land zu begünstigen. Insbesondere für Kabul gilt: Die Konzentration von Schulen, Hochschulen, Forschungseinrichtungen, Medien aller Art, Kultur und Kunst, von Freizeitaktivitäten etc. waren weitere Zweige, die sich in einem liberalisierten Klima (trotz aller noch vorhandenen Schranken auch hier noch) relativ dynamisch entwickelten.

Die Hoffnung, dass dies alles so auf Dauer bleiben könnte, basierte auf zwei Prämissen (oder Annahmen und Wünschen), die beide nicht zutrafen bzw. irreal waren: Erstens, dass die Besatzungs- und Schutzmächte sehr lange bzw. auf unabsehbare Zeit im Land bleiben würden und zweitens, dass die so genannte „westlich-liberale“ Lebensweise (oder auch nur Elemente davon) in der Bevölkerung – sowohl im städtischen wie im ländlichen Bereich – immer breiter als positiv anerkannt und gewünscht werden würde.

Von einem so vermuteten (erhofften) Sachverhalt ausgehend, ist es verständlich, dass schwere Vorwürfe gegen die westliche Vormacht (und ihr schnelle Abrücken) vorgebracht werden. Und es ist auch nachvollziehbar (obwohl in der Sache fragwürdig), dass nun behauptet wird, dass es in Afghanistan „unzählige Menschen (gebe), die sich ein weltoffenes, pluralistisches und demokratisches Land wünschen. Für sie müssen wir weiter Brücken bauen, ihnen müssen wir eine Stimme geben.“ (Nassery, Idris in FAZ v. 16. 9. 2021).[6]

In dem Aufbruchsrausch der vielfältigen Möglichkeiten (im Vergleich zu früher und der Talibanregierung zwischen 1996 und 2001) wird vieles genossen und ausgelebt, ohne die Rahmenbedingungen dafür recht zu bedenken. Dass alle Freiheiten und Möglichkeiten ihren Preis haben bzw. ihre Dauerhaftigkeit auch erkämpft und abgesichert werden muss, politisch und kulturell – das scheinen viele NutznießerInnen jener Zeit vergessen zu haben. Dass man sich politisch organisieren und sich eventuell auch im Land, auch im ländlichen Bereich engagieren muss, um die konservativ-religiöse Last der Vergangenheit abzuarbeiten und zu verringern: Eine solche Einsicht, vielleicht auch Selbstkritik, war bislang wenig zu registrieren. US-Präsenz und US-Garantie im Land selbst oder Flucht, Verlassen des Landes – eine dritte Alternative wird offenbar als unmöglich oder sinnlos angesehen. Eine beispielhafte Stimme aus diesem Lager ist die der Filmemacherin Sahraa Karimi (Direktorin des afghanischen Filminstituts), die Mitte August das Land verlassen hat: „Afghanistan war in den vergangenen zwanzig Jahren auf einem guten Weg, Kabul hat sich verändert, ist großstädtischer geworden. Besonders die Jungen haben viel dafür getan, Geschäfte eröffnet, Unternehmen gegründet und das urbane Leben aufgebaut, es gab Modedesigner, es gab Coffee-Shops. Frauen konnten sich frei äußern, junge Mädchen konnten zur Schule gehen. Natürlich hatte unsere Regierung Probleme, Korruption war sicherlich eines davon.“ (FAZ v. 8. Sept. 2021).

Die ländliche Bevölkerung (ca. 80 Prozent)

Ebenso wie bei der urbanen Bevölkerung muss mit Blick auf den ländlichen Raum auf die starke Fragmentierung und auf die zum Teil hohen Unterschiede zwischen den Stammeskulturen und -regeln verwiesen werden. Allgemein ist nur ein hohes Ausmaß der Armut (ca. 50 Prozent leben an oder unter der Armutsgrenze). Die geringe Alphabetisierung und Bildung sowie das Verharren in religiösen Traditionen werden sicher auch zu den generellen Erscheinungen zu zählen sein; auch das patriarchalische Denken und Handeln gehört zu den sehr verbreiteten und tief verinnerlichten Gewohnheiten auf dem Lande. Die Verbannung der Frauen aus dem „öffentlichen Raum“ (Politik, Wirtschaft etc.) wird im Binnenraum der Familien durch gewisse Mitentscheidungsmöglichkeiten der Frauen etwas relativiert. „Jenseits ihres Ausschlusses aus dem öffentlichen Leben erfreuen sich die Frauen in den familialen, clan-, stammes- oder auch dorfgebundenen Binnenbeziehungen beachtlicher Entscheidungsbefugnisse… Auch wenn Frauen in der Öffentlichkeit keine Stimme haben, vertreten sie dennoch einen eigenen Standpunkt und ihre Sichtweisen werden respektiert. Die Unversehrtheit der Frauen gilt als höchstes Gut.“ (Kreile, 2002: 45) Die „Ehre der Männer“ begründet sich wesentlich über die Ehre der Frauen und den absoluten Vorrang des Schutzes der Frauen; diese Argumentation ist zugleich zentral für die Zurückgezogenheit, Unsichtbarmachung und Unterordnung der Frauen.

Staatliches Recht, Menschen- und Frauenrechte, Unabhängigkeit der Justiz etc. sind den meisten Landbewohnern unbekannt bzw. völlig unerheblich. Insofern haben sie mit den in ihren Gebieten agierenden talibanischen Richtern und der Scharia keine Probleme, im Gegenteil. Die Taliban „verkrochen sich keineswegs, sondern boten der lokalen Bevölkerung Leistungen, die ebenso gut und oft besser waren als das, was die von Korruption zerfressene Regierung ihnen bieten konnte. Und ihre Regeln und Gepflogenheiten entsprechen den Erwartungen eines Großteils der Bevölkerung, für die Frauenrechte nicht viel zählen.“ (Mielcarek 2021 : 9)

Die Frage der rechtlichen Stellung der Frau ist seit jeher kein Problempunkt neben vielen anderen, sondern seit über 100 Jahren die grundlegende Streitfrage zwischen dem zentralen Staat (Kabul) und den Stämmen (Land). Jeder Versuch der allgemeinen, staatlichen Regelung auf diesem Feld wird als Angriff auf die Stammesautonomie begriffen und entsprechend beantwortet. „Der modernisierende paternalistische Staat machte sich daran, den familiären, tribalen und religiösen Patriarchen die Kontrolle über ‚ihre‘ Frauen streitig zu machen, was deren erbitterten Widerstand hervorrief.“ (Kreile 2002: 44).

Ob – wie Navid Kermani mutmaßt – „heute selbst in den entferntesten Dörfern Eltern auf das Recht ihrer Töchter auf Bildung (pochen)“ (FAZ v. 26. 8. 2021) muss bezweifelt werden, wenn man in Rechnung stellt, dass die Taliban seit Jahren in vielen ländlichen Landesteilen Verwaltung, Infrastrukturen, Bildung etc. bereits weitgehend kontrollierten.

4 Militärisch-politische Aktivitäten der Interventionsmächte und ihrer Truppen

Wenn es schon generell extrem schwierig (wenn nicht unmöglich) ist, von außen, durch Intervention in einer völlig anderen Gesellschaft einen „nation-building“-Prozess (und damit die Etablierung einer effektiven zentralstaatlichen Gewalt, der Modernisierung der Lebensbedingungen und einer pluralen, offenen Zivilgesellschaft) herbeizuführen, so ist es natürlich noch schwieriger, wenn die militärische gegenüber der zivilen Komponente des interventionistischen Vorhabens soviel bedeutsamer (in Bezug auf Geld, Ressourcen, Menscheneinsatz etc.) ist. Dass Militärs keine Kulturanthropologen/Ethnologen oder „Entwicklungshelfer“ sind (und sein können), scheint auf der Hand zu liegen. Dies konnte hierzulande nach einigen Jahren des Bundeswehrmandats für Afghanistan, das primär mit der Durchsetzung von Frauenrechten, schulischer Bildung für Mädchen und mit Brunnenbauaktivitäten für die afghanische Landbevölkerung „begründet“ oder legitimiert wurde, immer weniger ernst genommen werden. Auch nachdem einige Dutzend SoldatInnen getötet und noch viel mehr verletzt worden waren, durften bis vor einigen Jahren die regelmäßigen blutigen Zusammenstöße mit den Guerillakämpfern nicht als „Krieg“ bezeichnet werden. Noch weniger kann der ausländische Militäreinsatz als hilfreich empfunden werden, wenn durch ihn überproportional viele Zivilisten zu Tode kamen. In Afghanistan wurden in den letzten zwanzig Jahren mit annähernd 50.000 zivilen Opfern fast so viele Getötete wie unter den Taliban und anderen Aufständischen (51.000) gezählt (FAZ v. 21.8. 2021). Das heißt, dass hier besonders brutal und ohne große Sorge um „falsche Opfer“ vorgegangen wurde. Dies lag u.a. an der großen Bereitschaft zu präventiven Maßnahmen und vor allem daran, dass in den letzten Jahren verstärkt Kampf-Drohnen eingesetzt wurden, die häufig genug die „falschen“ Zivilpersonen trafen. Die Berichte darüber, dass nicht selten Hochzeitsgesellschaften oder Menschenansammlungen ausgelöscht wurden, haben sich in der letzten Zeit gehäuft. (Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang auch an den Zwischenfall mit den von den Taliban zunächst entführten und dann verlassenen Tanklastern, die just in dem Moment bombardiert wurden, als zivile Gruppen sich an dem Benzin bedienen wollten; über hundert Zivilisten starben bei diesem Einsatz, der von einem deutschen Obersten veranlasst worden war. Auch nach jahrelangen Prozessen erhielten die Hinterbliebenen keinerlei Entschädigungen.) Hinzu kommen Fälle besonderer Brutalität und Grausamkeit. Einige australische Kampfgruppen hatten das Töten von Taliban-Gefangenen als „Initiationsritus“ zur Aufnahme in die jeweilige Gruppe praktiziert und stehen nun – infolge von Zeugenaussagen – vor Gericht. Auch von anderen Vertretern der Besatzungsarmeen (z.B. US-Spezialkräften) werden ähnliche Vorkommnisse berichtet (Feroz: 2021: 83-106).

Nimmt man all dies zusammen, kann es nicht überraschen, dass die Taliban – auch bei Bevölkerungsteilen, die sie nicht sonderlich mögen – noch als wesentlich akzeptablere Variante von Kriegern angesehen werden als die ausländischen, ungläubigen Besatzungskräfte. Deren Vertreibung wird wahrscheinlich von einer mehr oder minder großen Mehrheit der afghanischen Bevölkerung als Chance für relative Stabilität und friedliche Existenz gewertet. Diejenigen, die das Land verlassen möchten, sind wohl eher die urbanen, ausgebildeten Frauen und Männer, deren Perspektiven unter der Herrschaft des islamischen Emirats der Taliban sicher weniger günstig aussehen.

5 Vom Wunschdenken bis zur „Selbsthypnose“ des Westens“

Man weiß nicht, mit welchen Begriffen das „Versagen“ und die deutliche „Niederlage des Westens“ angemessen zu fassen ist. Mehr als sonst müssen in diesem Zusammenhang Begriffe in Anführungszeichen gesetzt werden, um Distanz und Vorläufigkeit anzudeuten. Man könnte den in der Zwischenüberschrift genannten Begriffen „Wunschdenken“ und „Selbsthypnose“ noch weitere hinzufügen, die gleichfalls bestimmte Aspekte des Geschehenen und Gemeinten berühren: z.B. absichtsvolle Schönfärberei (entgegen besseren Wissens), eurozentristische Ignoranz und Arroganz, Selbsttäuschung etc.

Der Kürze halber lassen sich: Wunschdenken, absichtsvolle Schönfärberei und eurozentrische Ignoranz/Arroganz als ein zusammengehöriger Komplex im Unverständnis und der Fehldeutung dessen, was passierte, behandeln. Grundprämisse ist die Überzeugung, dass die „westliche Lebensweise“ und Grundeinstellung einen Höhepunkt in der Menschheitsentwicklung darstelle und eine für alle anzustrebende Entwicklungsstufe bedeute. Dass es auch andere Wertsysteme als das westliche, mit seinem (propagierten) Individualismus, der Konkurrenz, dem säkular-wissenschaftlichen Weltbild, Pluralismus, Diversität etc. geben könnte, wird als möglich zugestanden, aber solches wird implizit oder explizit als minderwertig, unterentwickelt und entwicklungsbedürftig angesehen. Von daher scheint es für ausländisch-westliche Beobachter kaum verständlich, dass nicht alle AfghanInnen nach diesen – so aufgefassten – Formen der „westlichen Lebensweise“ streben. Es wird unterstellt, dass dies praktisch alle tun, bei wenigen Ausnahmen.

In einer Antwort auf einen Artikel Navid Kermanis schreibt Jochen Buchsteiner, die erste Einsicht müsse sein, „dass andere Kulturen andere Kulturen sind. Das ist keine banale Feststellung, denn die gegenteilige Auffassung hat die Außenpolitik des Westens in den vergangenen drei Jahrzehnten angetrieben. Grundlage aller (Fehl-)Entscheidungen war die Hybris, dass die westliche Kultur gewissermaßen die höchste Zivilisationsstufe darstellt und sich deshalb früher oder später auch überall durchsetzen wird. Die operative Ableitung lautete: Eingriffe in nichtwestliche Systeme sind per se eine Befreiung für die Betroffenen, auch wenn sie dies nicht gleich verstehen.“ (FAZ v. 1.9. 2021)

Da zur Legitimierung der eigenen Tätigkeit in einem fremden Land und in einer fremden Kultur offenbar Formen von Wunschdenken leichter fallen als realistische Analysen, waren Erfolgsmeldungen häufig nahe liegender; oft wurden realistischere Einschätzungen vor Ort um so stärker „schön gefärbt“ je höher in der Hierarchie der staatlichen Instanzen die jährlichen Berichte gelangten. Eingefahrene bürokratische Apparate ändert man eben nicht so gerne, Lernprozesse bleiben auf der Strecke. So war der Tenor vieler jährlicher Sachstandseinschätzungen: Insgesamt Fortschritte, bei einigen – bald zu überwindenden – Schwierigkeiten. Ein „weiter so“ lag nahe. Dies gilt für den zivilen wie militärischen Bereich gleichermaßen.

Bernd Greiner sieht in der obsessiven „Angst vor Verlust der Glaubwürdigkeit“ bei den USA eine durchgehend wirksame, Einzelaspekte übergreifende Motivation; Entschlossenheit zu zeigen, sei das Beste, um seine Interessen zu vertreten bzw. zu schützen. „Zwecks Demonstration von Glaubwürdigkeit gelten Militär und Krieg nicht als Ultima Ratio. Sie sind nicht das letztmögliche, sondern ein bevorzugtes Instrument. Aus dieser Perspektive kann es sogar produktiver sein, grundlos statt mit guten Gründen den Krieg zu führen.“ (FAZ v. 30. 8. 2021) Dass durch diese „Symbolik der Tat“ nicht nur – eigentlich zu schützende – Menschenleben in einem besonderen Ausmaß aufs Spiel gesetzt werden, sondern auch der eigene Niedergang als Hegemonialmacht beschleunigt wird, kann – Greiner zufolge – als „chronischer Fall von Selbsthypnose“ bezeichnet werden. Die Frage bleibt allerdings, ob mit individualpsychologischen Kategorien gesellschaftlich-politische Prozesse angemessen erfasst werden können.

6 Fazit

„Gescheitert sind Versuche, in dafür nicht geeigneten Ländern eine Staatenbildung von außen und unter Zuhilfenahme erheblicher militärischer Mittel zu erzwingen. Gescheitert sind Versuche, unter Einsatz großer Geldsummen moderne wirtschaftliche Strukturen zu etablieren und damit den Aufbau einer stabilen Zivilgesellschaft zu unterstützen. Ein nicht geringer Teil des Geldes ist auf dem Weg der Korruption versickert.“ (FAZ v. 30.8. 2021) Diese resümierenden Worte des für den Wirtschaftsteil der FAZ verantwortlichen Redakteurs, Gerald Braunberger, sind zweifellos sehr zutreffend, auch wenn sie spät kommen. Die – auch in der FAZ – viel gescholtene Partei „Die Linke“ hat diese Argumentation in ihrer Begründung, weshalb sie den Bundeswehreinsatz in Afghanistan (fast zwanzig Jahre lang) ablehnte, fast wortgleich formuliert und jedes Mal, wenn es um die Verlängerung des Mandats ging, wiederholt. Bislang ist das in der herrschenden Presse leider nicht zugegeben worden. Wird es in der Zukunft einen Lernprozess geben?

Keineswegs alle Reaktionen seither deuten darauf hin. Die vom europäischen Außenbeauftragten Josep Borrell gewünschte europäische, militärische Eingreiftruppe für solche Konstellationen wie jetzt in Kabul weist nicht in diese Richtung.

Weiterführende Literatur

Armanski, Gerhard/Warburg, Jens: Warum die NATO den Krieg in Afghanistan nicht gewinnen wird, in: PROKLA 162, 41. Jg. (März 2001)

Baczko, Adam/Dorronsoro, Gilles: Taliban – der unbekannte Feind, in: Le Monde diplomatique, Sept. 2021

Feroz, Emran: Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror, Frankfurt/Main 2021

Glatz, Rainer L./ Kaim, Markus: Der Wandel der amerikanischen Afghanistan-Politik, SWP-Aktuell Nr. 11 Febr. 2019

Greiner, Bernd: ‚Nine Eleven’, Afghanistan, Irak: Das Ende des amerikanischen Jahrhunderts, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2021

Ders.: Afghanistan – Der endlose Krieg, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2011

Kreile, Renate: Fragil und umkämpft – Frauenrechte im neuen Afghanistan, in: APuZ 21-22/2010

Dies.: Zwischen Purdah, Bollywood und Politik – Geschlechterverhältnisse und Transformationsprozesse in Afghanistan, in: Peripherie Nr. 118/119, 30. Jg. 2010

Dies.: Dame, Bube, König… – Das neue große Spiel um Afghanistan und der Gender-Faktor, in: Leviathan , 30. Jg., H. 1, März 2002

Kronauer, Jörg: Mit Ansage. Die Niederlage des Westens in Afghanistan war programmiert. Dies ist ihre Geschichte, in: Konkret 10/2021

Lefeuvre, Georges: Neue Allianzen in der Nachbarschaft?, in: Le Monde diplomatique, Sept. 2021.

Mielcarek, Romain: Kandahar im August, in: Le monde diplomatique, Sept. 2021

Mielke, Katja/Schetter, Conrad: Wiederholt sich Geschichte? Die legitimatorischen Deutungsmuster der Interventionen in Afghanistan 1979 und 2001, in: Peripherie, Nr. 116, 29. Jg., 2009

Münch, Philipp: Die afghanische Regierung der Nationalen Einheit. Herrschaftssicherung vor effektiver Regierungsführung, SWP-Aktuell 34, April 2015

Ruttig, Thomas: Afghanistan 2001 bis 2021. Zur Entwicklung der Taleban und al-Qaeda seit 9/11, in: APuZ Nr. 28-29/2021

Ders.: Zu wenig, reichlich spät – Stabilisierungsmaßnahmen zwischen Terrorismus- und Aufstandsbekämpfung, in: APuZ 21-22/2010

Ders.: Ratlos am Hindukusch, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2012

Ders.: Afghanistan: Institutionen ohne Demokratie. Strukturelle Schwächen des Staatsaufbaus und Ansätze für eine politische Stabilisierung, SWP-Studie, Juni 2008

Sachs, Jeffrey D.: Afghanistan: Blutiger Irrweg, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2021

Schetter, Conrad: Lokale Macht- und Gewaltstrukturen in Afghanistan, in: APuZ Nr. 39, 2007

Trittin, Jürgen: Afghanistan oder die Grenzen des Interventionismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2021

[1] Ähnliche Proportionen werden auch von anderen Autoren, so z.B. Jeffrey D. Sachs genannt: „Weniger als 2 Prozent der US-Ausgaben für Afghanistan erreichten die afghanische Bevölkerung in Form von grundlegender Infrastruktur oder armutsmindernden Leistungen. Die USA hätten in sauberes Wasser und Kanalisation, Schulgebäude, Kliniken, digitale Vernetzung, landwirtschaftliche Ausrüstung und Beratung oder Ernährungsprogramme investieren können, um das Land aus der wirtschaftlichen Misere zu führen.“ (Sachs 2021: 40)

[2] Hinweise auf Eingriffe der USA in den Wahlprozess z.B. bei Nassery, Idris, in: FAZ v. 16. Sept. 2021

[3] „Schlagzeilen machten zuletzt Berichte, Ex-Präsident Ashraf Ghani habe bei seiner Flucht aus Kabul in die Vereinigten Arabischen Emirate große Mengen an Bargeld mit sich geführt; von weit über 100 Millionen US-Dollar war die Rede. Ghani streitet dies ab. Tatsache ist jedoch, dass bereits zuvor Fälle bekannt geworden waren, bei denen afghanische Regierungsfunktionäre mit Millionenbeträgen etwa nach Dubai einreisten. Laut einer Untersuchung , die im Juli 2020 von der Carnegie Endowment for International Peace in Washington publiziert wurde, sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten im Kontext der Korruption Milliarden US-Dollar aus Afghanistan nach Dubai abgeflossen. Gleichzeitig nahm die Armut im Land immer mehr zu. Der Bevölkerungsanteil der Afghanen, die unterhalb der Armutsschwelle lebten, stieg von 33,7 Prozent im Jahr 2007 auf 54,6 Prozent im Jahr 2016.“ (german-foreign policy.com v. 14. 9. 2021)

[4] Zu den unbestechlichen und populären Taliban-Richtern näheres bei A. Baczko/G. Dorronsoro 2021.

[5] Zu Hintergründen und Ausmaßen dieser Zusammenarbeit: Kronauer 2021

[6] So auch z.B. Navid Kermani und viele andere.