Euro-Krise und Alternativen der Linken

Mehr Europa, aber anders

von Klaus Busch / Dierk Hirschel
September 2012

Europa befindet sich in der schwersten Integrationskrise seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Währungsunion steht am Rande des Scheiterns. Ohne das Eingreifen der Europäischen Zentralbanker wäre der Euro bereits Geschichte.

Eine drakonische Sparpolitik stürzt die Eurozone in die Rezession. Die Folgen sind verheerend: Die griechische Wirtschaft schrumpfte seit Ausbruch der Krise um fast ein Fünftel. In Spanien, Italien und Portugal stottert der Wachstumsmotor. Von Amsterdam bis Athen sind heute 25 Millionen Menschen ohne Arbeit, ein neuer, trauriger Rekord. Die Armut wächst. Gleichzeitig gerät die politische und soziale Demokratie europaweit unter die Räder. In Athen, Madrid und Rom wird der Kündigungsschutz geschliffen, die Flächentarifsysteme werden zerschlagen, der öffentliche Dienst kaputt gespart und öffentliche Güter privatisiert.

Krisenursachen und Krisenmanagement

Die Ursachen dieser Krise liegen in der Architektur der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) und in entfesselten Finanzmärkten. Die Wirtschafts- und Währungsunion wurde nicht in eine Politische Union eingebettet. Das Euroland ist keine politische Solidargemeinschaft. Ein Finanzausgleich zwischen den ungleich entwickelten Staaten war im Maastrichter Vertrag nicht vorgesehen.

Die WWU ist ein asymmetrisches Bauwerk: Zwar europäisierten die EU-Verträge die Geldpolitik, die Finanzpolitik liegt jedoch noch immer in den Händen der Mitgliedstaaten. Aufgrund dieses Konstruktionsfehlers konnte Brüssel keine Schuldengarantien geben und die Eurokrise erst richtig eskalieren. Deswegen muss die Geldpolitik der EZB dringend durch eine Europäische Wirtschaftsregierung (EWR) ergänzt werden. Nur durch eine europäische Fiskalpolitik können Wirtschaftskrisen erfolgreich bekämpft werden, denn ohne sie kommt eine konsistente antizyklische Politik nicht zustande. Ein weiteres Problem besteht in der neoliberalen Ausrichtung der europäischen Wirtschaftspolitik. Sparen, Sparen, Sparen lautet die Brüsseler Leitidee. Diese ideologische Ausrichtung bestimmt das Brüsseler und Berliner Krisenmanagement. Bis zur großen Finanzmarktkrise 2008 waren die Maastrichter Schuldenregeln kein größeres Problem. Viele Staaten konnten durch Wachstum und hohe Steuereinnahmen ihre Schuldenberge verringern. Durch die Krise explodierten jedoch in vielen Staaten die Schulden.

Ohne diesen öffentlichen Rettungseinsatz – Bankenrettungsschirme, Konjunkturprogramme – würden wir heute in einer noch tieferen Krise stecken. Doch das Maastrichter Spardiktat verleitete die Politiker, Ursache und Wirkung der Schuldenkrise zu verkehren: Merkel, Sarkozy, Monti & Co ist es gelungen, der Öffentlichkeit weiszumachen, dass die Schulden die Krise verursacht haben und nicht umgekehrt. Schuld sind jetzt allein die Schuldner. Diese Politik führte dazu, dass die Stützungskredite für Griechenland, Irland und Portugal mit strikten Sparauflagen verknüpft wurden. Die Folge sind Mehrwertsteuererhöhungen, Entlassungen im öffentlichen Dienst, Lohnkürzungen, Kürzungen der Sozialleistungen und Erhöhungen des Renteneintrittsalters. Die Opfer der Krise tragen jetzt die Hauptlasten bei der Bewältigung der Staatsschulden.

Dieser Politik wird großer öffentlicher Beifall gezollt – und das, obwohl sie die Probleme noch verschärft. Denn die kurzsichtige Konsolidierungspolitik würgt das Wachstum der Schuldnerländer ab. Folglich steigen die Schulden weiter. Diese Politik beschränkt sich nicht nur auf die Krisenstaaten: In allen Staaten, die vermeintlich zu hohe Schulden haben, erzwingen die Finanzmärkte und die Europäische Kommission weitere Kürzungen und treiben Europa so weiter in die Rezession. Schlimmer noch: Brüssel lernt nicht aus den eigenen Fehlern, sondern fährt mit Vollgas in die Sackgasse. Die Verschärfung des Stabilitätspakts sowie der von Merkozy durchgedrückte Fiskalpakt samt Schuldenbremse zeugen von dieser mangelnden Lernfähigkeit des konservativ-liberalen Mainstreams.

Schließlich wurde mit dem Maastrichter Vertrag ein System von Wettbewerbsstaaten eingeführt. Wir haben eine gemeinsame Währung und einen einheitlichen Binnenmarkt, aber die Löhne, die Sozialausgaben und die Steuern werden weiterhin national bestimmt. Im Kampf um die nationale Wettbewerbsfähigkeit geraten sie in einen ständigen Abwärtssog. Den europäischen Gewerkschaften gelingt es bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr, eine verteilungsneutrale Lohnpolitik zu realisieren. Überall gibt es eine dramatische Umverteilung von unten nach oben, zu Gunsten der Kapitaleigentümer. Und dies seit nunmehr 15 bis 20 Jahren. Am tollsten hat es dabei Deutschland getrieben. Hier sind die Reallöhne am stärksten zurückgegangen. Die Folge sind große Leistungsbilanzüberschüsse, vor allem im Handel mit den EU-Partnerländern. Deutschland importiert Beschäftigung und exportiert Arbeitslosigkeit. Die Logik dieses Systems der Wettbewerbsstaaten ist auch die Logik des Euro-Plus-Paktes. Unsere Nachbarn sollen dem deutschen Weg des relativen Lohnabbaus folgen und der deutschen Arbeitsmarkt-, Sozial- und Rentenpolitik nacheifern. Dass dabei die europäischen Lohn-, Sozial- und Steuerstandards unter die Räder geraten, ist die eine zwangsläufige Folge. Die andere ist ein Einbruch der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage mit deflatorischer Tendenz.

Die Antwort der Gewerkschaften

Europäische Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter haben die neoliberale Architektur des Maastrichter Vertrages immer kritisiert und für Alternativen geworben.[1] Bisher ohne Erfolg. Obwohl die Gewerkschaften von Athen bis Madrid gegenwärtig die Abwehrkämpfe gegen das Brüsseler Spardiktat organisieren, findet eine Europäisierung dieser Abwehrkämpfe bisher nicht statt. Die Griechen streiken am Montag, die Spanier demonstrieren am Mittwoch, und aus Deutschland kommt am Samstag eine Solidaritätsadresse. Eine Allianz des Widerstands sieht anders aus.

Eine Ursache dieser gewerkschaftlichen Mobilisierungsschwäche lag und liegt in der Ungleichzeitigkeit der Krise. In Madrid und Athen hat die Krise die gesamte Gesellschaft erfasst. Jeder Fünfte hat keine Arbeit. In Wolfsburg, Sindelfingen und Ludwigshafen wurden bisher hingegen Sonderschichten gefahren und Erfolgsbeteiligungen ausgezahlt. Am Mittelmeer kürzen und streichen Rajoy, Monti und Samaras, was der Rotstift hergibt. Angela Merkel hingegen hat den großen Sparhammer noch gar nicht ausgepackt. Dank sprudelnder Steuereinnahmen war der Berliner Spardruck bisher gering. Natürlich hängt die Bereitschaft und Fähigkeit zur Gegenwehr nicht allein vom eigenen Geldbeutel ab. Ohne persönliche Betroffenheit bleibt aber die internationale Solidarität abstrakt.[2]

Erschwerend kommt hinzu, dass es in Europa sehr unterschiedliche gewerkschaftliche Traditionen gibt. Ein grenzüberschreitendes Handeln wird dadurch nicht leichter. In Ländern mit politischem Streikrecht und ohne Friedenspflicht werden die Konflikte schneller und häufiger auf der Straße ausgetragen. In Deutschland, Österreich und Skandinavien wird lieber verhandelt. Natürlich schwächen auch die politischen Rivalitäten unter den Gewerkschaftsbünden die Durchsetzungskraft. Besonders dann, wenn die parteipolitischen Bündnispartner, wie in Spanien, Italien und Griechenland, an der Regierung waren oder noch sind.

Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) kann diese Defizite nicht ausgleichen. Er kann lediglich koordinieren. Die politische Initiative geht immer von den nationalen Gewerkschaftsbünden aus. Dennoch ist es gelungen, eine politische Verständigung über die Ursachen und Lehren aus der Krise zu organisieren. Auf dem letzten EGB-Kongress in Athen positionierten sich die Europäischen Gewerkschaften klar gegen das Brüsseler Spardiktat.

Während die Gewerkschaften in nationale Abwehrkämpfe verstrickt bleiben, schreitet der neoliberale Um- und Ausbau der europäischen Institutionen immer weiter voran. Vor diesem Hintergrund ringen sowohl die Gewerkschaften als auch die politische Linke um die richtige europapolitische Strategie.

Bisher unterstützten ver.di, IG Metall & Co jeden Schritt auf dem Weg zu einer tieferen europäischen Integration. Mit ihrer Ablehnung des europäischen Fiskalpaktes stellten sich die deutschen Gewerkschaften jetzt erstmals gegen ein zentrales europäisches Integrationsprojekt. Dieser Strategiewechsel wirft grundsätzliche Fragen auf. Wenn „mehr Europa“ weniger Sozialstaat und eine Schwächung der Gewerkschaften bedeutet, muss die Antwort dann nicht in einer Renationalisierung der Politik liegen? Ist also weniger Europa nicht die eigentliche Alternative?

Mehr oder weniger Europa?

Unbestreitbar ist, dass die Politik der Europäischen Kommission und des Rates sowie die jüngsten Urteile des Europäischen Gerichtshofes gegen die Interessen der abhängig Beschäftigten in Europa gerichtet waren und sind. Hierzulande sind die Gewerkschaften gezwungen, sich gegen die Brüsseler Angriffe auf den öffentlichen Bankensektor, die Daseinsvorsorge, das VW-Gesetz, die Tariftreue und das Streikrecht zu wehren. Nur durch eine erfolgreiche nationale Mobilisierung konnten viele dieser Angriffe abgewehrt werden. Folgt daraus nun, dass Sozialstaatlichkeit und Demokratie nur innerhalb des Nationalstaates verteidigt werden können, und deswegen jede weitere Supranationalisierung der EU abzulehnen ist?

Ja und Nein. Jeder europäische Integrationsschritt muss auf seine ökonomischen, sozialen und demokratischen Folgen hin geprüft werden. Fällt diese Überprüfung aus Sicht der abhängig Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften negativ aus – wie im Fall des europäischen Fiskalpaktes –, dann ist dieses „Mehr an Europa“ abzulehnen. Ein bedingungsloses Ja zu Europa wäre naiv und verantwortungslos. In bestimmten Fällen müssen also nationale Regelungen und Schutzrechte gegen die Brüsseler Liberalisierungsbestrebungen verteidigt und somit weitere Schritte in Richtung eines neoliberalen Umbaus bekämpft werden.

In den Kernbereichen der Wirtschafts-, Sozial- und Lohnpolitik eröffnet eine Renationalisierung aber keine neuen politischen Handlungsspielräume. Dies gilt besonders für kleine offene Volkswirtschaften wie die Niederlande oder Österreich. Ihre außenwirtschaftliche Abhängigkeit kettet sie an die politischen Entscheidungen ihrer großen Nachbarstaaten. Große Volkswirtschaften wie Deutschland oder Frankreich haben in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zwar immer noch nationale Gestaltungsspielräume. Vor dem Hintergrund freier Kapital und Warenströme und einer gemeinsamen Währung können sie jedoch in den zentralen Feldern der Wirtschafts-, Sozial- und Lohnpolitik keine progressive Politik im nationalen Alleingang durchhalten. Bereits vor 30 Jahren machte die sozialistisch-kommunistische Mitterrand-Regierung diese bittere Erfahrung und auch François Hollande kann sich diesen Zwängen nicht entziehen. Denn auch heute würde eine progressive Lohn- und Sozialpolitik einzelner Nationalstaaten letztlich an der Logik des Systems der Wettbewerbsstaaten zerschellen. Eine deutliche Erhöhung der Staatsausgaben müsste einerseits mit den Strafen des Stabilitätspakts und andererseits mit den Deflationswirkungen der Kürzungspolitik im Rest Europas kämpfen.

Dieses Dilemma ließe sich nur durch eine Rückkehr zu nationalen Währungen teilweise auflösen. Dieser Weg ist prinzipiell möglich. Er bringt aber sehr hohe ökonomische und soziale Kosten mit sich: Eine neue deutsche Währung würde stark aufwerten, diejenige der Südstaaten sehr stark abwerten. Hüben wie drüben wären Anpassungskrisen die Folge. Während Deutschland in einer Übergangszeit mit Export-, Wachstums- und Beschäftigungseinbrüchen zu kämpfen hätte, würden die Südstaaten hohe Zinslasten und Staatspleiten hinnehmen müssen. Ihre Einkommen würden in der Anpassungsphase stark sinken. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würden diese Krisen auch den einheitlichen Binnenmarkt in Mitleidenschaft ziehen und zu einer unsolidarischen Beggar-thy-Neighbour-Politik führen. Ob der europäische Integrationsprozess diesen Belastungen standhalten würde, muss bezweifelt werden. Weniger Europa ist angesichts dieser gewaltigen Risiken daher keine überzeugende Antwort auf den neoliberalen Umbau des alten Kontinents. Notwendig ist vielmehr ein anderes Europa, wofür zunächst gesellschaftliche Mehrheiten gewonnen werden müssen.

Mehr Europa, aber anders

Dieses andere Europa muss die Fesseln des Maastrichter Vertrags abstreifen. Nur durch den Aufbau einer Europäischen Wirtschaftsregierung (EWR) können die Konstruktionsfehler der Währungsunion behoben werden. Sie könnte in der Eurozone eine flexible Stabilisierungspolitik betreiben. Dadurch würden ökonomische Exzesse, wie es sie vor der Krise in Spanien, Irland und Griechenland durchaus gab, vermieden.

Durch eine weitere Vertiefung der politischen Integration in Richtung eines Europäischen Bundesstaats müsste die supranationale EWR demokratisch legitimiert werden. Nur die Bevölkerung der betroffenen Nationalstaaten und nicht die europäischen Eliten können eine solche Weichenstellung vornehmen. Die intergouvernementale EWR von Merkozy ist dagegen in Inhalt und Form ein Rückschritt.

Eine europäische Koordinierung der Lohn-, Sozial- und Steuerpolitiken könnte das System der Wettbewerbsstaaten aushebeln. Die nationalen Lohnpolitiken könnten sich – bei Wahrung der Tarifautonomie – an der Marge aus nationalen Produktivitätszuwächsen und Inflationsrate orientieren. Dadurch könnte die permanente Umverteilung von unten nach oben gestoppt und Sozialdumping verhindert werden. Die innereuropäischen Wettbewerbsverzerrungen wären beendet. Steuerdumping würde durch einheitliche europäische Bemessungsgrundlagen und einheitliche Unternehmenssteuersätze ein Riegel vorgeschoben.

Die Eurokrise könnte dann endlich durch eine alternative Wachstums- und Schuldenpolitik überwunden werden: Ein Marshallplan für Südeuropa, eine Stimulierung der deutschen Wirtschaft durch eine Förderung des Binnenmarkts sowie der Stopp der europaweiten, von Deutschland forcierten Kürzungspolitik sind die drei entscheidenden Komponenten einer europäischen Wachstumsstrategie. Das europäische Aufbau- und Entwicklungsprogramm – Marshallplan – sollte über eine europaweite Vermögensabgabe finanziert werden. Der private Reichtum – Sach- und Geldvermögen abzüglich Verbindlichkeiten – umfasst in den Mitgliedsstaaten der EU das drei bis siebenfache der jeweiligen Staatsverschuldung. Dieser Überfluss muss genutzt werden, um die öffentliche Armut zu überwinden. Durch höheres Wachstum und niedrigere Zinsen würden die Schuldenquoten der Südstaaten sinken. Schließlich würde nur ein europäisches Schuldenmanagement mit gemeinsamen Garantien und Eurobonds die dramatische Zinslast der überschuldeten Staaten erfolgreich senken.

Die gewerkschaftliche Antwort auf die Krise der Europäischen Union kann daher nur „mehr Europa, aber anders“ lauten. Europas Weg in den Ruin kann nur durch mehr wirtschaftliche Vernunft, soziale Gerechtigkeit und demokratischen Mut gestoppt werden.

[1] http://www.europa-neu-begruenden.de/

[2] Aktuell frisst sich die Krise in die deutsche Volkswirtschaft. Die Krise der Anderen wird zu unserer Krise. Folglich verliert dieses Mobilisierungshindernis an Bedeutung.

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