Editorial

Juni 2021

In der sozialwissenschaftlichen und politischen Debatte markiert der populäre Begriff „Intersektionalität“ heute den Anspruch, Herrschaftsverhältnisse als ineinandergreifende zu fassen: Sozioökonomische Ungleichheit lasse sich nicht ohne Zusammenhang mit Geschlechterverhältnissen, diese nicht ohne Rassismus und weitere Unterdrückungsformen begreifen. Ungleichheitsverhältnisse seien als gleichrangige und -wertige anzugehen und nicht zu hierarchisieren. Diese Agenda wird im vorliegenden Heftschwerpunkt als Kern des Intersektionalismus diskutiert. Kritisiert wird, dass die Verschränkung von Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen allein auf der Ebene von „Identität“ und Erfahrung gefasst sowie im Modus von Anerkennungs- und Antidiskriminierungspolitik politisiert werde. Die Autorinnen und Autoren beleuchten Aspekte des Intersektionalismus und diskutieren Alternativen aus dem Fundus materialistischer Theoriebildung.

Christin Bernhold, John Lütten und Felix Eckert umreißen die Intersektionalitätsdebatte und eine Kritik des Intersektionalismus: Dieser könne den Zusammenhang von Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen nicht hinreichend erklären; wegen der Setzung sozialer Ungleichheitsverhältnisse als gleichrangige würde ihr Zusammenhang unklarer gefasst; die Politisierung als Identitäts- und Erfahrungsfragen sei im verengten Zugriff auf Strukturverhältnisse angelegt. Victor Wallis diskutiert den politischen Stellenwert der Klassenverhältnisse: Die „Intersektion“ von Herrschaftsformen mache sie nicht zu strategischen Äquivalenten. Individuen hätten vielfältige Identitäten, das „politische Primat der Klasse“ zu ignorieren schwäche Kämpfe gegen Unterdrückung jedoch. Lena Hezel und Steffen Güßmann widmen sich der kulturalisierenden Verkürzung von Klassenverhältnissen in der aktuell breit geführten Debatte um „Klassismus“: Der Begriff verhandele reale Deklassierungserfahrungen, verenge das Verständnis von Ausbeutungs- und Klassenverhältnissen aber auf moralisch aufgeladene Antidiskriminierungs- und Repräsentationsfragen; Gräben etwa zwischen akademischen und anderen Lohnabhängigen würden eher vertieft als überwunden.

Zwei Beiträge zum Feld der Rassismustheorie kritisieren den hegemonialen liberalen Antirassismus und umreißen Alternativen: Yuri Prasad und Esme Choonara diskutieren, was das Hinterfragen subjektiver Privilegien in rassistischen Unterdrückungsverhältnissen, wie es die sogenannte „Privilegientheorie“ anregt, zu deren Aufhebung beitragen kann. Institutioneller und struktureller Rassismus könne so aber nicht begriffen und auch nicht klassenpolitisch beantwortet werden. Eleonora Roldán Mendívil und Bafta Sarbo prüfen das Verständnis von Rassismus im „intersektionalen“ Antirassismus; am Beispiel der Kritischen Weißseinsforschung zeigen sie, dass Rassismus mitunter als überhistorisches Phänomen und tendenziell essentialistisch begriffen werde. Historisch-materialistische Ansätze hingegen könnten den Wandel rassistischer Ideologie und Politik aus einem der Produktionsverhältnissen heraus begreifen.

Den Geschlechterverhältnissen widmen sich zwei Beiträge, die konzeptuelle Gegenvorschläge zum Intersektionalismus machen. Martha E. Gimenez verweist auf die Theorie der kapitalistischen sozialen Reproduktion als Alternative zu Intersektionalitätsansätzen. Mit dieser könnten unterschiedliche Unterdrückungsverhältnisse analysiert werden, ohne ihre Vermittlung mit den Produktions- und Klassenverhältnissen aus dem Blick zu verlieren. Kim Lucht und Margareta Steinrücke schlagen das von Petra Frerichs und Margareta Steinrücke entwickelte Konzept des „Klassengeschlechts“ vor, um den Zusammenhang von Klassen- und Geschlechterverhältnissen zu fassen: Geschlechteridentitäten seien nicht universell, sondern bildeten sich klassenspezifisch aus. Gegenüber dekonstruktivistischen Ansätzen, die eine Vervielfachung von Identitäten statt deren Kritik bewirkten, könne das Konzept diese hinterfragen und zugleich auf materielle Entstehungsbedingungen rückführen. Christian Stache diskutiert das Buch Marxism and Intersectionality von Ashley J. Bohrer, die Marxismus und Intersektionalismus verbinden will: Die von Bohrer vorgeschlagene „Koalition“ ginge jedoch zulasten historisch-materialistischer Theoriebildung. Christin Bernhold, Yannik Pein und Felix Eckert ist für ihre Mitarbeit an der Erarbeitung des Schwerpunkts dieses Heftes herzlich zu danken.

Online-Heftpräsentation zum Schwerpunkt dieses Heftes am 16. Juni ab 19 Uhr. Weitere Informationen: Z-Homepage und unsere Social-Media-Auftritte. Zugang: kurzelinks.de/Intersektionalismus / Meeting-ID: 890 1840 7924 / Kenncode: Kritik.

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Georg Lukács 1885-1971: Am 4. Juni jährt sich der Todestag Georg Lukács zum fünfzigsten Mal. Rüdiger Dannemann rekonstruiert die schon zu Lukács’ Lebzeiten wechselvolle Rezeptionsgeschichte. Dabei zeichnet er nach, wie Lukács selbst in seinem Werk immer wieder den Versuch unternahm, Philosophie und Politik zu verzahnen. Jürgen Pelzer skizziert Lukács Versuche aus den 1930er und 1940er Jahren, die Ideengeschichte des deutschen Faschismus als Kontinuität eines irrationalistischen Denkens seit der Romantik und insbesondere seit Nietzsche zu interpretieren. In seinem Beitrag über das Naturschöne in Lukács’ „Eigenart des Ästhetischen“ zeigt Daniel Göcht, dass das Naturschöne für Lukács zwar nicht in den engen Bereich einer Ästhetik – als Theorie der Kunst –- gehört, jedoch in eine umfassendere Theorie der Gesellschaftlichen Naturverhältnisse und des Alltags eingebunden wird.

Marx-Engels-Forschung: Die sogenannte Neue Marx-Lektüre geht davon aus, dass Arbeitsprodukte erst im Austausch Werteigenschaft annehmen und dies aus dem Marxschen Kapital und seinen Vorarbeiten abzuleiten sei. Barbara Lietz und Winfried Schwarz hatten in Z 125 diese von Michael Heinrich entwickelte Auffassung bereits für die Wertgegenständlichkeit als unbegründet zurückgewiesen. Im vorliegenden Heft setzen sie ihre Kritik mit Blick auf die Wertgröße fort. Gegen die Annahme, erst der Austausch verwandle konkrete Arbeit in abstrakte und Arbeitsprodukte in Waren, betonen sie: Wert ist vergegenständlichte abstrakt menschliche Arbeit. In dieser gesellschaftlichen Form wird in der Warenproduktion Arbeitskraft wertbildend verausgabt. Konrad Lotter geht der Entwicklung der Marxschen Auffassung über Freiheit der Meinung und Presse nach, die für ihn zuerst als Redakteur der „Rheinischen Zeitung“ zu einem brennenden Problem wurde: „Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein“, lautet Marx‘ aktuelle Feststellung in den „Debatten über die Preßfreiheit“.

China: Der Aufstieg Chinas prägt die Entwicklung der Welt im 21. Jahrhundert. Die Redaktion bat aus Anlass des hundertsten Jahrestages der Gründung der KP Chinas Kenner dieses Prozesses um Stellungnahmen, die sowohl die innere Struktur der Volksrepublik als auch ihre Stellung in der internationalen Ordnung betreffen. Bei den sich deutlich unterscheidenden Antworten spielen zwei Aspekte eine Rolle: (1) Die chinesische Entwicklung ist neu und einzigartig und darf nicht an Kriterien gemessen werden, die sich aus anderen historischen Beispielen ableiten. (2) Die globale Rolle des Landes wird von der Reaktion des um seine Dominanz fürchtenden Westens beeinflusst. Ob sich das von China bislang bevorzugte ‚Konzept‘ einer multipolaren Welt durchsetzt oder ob es zu der von den USA bevorzugten Blockkonfrontation zur Sicherung ihrer Führungsrolle kommt, ist derzeit noch nicht abzusehen.

Weitere Beiträge: 2020, das Jahr der Corona-Krise, war zwar hinsichtlich der Zahl der Arbeitskämpfe das konfliktärmste Jahr seit Erhebungsbeginn des Streikmonitors im Jahr 2016. Jedoch blieben, wie Dirk Müller und Juri Kilroy zeigen, die Streikaktivitäten gemessen an Streikbeteiligten und Ausfalltagen auf dem Niveau des Vorjahres. Die Autoren geben eine Gesamtübersicht und widmen sich insbesondere den pandemiebedingten Streiks. Holger Czitrich-Stahl und Eckhard Müller analysieren die aktuellen Forschungen im Umfeld des 150. Geburtstages von Karl Liebknecht und ordnen sie in den Reigen der Arbeiten zu seiner Person und vor allem zu Rosa Luxemburg ein. Gerd Wiegel gibt eine Übersicht zu aktuellen faschismustheoretische Veröffentlichungen. Er sieht eine Vernachlässigung der Analyse von Kräfte- und Klassenstrukturen des Kapitalismus, die erforderlich sei auch um die heutige radikale Rechte zu beurteilen. Im abschließenden III. Teil von Alfred Kosings Studie über Lenin und die Theorie des Sozialismus steht Lenins Ansatz einer Neuen Ökonomischen Politik im Mittelpunkt.

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Aus der Redaktion: Mit großer Bestürzung haben wir vom Tod unserer langjährigen Weggefährtin, Autorin und Beirätin Ursula Schumm-Garling erfahren; Klaus Pickshaus erinnert an sie in einem Nachruf.

Vorschau: Z 127 (September 2021) wird im Vorfeld der Bundestagswahlen Beiträge zu ökonomisch-politischen Aspekten des Krisenzyklus 2008-2021 bringen. Wir widmen das Heft Heinz Jung aus Anlass seines 25. Todestages am 19. August 2021.

Die Vorträge des Marxistischen Kolloquiums vom März bis Mai zum Thema „Formwandel des Kapitalismus und die Rolle von Krisen“ sind im YouTube-Kanal von „Z“ (Playlist „Marxistisches Kolloquium“) zu finden: kurzelinks.de/kapitalismusanalyse