Geschichte

Deutsche Okkupationspolitik in Litauen

Eine quellengestützte Darstellung der Massenverbrechen der deutschen Besatzer und ihrer litauischen Helfer

September 2012

*

Litauen schied 1991 aus der UdSSR aus. In dem neu begründeten Nationalstaat wurde die politische und sozialökonomische Transformation in Richtung auf einen neoliberalen Kapitalismus in atemberaubendem Tempo durch eine risiko- und kostenreiche Schocktherapie vollzogen. Von 1989 bis 1994 wurden 85 Prozent der Staatsbetriebe privatisiert, an der Spitze der das Volksvermögen zu Spottpreisen übernehmenden Konzerne standen William Internationals (US), Ruhrgas, Eon, Odense Lindo (Dänemark) und die Siemens-Tochter Baltijos Automobilu Technika. Die von außen diktierte Öffnung des Marktes für ausländische Direktinvestitionen war für die Mehrheit der Bevölkerung katastrophal, das Bruttoinlandsprodukt ging 1992 um 21,3 Prozent zurück. Gegenüber 1989 sank die Industrieproduktion 1992 um 51 Prozent und erreichte erst 1995 das frühere Niveau wieder. Privatisierung des Volksvermögens und ausländische Direktinvestitionen veränderten sprunghaft die Einkommensverteilung zuungunsten der Mehrheit der Bevölkerung.

Aus dem neuen Litauen, inzwischen Mitglied der NATO und der EU, erreichen den deutschen Leser immer wieder verstörende Nachrichten: Die Staatsgründer von 1917/19, Antanas Smetona, von 1926-1940 semifaschistischer Diktator, und Augustinas Voldemaras, sein faschistischer Gegenspieler, werden glorifiziert. Die litauischen Kollaborateure der Nazis genießen, so sie noch am Leben sind, doppelte Renten, deutsche und litauische, ihre militärischen Ränge als Kollaborateure werden anerkannt, den heutigen angeglichen und für die Pension angerechnet. So sie inzwischen unter der Erde liegen, gelten sie als heroische Vorkämpfer des heutigen antikommunistischen Regimes. Antifaschistische litauische Partisanen aus dem Zweiten Weltkrieg, darunter überlebende jüdische Kämpfer, werden dagegen des Mordes angeklagt.

Zurückgekehrte Exillitauer übernahmen in Wirtschaft und Staat höchste Ämter (ohne ihre US-Staatsbürgerschaft aufzugeben). Mit dem Re-Import der nach 1945 exilierten Nazi-Kollaborateure wurde auch deren seit 1945 aufgestellte historische These reimportiert, die sowjetische Regierung habe 1940-1941 und 1944-1991 einen Völkermord am litauischen Volk begangen. Sie ist heute Staatsdoktrin der Republik Litauen und prägt die offizielle Politik und die Geschichtsvermittlung in staatlichen Museen und Schulen. Seit der Gründung des Neustaates Litauen ist kein einziger überlebender Judenmörder verurteilt worden. Mit einem skandalösen Gesetz über die „Opfer des Stalinismus“ wurden alle früher verurteilten Judenmörder und Kriegsverbrecher rehabilitiert.

Um so wichtiger sind nüchterne, gediegene, quellengestützte wissenschaftliche Arbeiten über die jüngere Geschichte Litauens und über die deutsche Okkupationspolitik 1941-1944. In einem Land, dessen jüdische Bevölkerung nahezu vollständig ausgerottet wurde, kommt der öffentlichen Erinnerung an dieses Verbrechen ein zentraler Stellenwert zu. Doch bis heute wurde in Litauen keine Geschichte dieses Massenmords geschrieben. In den letzten Jahren begannen Historiker aus Deutschland, Litauen und Israel zaghaft mit der wissenschaftlichen Erforschung. 1998 berief der litauische Präsident eine internationale Kommission zur Untersuchung deutscher und sowjetischer Verbrechen an Litauern, in die auch Christoph Dieckmann berufen wurde. Die internationale Forschung kann inzwischen auf eine Reihe von Darstellungen und Quelleneditionen verweisen, darunter einige deutschsprachige.[1] Karl-Heinz Gräfe legte 2010 eine erste vergleichende Untersuchung zur deutschen Okkupationspolitik in den drei baltischen Republiken vor.[2]

Darstellung

Auf der Basis eigener langjähriger Forschungen und Vorarbeiten zum Judenmord in Litauen legt Dieckmann nun eine tendenziell erschöpfende Darstellung der deutschen Okkupationsherrschaft in Litauen 1941-1944 in zwei umfangreichen Bänden vor. Das Mammutwerk ist hinsichtlich der Daten der Besatzungspolitik sehr detailliert und eignet sich als Nachschlagewerk über die wichtigsten Personen der deutschen Okkupationsverwaltung. Ein Schwerpunkt der Darstellung ist die Geschichte der litauischen Juden bis zu ihrer Ausrottung. Der Verfasser (Jg. 1960) studierte Soziologie und Volkswirtschaftslehre in Göttingen, Jerusalem und Hamburg. Er promovierte 2003 mit dieser Arbeit bei Ulrich Herbert in Freiburg/Br. Seit September 2011 arbeitet Dieckmann am Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt/Main zu einem Projekt über das Stereotyp des jüdischen Bolschewismus – vermeintlich aus jüdischer Sicht. Außerdem lehrt er an der Keele University in Großbritannien.

Dieckmann beginnt mit der Vorgeschichte der deutschen Okkupation Litauens und schildert auf der Basis der einschlägigen Literatur den Nationsbildungsprozeß bis 1940. Die eigenständige Sowjetrepublik Litauen und deren Niederschlagung durch die internationale Konterrevolution nach dem Ersten Weltkrieg kommt in diesem Abriß allerdings nicht vor. Warum sich im Litauen der Zwischenkriegszeit sehr früh eine semifaschistische Diktatur bilden und festigen konnte, warum sich unter ihr exzessiv faschistische Gewaltorganisationen bilden und wie stark sie Gruppen wie das Offizierskorps durchsetzen konnten, das wird nur bläßlich dargestellt und bleibt hinsichtlich der Ursachen unerklärt. Für Dieckmann steht das Verhältnis von Litauern und Juden im Mittelpunkt, und das drängt wichtige sozialhistorische Probleme an den Rand.

Nach einer sehr kursorischen Behandlung der sowjetischen Herrschaft in Litauen 1940/41 wiederholt der Verfasser die in der Forschungsliteratur behandelte Vorgeschichte des deutschen Überfalls auf die UdSSR. Die Kriege Nazideutschlands 1938-1941 blendet er aus. Die deutsche Okkupationsverwaltung in Litauen und ihre Politik werden in großen Komplexen behandelt, davon ist einer zeitlich, der andere systematisch strukturiert: Für die Phase der anfänglichen Militärverwaltung geht es um den litauischen Aufstand gegen die abziehende Rote Armee, um die Pogrome und Massenmorde der ersten Wochen. Die zivile deutsche Okkupationsverwaltung wird hinsichtlich ihrer territorialen und ihrer Funktionsgliederung vorgestellt. Im Mittelpunkt steht ihr Verhältnis zur litauischen Kollaborationsverwaltung auf allen Ebenen. Die litauischen Nationalisten hatten am Tag des deutschen Überfalls eine Nationalregierung gebildet. Diese wurde von den deutschen Okkupanten zwar formell nicht anerkannt, aber zunächst toleriert und nach sechs Wochen aufgelöst. Kündigt der Verfasser an, Parallelen zwischen der deutschen Okkupationsherrschaft über Litauen im Ersten und im Zweiten Weltkrieg aufzeigen zu wollen, so geht er dieser Absicht nur in einem Punkte tatsächlich nach, nämlich in der Taktik der litauischen Nationalisten, mit ungewollter Hilfe der Okkupanten zu einem eigenen Staat zu kommen. Das gelang 1918, 1941 nicht.

Am Nachmittag des 22. Juni 1941 begannen die Rote Armee und die sowjetische Verwaltung ihren Rückzug aus Kaunas, der damaligen Hauptstadt. Die Wehrmacht marschierte am Abend des 24. Juni 1941 dort ein. Sie wurde vor die Tatsache eines antisowjetischen Aufstandes der Litauischen Aktivistenfront, der Proklamation eines wiedererrichteten litauischen Staates und der Bildung einer litauischen Nationalregierung gestellt. Ein Schwerpunkt des entsprechenden Kapitels behandelt die Schwierigkeiten der Okkupanten, sich dieser Regierung wieder zu entledigen, deren Kollaborationsbereitschaft aber zu erhalten und zu nutzen. Eine Marionettenregierung war in der Strategie Hitlers nicht vorgesehen, eine litauische Nationalarmee an der Seite der Wehrmacht ebensowenig. Als Kernfrage dieses Teils behandelt Dieckmann die Frage: Wie gestaltet sich nach dem Verbot der Nationalregierung die Zusammenarbeit mit ihren Vertretern? Die Regierung wurde durch sog. Generalräte ersetzt, unterhalb der Regierungsebene amtierten die litauischen Verwaltungen auf allen Ebenen weiter. Der Autor wehrt sich, diese Zusammenarbeit als Kollaboration zu begreifen, als ob Kollaborateure ihre eigenen Interessen nicht gerade in und durch die Kollaboration realisieren wollten. Kollaborateure sind keine gemieteten Agenten.

Dieckmann hält die in der Literatur gebräuchlichen Verweise auf die schwache politische Stellung Rosenbergs und seines Ostministeriums sachlich für falsch. Dies seien nach 1945 von Beamten dieses Ministeriums in die Welt gesetzte Verteidigungslegenden, die alle Schuld an den Verbrechen der SS zuschoben, um sich selbst zu entlasten. In Wirklichkeit hätte die Zivilverwaltung durchgängig und in allen strittigen Fällen gegenüber dem SS- und Polizeiapparat das Prä gehabt und sich durchgesetzt. Hier macht der Autor es sich zu einfach. Rosenbergs Durchsetzungsschwäche, hier vor allem gegenüber seinem Reichskommissar Ukraine, Koch, zu bestreiten, verkennt die Tatsachen. Die SS hatte in Rosenbergs Ministerium die politisch entscheidenden Posten längst mit eigenen Leuten besetzt, so daß auch die Zivilverwaltungen vor Ort bei Konflikten mit örtlichen SS-Führern keine politische Linie gegen die SS verfolgten.

Die Wirtschaftspolitik der Okkupanten wird ausführlich vorgestellt, wobei die Landwirtschaftspolitik und die Rekrutierung von Arbeitskräften dominieren. Einen separaten Komplex bildet die deutsche Ansiedlungs- und Kolonisierungspolitik, innerhalb derer zuvor „heim ins (deutsche) Reich“ ausgesiedelte, dort aber nicht angesiedelte „Litauendeutsche“ in ihrem Heimatland „neuangesiedelt“ wurden – auf Kosten der litauischen, polnischen und russischen Bauern.

Den dominierenden Schwerpunkt des Buches bildet mit 500 Druckseiten die Behandlung der Massenverbrechen der Okkupanten und ihrer litauischen Helfer. In aller Ausführlichkeit werden die Mordkampagnen an den litauischen Juden, der Raub des jüdischen Vermögens, das Leben im Ghetto und die Umwandlung der Ghettos in Konzentrationslager dargestellt. Einen bescheideneren Platz nehmen die Verbrechen an sowjetischen Kriegsgefangenen und sowjetischen Zivilisten ein. Die Zahl der Opfer dieser Massenverbrechen bilanziert Dieckmann auf insgesamt 420.000 Tote. Von den rund 200.000 litauischen Juden des Jahres 1941 blieben etwa 9.000 bis 10.000 über ganz Europa verstreut am Leben, innerhalb Litauens ein paar Hundert. 95 Prozent der litauischen Juden wurden ermordet. Dazu kommen weitere 5.000 Juden, die aus Deutschland, Österreich und anderen Ländern nach Litauen transportiert wurden, um dort ebenfalls erschlagen oder erschossen und in Massengräbern verscharrt zu werden. An den Mordaktionen waren neben SS, Polizei, Zivilverwaltung und Wehrmacht auch wesentliche Teile der litauischen Bevölkerung beteiligt. Allein bis zum Frühjahr 1942 starben in Litauen 170.000 sowjetische Kriegsgefangene und 40.000 sowjetische Zivilisten, 5.000 Polen, Russen und Familien sowjetischer Funktionäre. Während der Besatzung wurden 53.500 litauische Arbeiter nach Deutschland deportiert.

Der Komplex zum Widerstand und zur Partisanenbekämpfung nimmt sich dagegen vergleichsweise bescheiden aus. Dieckmann beschreibt sachlich und detailliert Rekrutierung, Organisation, Aktionen und Probleme der kommunistischen und der jüdischen Partisanen und hebt hervor, daß sie die einzigen waren, die bewaffneten Widerstand gegen die Okkupanten und die litauischen Mordbanditen leisteten. Ihren militärischen und politischen Stellenwert schätzt er gering ein. Seine Sympathie gilt jenen „nationallitauisch“ genannten Kräften, die zwischen Kollaboration und passivem Widerstand oszillierten und niemals den Okkupanten bewaffnet entgegentraten. Im Gegenteil, einige Verbände traten arbeitsteilig mit den Okkupanten den Widerstand leistenden Partisanen auch bewaffnet entgegen. „Im Schonen der eigenen Kräfte lag der Grund, warum es praktisch keinen nationallitauischen Widerstand gegen die deutsche Besatzungspolitik gab.“ (S. 1409) Der Widerstand jener hier „nationallitauisch“ benannten Kräfte richtete sich in erster Linie gegen die Sowjetunion und nicht gegen die Nazis.

Ein Ausgangspunkt für Dieckmanns Arbeit ist die kraß diametrale Geschichtsschreibung über den Völkermord an den litauischen Juden, die sich seit 1946/47 zwischen den jüdischen Überlebenden und den sog. nationallitauischen Emigranten herausgebildet hat. Der Verband der litauischen Juden ließ 1947 verlautbaren, das Ausmaß der Beteiligung von Litauern sei so breit und das Ausmaß ihrer Eigeninitiative so groß, daß im Grunde das ganze litauische Volk des Mordes an den Juden beschuldigt werden müsse. Litauer hätten zuerst und aus eigener Initiative Juden ermordet, einzig weil sie Juden waren.

Bereits 1946 hatte ein Oberstes Komitee zur Befreiung Litauens aus emigrierten Nationalisten (VLIK) in München ein Dokument verfaßt, daß diese Litauer zu den eigentlichen Opfern der Okkupation stilisierte, Opfern sowohl der Deutschen als auch der Juden. In diesem Dokument waren alle späteren Rechtfertigungen bereits enthalten: Die Juden seien zu Recht mit den Bolschewisten identifiziert worden. Der versuchte Genozid am litauischen Volk 1940/41 erkläre die litauische Beteiligung an der Ermordung der litauischen Juden, die im Kern als Notwehr zu verstehen sei.

Ausgehend von dieser seit 1946 formulierten Position dominierte in den Schriften der litauischen Emigration die Behauptung von zwei Genoziden am litauischen Volk, einem sowjetischen und einem deutschen. Kernpunkt ist die Behauptung: Die litauische Kommunistische Partei und der sowjetische Staatsapparat seien von Juden dominierte Instanzen gewesen. Die Folgen der sowjetischen Politik gegenüber den Litauern werden mit der deutschen Politik gegenüber den Juden gleichgesetzt. Nach 1991 wurden diese Positionen zum Eckpfeiler der Staatsdoktrin des neuen Nationalstaates.

Diese Kontroverse um die Frage der litauischen Mittäterschaft wurde zum Ausgangspunkt der Entstehung verschiedener Historiographien, die heftigen Auseinandersetzungen um das Ausmaß der Beteiligung und die Gründe für die Mitwirkung litauischer Kollaborateure und Antisemiten haben sich bis heute kaum abgeschwächt. Dieckmann nimmt sie auf, um nach dem Zusammenhang zwischen den Massenverbrechen und der deutschen Besatzungspolitik zu fragen. Auch wenn er selbstverständlich die These der zwei Genozide für so absurd hält, daß es nicht der Mühe verlohne, die antisowjetische Unterstellung einer sowjetischen Völkermordabsicht am litauischen Volk im einzelnen zu widerlegen, so lehnt er gleichzeitig die These der litauischen Juden von der eigenständigen und initiativen Rolle der Litauer ab und vertritt die These von der absoluten Priorität der Okkupanten selbst dann und dort, wo die litauischen Faschisten ohne deren Auftrag mordeten.

Methodik

Mit seiner Studie möchte Dieckmann den Zusammenhang zwischen Besatzungspolitik und Massenverbrechen klären, der Frage nach den Gründen für die mörderische Besatzungspolitik nachgehen und die Motive der Deutschen ergründen. Allerdings setzt er Motive und Gründe kurzerhand gleich. Zum Anliegen des Verfassers gehören außer diesen Zielen einige methodische Ansprüche:

1. Dieckmann will in keiner Weise einem nationalistisch-völkischen Paradigma folgen. Er tut es aber doch, indem er die erst durch die Naziverordnungen rassistisch bzw. völkisch begründeten Gruppen Deutsche, Litauer, Juden genau so zum Gegenstand seiner Darstellung macht. Von seinem Vorwurf an andere Historiker, ihre Darstellungen seien vom Nationalitätenparadigma überwölbt, ist der Autor selbst nicht auszunehmen, doch liegt hier keine Überwölbung, sondern eine Strukturierung vor. Das ist keine nationalistische Herangehensweise an die Massenmorde im Sinne der Parteinahme. Doch die von Dieckmann selbst beklagten Grenzen von Kollektivzuschreibungen gelten auch hier, soziale und andere Differenzierungen innerhalb dieser Nationalitäten sind praktisch ausgeschlossen. Der beklagten Gefahr, Deutsche, Litauer und Juden allzu leichfertig zu Kollektivakteuren zu stilisieren, entgeht der Autor nicht.

2. Dieckmann verspricht, multiperspektivisch vorzugehen, und er hält das für den großen Vorzug seiner Arbeit: „Dieselben Zeiträume werden aus deutscher, litauischer und jüdischer Perspektive erzählt und analysiert.“ (11) Und er verspricht eine Zusammenschau der Perspektiven. Dieser Anspruch ist hohl. Der Autor behandelt zwar die Schicksale der litauischen und der jüdischen Bevölkerung Litauens, aber weder gleichzeitig noch aus drei Perspektiven nacheinander, weder vergleichend noch in der Zusammenschau. Seine Perspektive ist die des wissenschaftlichen Forschers auf seinen Gegenstand. Er verwechselt Erfahrungen und Perspektiven. Er ist bemüht, die unterschiedlichen Erfahrungen der dargestellten Menschengruppen einzubeziehen. Auf welche Erfahrungen sich die jeweiligen Gruppen explizit bezogen, das beeinflußte ihre Perspektiven, aber ihre Erfahrungen und die Perspektiven des Autors sind nicht identisch. Und sie sind auch bei noch so bemühter Berücksichtigung nicht die Erfahrungen des Autors, sondern er bezieht sich analytisch auf sie. Auch seine Perspektive auf die jüdischen Opfer ist nicht die der Opfer selbst, denn diese Opfer konnten nicht wissen, was der Autor weiß. Partei für die Opfer nehmen, kann nicht heißen, ihre Perspektive einzunehmen.

3. Der Autor erklärt, einseitige Begründungen vermeiden zu wollen und das furchtbare Mordgeschehen als Interaktionen der verschiedenen Gruppierungen zu untersuchen: „Das, was sich tatsächlich unter deutscher Besatzungsherrschaft ereignete, war nicht nur Folge deutscher Pläne und deutschen Handelns. Es resultierte aus dem ebenso dynamischen wie komplexen Prozeß der Interaktionen zwischen Besatzern und Besetzten, Deutschen, Litauern und Juden. Dies gilt nicht nur für die übergreifende Besatzungspolitik, sondern auch für die Verfolgung und Ermordung der Juden.“ Der Hinweis auf die Wechselwirkung aller Beteiligten bleibt verhängnisvoll, wenn darauf verzichtet wird, die Interessen und Ziele des Handelns zu benennen: Die Ermordeten haben, ungeachtet aller Komplexität und Dynamik der Interaktionen, ihr Leben retten wollen und keinen Anteil an den Zielen der Massenmorde. Hier rächt sich, daß die Okkupationsziele, die für das Mordgeschehen entscheidend waren, nicht explizit benannt und analysiert werden.

4. Um den häufig als Erklärung herangezogenen Gegensatz von Ideologie und Pragmatismus der Naziokkupanten zu vermeiden, will Dieckmann nicht von Ideologie sprechen. Stattdessen bevorzugt er den Terminus „Weltanschauung“. Gewonnen ist damit nichts, denn ob Dieckmann nun von Weltanschauung statt von Ideologie spricht, den angeblich damit vermeidbaren Dualismus von ideologisch bestimmten und praktisch bestimmten Entscheidungen reproduziert auch er. Fatal ist, daß auch die Nazis von ihrer Weltanschauung sprachen, deren irrationalistischer Charakter hier gleich mit dem Terminus mit übernommen wird. Noch fataler, daß auch der Autor erst im Rahmen dieser „Weltanschauung“ nach Zwecken und Interessen fragt.

5. Den aus der Literatur gewohnten Gegensatz von vermeintlich monolithischer Diktatur mit eindeutigen Befehlswegen einerseits und polykratischen Machtgruppen im Zentrum andererseits will der Verf. vermeiden, indem er von einem komplizierten Wechselspiel und Zusammenwirken polykratischer Machtgruppen in der Praxis, d.h. nicht nur im Zentrum, sondern gleichermaßen vor Ort an der Peripherie spricht und nach dessen Folgen fragt. Den vermeintlichen Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie zu überwinden heißt für ihn, die Okkupationsverwaltung in Litauen als zentralen Faktor vor Ort zu begreifen und nach deren konkreter Funktionsweise in jeweiligen Politikfeldern zu fragen. Das ließe auch den Gegensatz von Einzelpersonen und anonymen Strukturen überwinden zugunsten der Frage nach den Einflüssen agierender Gruppen. Soll dies weder bloße Augenwischerei noch ein Kampf gegen Windmühlen sein, müßte dem Autor für seine methodischen Ansprüche ein Mindestmaß an dialektischem Denken zur Verfügung stehen. Doch davon ist nichts zu sehen.

Die Auflistung solcher unerfüllter methodischer Ansprüche ließe sich fortsetzen. Sie stehen unter dem Motto: Jetzt komme ich und rücke Fehlinterpretationen gerade. Doch Kraft und Souveränität der Interpretation und des Urteils entsprechen nicht dem außerordentlichen und ausdauernden Fleiß des Autors. Oft bleibt gerade dort, wo er beansprucht, theoretisch selbständig, methodisch innovativ und begrifflich klar zu sein, dieser Anspruch unerfüllt, und wo er sich direkt polemisch gegen gesicherte historische Erkenntnisse wendet, völlig unangemessen. Die Arbeit konzentriert sich auf Litauen und unterläßt meist den vergleichenden Blick auf die deutsche Okkupationspolitik in den baltischen Nachbarländern.

Quellen

Christoph Dieckmann konnte für das zusammengetragene Material aus verschiedenen archivalischen Quellen schöpfen, im Bundesarchiv aus den Akten des Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete sowie dem Reichskommissariat Ostland und seiner Polizei sowie der involvierten anderen Ministerien und Reichsstellen, im Bundesarchiv-Militärarchiv aus Akten der Heeresgruppen Nord und Mitte, ihren Befehlshabern der Rückwärtigen Heeresgebiete, dem Wehrmachtbefehlshaber Ostland sowie ebenfalls den involvierten anderen militärischen Dienststellen, aus dem Auswärtigen Amt und seiner territorialen Dienststellen, aus allen involvierten Ministerien, des weiteren Personalakten aus dem ehemaligen BDC und dem Münchner Institut für Zeitgeschichte. Von den litauischen Archiven waren das Zentrale Staatsarchiv Vilnius, das Sonderarchiv Litauen sowie das Kreisarchiv Kaunas die wichtigsten, hinzu kommen Archive in Lettland, Rußland, Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Israel. Über die genannten Archive hinaus spielten Justizakten von Nachkriegsprozessen in Israel und der BRD eine wichtige Rolle. Für alle Kapitel zur Okkupationspolitik ab 1941 bilden die archivalischen Quellen die wichtigste Grundlage des Bandes.

Für die Kapitel, die die Geschichte Litauens bis 1941 behandeln, stützt sich der Verf. auf die einschlägige Literatur, hier vor allem deutscher, litauischer, israelischer und englischsprachiger Autoren. Dabei knüpft er an die neuere deutsche Forschung zur deutschen Okkupationspolitik an. Das Literaturverzeichnis enthält Titel aus Forschungen zum Faschismus, zum Zweiten Weltkrieg, zur Okkupationspolitik und zum Judenmord. In der Einleitung gibt Dieckmann einen Überblick über die für die Okkupationspolitik in Litauen relevante Forschungsliteratur, deren erster Teil das Verhältnis von nichtjüdischen und jüdischen Litauern behandelt und deren zweiter Teil die Historiographie zur deutschen Besatzungspolitik bespricht. Diese Literaturschau hat mehrere Besonderheiten: Sie erteilt gern Zensuren, was selbst dort arrogant wirkt, wo der Autor sachlich recht hat. Zwar wird wohl immer jede Besprechung der relevanten Forschungsliteratur selektiv bleiben, hier aber bleiben Arbeiten, die der Konzeption des Autors widersprechen, einfach außen vor. Zum Ausgleich für ihr Fehlen taucht im Text ein Titel auf, den es gar nicht gibt.[3]

Ungeachtet der genannten Mängel und Schwächen, ungeachtet antikommunistischer und antimarxistischer Ressentiments ist Dieckmanns Buch zweifellos die umfassendste Darstellung der deutschen Okkupationsherrschaft in Litauen und bietet einen guten Überblick über deren Aufbau, Tätigkeit und Personen. In der quellengestützten, hochdokumentarischen Darstellung der Massenverbrechen der deutschen Okkupanten und ihrer litauischen Helfer liegt das bleibende Verdienst dieser Arbeit. Sie gehört in jede wissenschaftliche Bibliothek und in die Hand jedes Weltkriegshistorikers.

* Christoph Dieckmann, Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941-1944, Wallstein Verlag, Göttingen 2011, 2 Bände, 1652 S., 79,- Euro

[1] Vgl. Vincas Bartusevičius/Joachim Tauber/Wolfgang Wette (Hrsg.), Holocaust in Litauen. Krieg, Judenmorde und Kollaboration im Jahre 1941, Köln-Weimar-Wien 2003.

[2] Karl Heinz Gräfe, Vom Donnerkreuz zum Hakenkreuz. Die baltischen Staaten zwischen Diktatur und Okkupation, Berlin 2010.

[3] Siehe S. 35, FN 96: Hans Lemberg hat für den Band „Europa unterm Hakenkreuz. Okkupation und Kollaboration“, Berlin 1994, keine Einleitung geschrieben.