Nach zehn Jahren rechter Dominanz konnte die französische Linke bei den Parlamentswahlen vom 10. und 17. Juni mit knapp 48 Prozent der Stimmen eine Mehrheit der Sitze in der Nationalversammlung erringen. Hauptnutznießerin ist die Sozialistische Partei (PS) mit 29,4 Prozent, die im Monat zuvor mit François Hollande die Präsidentschaftswahl gewonnen hatte. Ihre Parlamentsfraktion stellt mit 293 Mitgliedern die Mehrheit der 577 Abgeordneten der Nationalversammlung. Die Fraktionen der mit der PS verbündeten Linksliberalen (Parti Radical de Gauche, PRG) und Grünen zählen weitere 16 bzw. 18 Mitglieder.
I.
Für die Linksfront (FG) war der Ausgang der Wahl eine kalte Dusche. Viele hatten auf ein noch besseres Ergebnis als bei der Präsidentschaftswahl gehofft.[1] Mélenchon hatte mit 11,1 Prozent schlechter als in den Umfragen abgeschnitten und potentielle Wähler hatten sich bereits im ersten Wahlgang für den aussichtsreicheren sozialistischen Konkurrenten Hollande entschieden. Die FG gewann aber nur zehn Mandate – fünf weniger als ihre stärkste Mitgliedsorganisation, die Französische Kommunistische Partei (PCF), 2007 – und konnte nur zusammen mit fünf linken Abgeordneten aus den Überseedepartements Fraktionsstärke erzielen.
Das Ergebnis ist ungewöhnlich, denn die FG hatte mit 6,9 Prozent mehr Stimmen als die PCF 2007 mit 4,3 Prozent erzielt. Das französische Mehrheitswahlsystem bedingt, dass der Anteil an den Mandaten stark vom Stimmenanteil abweichen kann. Nutznießer dieses Systems sind die großen Parteien. Chancen auf eine angemessene Vertretung im Parlament haben kleine Parteien nur, wenn sie Absprachen mit größeren Partnern treffen.
Die Grünen konnten ihre Schäfchen ins Trockene bringen, weil die PS ihnen 63 Wahlkreise überließ und sie so ihr Ergebnis von 3,3 Prozent bei der Parlamentswahl 2007 (4 Mandate) und 2,3 Prozent bei der Präsidentschaftswahl auf jetzt 5,5 Prozent (17 Mandate) steigern konnten. Aber dort, wo sie ohne Absprache kandidierten, erreichten sie nur 3,7 Prozent. Die PS überließ der PRG 29 Wahlkreise, der Republikanischen Bürgerbewegung (MRC) Jean-Pierre Chevènements neun und der Bewegung der Progressiven Einheit (MUP) des ehemaligen PCF-Vorsitzenden Robert Hue einen. Ähnliche Abkommen gab es auch auf der Rechten zwischen der Union für eine Volksbewegung (UMP) des ehemaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy und diversen bürgerlichen Kleingruppierungen. Die UMP erzielte mit 27,1 Prozent fast das gleiche Ergebnis wie Sarkozy, büßte aber im Vergleich zu 2007 über 12 Prozent ein. Insgesamt bekam das Spektrum der alten Regierungsmehrheit 34,7 Prozent. Die UMP-Fraktion verfügt über 196 Abgeordnete, eine liberale Fraktion über 29.
Die restlichen Parteien hatten das Nachsehen und bekamen mangels Wahlchancen erheblich weniger Stimmen als bei der Präsidentschaftswahl – ein Grund für die seit dem 19. Jahrhundert niedrigste Wahlbeteiligung von 57 Prozent. Während das sozialistische und das rechte bürgerliche Lager weniger als 10 Prozent ihrer Stimmen einbüßten, schrumpfte die zentristische Demokratische Bewegung François Bayrous, der bei den Präsidentschaftswahlen noch 9,1 Prozent erhalten hatte, um 86 Prozent. Sie gewann nur zwei Mandate; Bayrou verlor seinen Sitz.
Die gesunkene Wahlbeteiligung hat vermutlich weniger mit Politikverdrossenheit zu tun als damit, dass die Wahlen zur Nationalversammlung seit 2002 jeweils direkt nach den Präsidentschaftswahlen stattfinden, die im französischen Präsidialsystem ohnehin eine höhere Bedeutung haben. Nach einem Dauerwahlkampf seit Mitte 2011 waren nicht nur die Wahlkämpfer ausgepowert. Auch die Medien und Umfrageinstitute schenkten den Parlamentswahlen nur noch eine geringe Aufmerksamkeit. Während die Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen sich seit 1969 um die 80 Prozent bewegt, ist sie bei den Parlamentswahlen seit 2002 ständig gesunken.
Die Gewinner der Präsidentschaftswahl haben außerdem den Vorteil einer großen Medienpräsenz durch die Berufung eines Premierministers, die Regierungsbildung und die Ankündigung populärer Maßnahmen, der die Opposition nur wenig entgegensetzen kann. Auch Hollande nutzte die Zeit bis zur Parlamentswahl, um die Wähler von den „guten Absichten“ der PS und ihrer Verbündeten zu überzeugen. Die Regierung von Premierminister Jean-Marc Ayrault, die er am 15. Mai vorstellte, glänzte dadurch, dass sie durch die Berücksichtigung aller Strömungen der Sozialisten und der Bündnispartner Einheit demonstrierte, vollständig quotiert war und die Minister und Ministerinnen ihre Gehälter um 30 Prozent kürzten.
Anschließend standen einige symbolische Maßnahmen und Ankündigungen auf der Tagesordnung: die Erhöhung der Beihilfen zum Schuljahresbeginn um 25 Prozent, ein neues Gesetz gegen sexuelle Belästigung, Rückzug der Kampftruppen aus Afghanistan bis Ende 2012 oder die Senkung der Spitzengehälter in öffentlichen Unternehmen auf das 20fache der unteren Einkommen. Die Regierung habe sich darauf beschränkt, nur Maßnahmen anzukündigen, die nicht auf Ablehnung der FG stießen, erklärte die Linkspartei (PG) Mélenchons nach der Wahl. „Sie hat sich hingegen davor gehütet, solche zu präzisieren, die zwischen der PS und der Linksfront strittig sind, wie die Erhöhung des SMIC (Mindestlohn; N.B.) und die Rente mit 60 Jahren.“[2]
Auf der extremen Rechten musste auch die Nationale Front (FN) Federn lassen. Sie verlor 45 Prozent (fast 3 Mio.) ihrer Stimmen gegenüber dem Ergebnis Marine Le Pens im April, erzielte aber mit 13,6 Prozent ihr zweitbestes Ergebnis bei Parlamentswahlen und erhöhte den Stimmenanteil gegenüber 2007 um fast 10 Prozent.
Die Annäherung zwischen UMP und FN, die sich bereits nach dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl ankündigte, war noch nicht so weit gediehen, dass beide Parteien sich bei Stichwahlen mit linken Kandidaten gegenseitig unterstützt hätten. Aber immerhin rief die UMP nicht mehr wie zu Chiracs Zeiten auf, bei Stichwahlen zwischen Sozialisten und FN-Kandidaten für die Linken zu stimmen, sondern plädierte jetzt dafür, weder die einen noch die anderen zu wählen.
Die FN hielt deshalb beim zweiten Wahlgang auch in vielen Wahlkreisen, wo sie schlechter als ein bürgerlicher Kandidat abgeschnitten aber ausreichend Stimmen im ersten Wahlgang erzielt hatte (mindestens 12,5 Prozent der Wahlberechtigten), ihre Kandidaturen aufrecht, was die bürgerliche Rechte um einige Mandate gebracht hat – darunter auch eins, das an die FG ging. Die FN kehrte erstmals seit 1997 – mit zwei Abgeordneten – wieder ins Parlament zurück.
Trotz des Zuwachses gegenüber 2007 war das Ergebnis eine bittere Enttäuschung für die Anhänger der FG. Sie büßte bei der Parlamentswahl über zwei Millionen Stimmen (55 Prozent) gegenüber dem Ergebnis Jean-Luc Mélenchons ein. In der Vergangenheit hatte die PCF stets mehr Stimmen bei Parlaments- als bei Präsidentschaftswahlen erzielt. Mit 6,9 Prozent lag man nur knapp über dem FG-Ergebnis bei der EU-Wahl 2009 (6,1 Prozent) aber unter dem der Kantonalwahlen von 2010 (7,9 Prozent).
Bedenklich ist außerdem, dass der Stimmenanteil aller Kandidaten links der Sozialdemokratie kaum zugenommen hat. Das Ergebnis der „extrême gauche“ – v.a. Neue Antikapitalistische Linke (NPA) und Arbeiterkampf (LO) – hat von 3,4 Prozent 2007 auf jetzt 1,0 Prozent abgenommen. FG und „extrême gauche“ haben zusammen 7,9 Prozent erzielt gegenüber 7,8 Prozent 2007 und 7,7 Prozent 2002.
Die Enttäuschung für die FG war umso größer, als die Anzahl der Mandate zurückging und Mélenchon in seinem Versuch scheiterte, Marine Le Pen im Wahlkreis Hénin-Beaumont im Norden Frankreichs zu schlagen. Er unterlag bereits im ersten Wahlgang knapp gegenüber dem sozialistischen Kandidaten. Da Mélenchon es nicht in die Nationalversammlung geschafft hat, wird seine Rolle als Zugpferd der FG stark beeinträchtigt.
Hier wurde auch deutlich, dass die FG für ihren Beitrag zum Erfolg Hollandes im zweiten Wahlgang kein Entgegenkommen seitens der PS zu erwarten hatte – im Gegenteil. Parteichefin Martine Aubry und Premierminister Ayrault eilten eigens nach Hénin-Beaumont, um den Sozialisten Philippe Kemel zu unterstützen. Trotz eines Zuwachses von 7 Prozent für Mélenchon gegenüber der Präsidentschaftswahl lag der Sozialist 2 Prozent vor ihm. Dieser konnte in der Stichwahl Marine Le Pen nur knapp schlagen.
Die prozentualen Verluste gegenüber der Präsidentschaftswahl sind allerdings nur unwesentlich auf die gesunkene Wahlbeteiligung zurückzuführen. Von den Wählern Mélenchons gingen 34 Prozent nicht zur Wahl, stimmten ungültig oder weiß. Nur die Wahlenthaltung der Hollande-Wähler lag niedriger, die aller anderen höher.[3]
II.
Ursache für den niedrigen Stimmanteil der FG ist eine Wählerwanderung zu Sozialisten und Grünen. Während etwa 90 Prozent der Wähler Hollandes und Sarkozys deren Parteien und Verbündete wählten, waren es bei denen Le Pens nur noch 68 Prozent und denen Mélenchons 42 Prozent. 46 Prozent der Wähler Mélenchons haben die Sozialisten oder die Grünen gewählt.[4]
Wenn man sich die Ergebnisse in den einzelnen Wahlkreisen genauer betrachtet, stellt man fest, dass die Verluste gegenüber der Präsidentschaftswahl vor allem dort zu verzeichnen waren, wo die FG-Kandidaten keine Chancen hatten, gewählt zu werden. In den alten Hochburgen der PCF und in den Wahlkreisen ihrer Abgeordneten lagen die Ergebnisse mit wenigen Ausnahmen meist sehr deutlich über denen Mélenchons. Gegenüber 2007 verbesserte man sich in 90 Prozent der Wahlkreise. Die bereits bei der Präsidentschaftswahl zu beobachtende Rückkehr der Linken in der Fläche hat sich fortgesetzt. Statt in 401 Wahlkreisen ist die FG nur noch in 199 unter 5 Prozent. „Die Fundamente verbessern sich, aber das Dach bleibt wackelig“ resümiert Roger Martelli die Entwicklung in einer längeren Wahlanalyse.[5]
Die Mandatsverluste sind auf das Mehrheitswahlsystem zurückzuführen. Anders als die FN auf der Rechten konnte die FG auf der Linken bei Stichwahlen darauf zählen, dass schlechter platzierte Kandidaten nicht erneut antreten, sondern zur Wahl des FG-Kandidaten aufrufen. Dieses Verfahren ist seit 1966 zwischen Sozialisten und PCF Usus. Nach Errichtung der V. Republik 1958 und Einführung des jetzigen Wahlsystems hatten die PCF (1958 10 Mandate mit 21 Prozent der Stimmen), aber auch die Vorgänger der PS unterdurchschnittlich viele Sitze errungen. Wenn allerdings ein Partner in diesem Verfahren erheblich stärker ist als die anderen, kommen die kleineren Parteien nur in Hochburgen in den zweiten Wahlgang – es sei denn, es finden schon für den ersten Wahlgang Absprachen über die Kandidaturen statt.
Anders als die Grünen wollte die FG dies nicht, da ein gemeinsames Wahlprogramm mit der PS die Voraussetzung gewesen wäre. Darauf hatte man verzichtet, weil eine Einigung mit der zunehmend neoliberalen PS nur schwer möglich erschien (und diese auf der Zustimmung zum Programm Hollandes bestand), man sich als autonome linke Kraft profilieren wollte und man davon ausging, auch eigenständig mehr Mandate zu erzielen.
Das konnte nur in Hochburgen gelingen. Das Problem war aber, dass es bei den alten Hochburgen blieb. Nur in 20 Wahlkreisen schaffte es die FG über 20 Prozent statt in 23 im Jahr 2007. Einige davon gingen durch die Neuaufteilung vieler Wahlkreise verloren, aber es kamen keine neuen dazu. Zum Verhängnis für die FG wurde, dass die Stimmen für die PS stärker zunahmen als die eigenen. Nur in elf Wahlkreisen lag die FG vor den anderen linken Kandidaten, in zehn gewann sie die Stichwahl. Sieben Abgeordnete sind Mitglieder der PCF, einer der PG und zwei, die 2007 für die PCF gewählt worden waren gehören zur Föderation für eine Soziale und Ökologische Alternative (FASE). Zwei ehemalige Abgeordnete der PG, die 2007 für die PS bzw. die Grünen kandidiert hatten, wurden nicht wiedergewählt.
Die Wahlsoziologie bestätigt die Trends, die schon bei der Präsidentschaftswahl zu beobachten waren.[6] Mit steigendem Bildungsniveau nimmt der Stimmenanteil der FN rapide (von 22 Prozent auf 6 Prozent) und der der FG leicht (von 8 Prozent auf 6 Prozent) ab, während er bei den anderen Parteien stark (Grüne) mittel (UMP) und leicht (PS) zunimmt. Auffällig bei der Unterteilung nach Berufsgruppen ist, dass die FN mit 32 Prozent bei den Arbeitern an der Spitze liegt, gefolgt von der PS und ihren Verbündeten mit 29 Prozent (gegenüber 34 Prozent Stimmenanteil bei allen Wählern) und der FG mit 9 Prozent. Die PS schneidet besonders gut bei den mittleren Berufsgruppen ab (43 Prozent), die UMP bei Unternehmern, Handwerkern und Kaufleuten (49 Prozent).
Während die PS nur leicht überdurchschnittlich bei den unteren Einkommen gewählt wird, ist bei FG, Grünen und FN ein deutlicher Stimmenrückgang mit wachsendem Einkommen festzustellen. Bei der UMP ist es umgekehrt.
Für die Wähler der FG – und weniger ausgeprägt für die der PS – waren die Themen „Soziale Sicherheit“, „Beschäftigung“, „Kaufkraft“, „Bildung“ und „Soziale Ungleichheit“ wahlentscheidend. Für die FN-Anhänger liegen „Einwanderung“ und „Sicherheit“ an der Spitze. Ihre Wähler sind die, die der „Sozialen Sicherheit“ und der „Bildung“ die geringste Bedeutung beimessen. Das Thema „Soziale Ungleichheit“ interessiert nur UMP-Wähler weniger.
Die Umfragen geben auch Hinweise darauf, warum sich so viele Mélenchon-Wähler bei den Parlamentswahlen für die PS entschieden haben. 93 Prozent der FG-Wähler waren mit der Politik Hollandes nach seiner Wahl sehr bzw. eher zufrieden.[7] 85 Prozent der FG-Wähler wünschten sich eine Beteiligung der FG an der sozialistischen Regierung.[8]
III.
Bei der Analyse des enttäuschenden FG-Ergebnisses neigten PCF und PG dazu, ihre eigene Rolle im rosigen Licht darzustellen. Die Wahlabteilung der PCF behauptet, dass in 47 der 49 Wahlkreise, in denen die FG besser abgeschnitten hätte als bei der Präsidentschaftswahl, die PCF den Kandidaten stellte.[9]
Aber wenn man die dort genannten Stimmenzahlen der FG- und PCF-Kandidaten von 2012 und 2007 zugrunde legt, wir deutlich, dass der Zuwachs der 411 PCF-Kandidaten mit 40 Prozent erheblich geringer ist als der der anderen Bündnispartner mit 83 Prozent. Darauf macht auch die PG aufmerksam, die behauptet, ihre etwa 100 Kandidaten hätten die Ergebnisse von 2007 um 110 Prozent übertroffen.[10] Das dürfte damit zu tun haben, dass die PG-Kandidaten vor allem dort antraten, wo die PCF 2007 unter 5 Prozent lag, sie aber auch stärker Wähler der Sozialisten und der radikalen Linken gewinnen konnten.
Die Dominanz der PCF-Kandidaturen wird nicht nur von der PG bedauert. Für die FASE sind die Mélenchon-Stimmen nicht verschwunden. Sie seien nicht zum Tragen gekommen, weil die Öffnung der FG zu den Bürgern und neuen Organisationen damit kontrastierte, dass bei den Parlamentswahlen 85 Prozent der Kandidaten aus der PCF stammten.[11] Aber das war der Preis für die Zustimmung der PCF zur Präsidentschaftskandidatur Mélenchons. Da in den Wahlkreisen jeweils nur ein Kandidat antreten konnte, kam die Breite des Bündnisses wenig zum Tragen. Dies ist umso schwerwiegender, als die Parlamentswahlen in den Medien nur eine geringe Rolle spielten und die Auseinandersetzungen in den einzelnen Wahlkreisen stark im Fokus standen.
Die PG kritisiert, dass dieses Phänomen durch das „Fehlen einer Nationalen Parlamentswahlkampagne der Linksfront“ verstärkt worden sei. Die „Kohärenz und die Sichtbarkeit der politischen Aussage der Linksfront“ sei in 577 verschiedenen Kampagnen verloren gegangen.[12] Die Kritik wird auch von Ian Brossat, erfolgloser Kandidat der PCF in Paris geteilt, der von „577 Kampagnen mit 577 Losungen“ spricht.[13] Mélenchon konstatierte einen „Mangel politischer Führung“.[14] Der Vorsitzende der PCF Pierre Laurent teilt die Kritik, dass es an Sichtbarkeit auf nationaler Ebene gefehlt habe, weist aber die Behauptung Mélenchons, in den Wahlkreisen habe jeder in „seiner eigenen Ecke versucht, seine Haut zu retten“ zurück.[15]
Die Kandidatur Mélenchons gegen Le Pen in Henin-Beaumont wird im Nachhinein von vielen (außer in der PG) kritisch gesehen. „Die schwache landesweite Wahlkampagne und ihre mangelnde Sichtbarkeit haben es nicht ermöglicht, die Stimme einer Linken, die entschieden demokratisch und alternativ ist, weiterhin mit der notwendigen Lautstärke zu transportieren.“ So Christophe Aguiton, Samy Joshua und Roger Martelli in einer gemeinsamen Stellungnahme. Das habe dazu geführt, dass vor allem der symbolhafte Fall von Hénin-Beaumont das Medieninteresse bestimmt habe. „Obwohl die mutige Kampagne gegen die extreme Rechte ein starkes Symbol verdiente, wurde sie auf Kosten der umfassenden politischen Botschaft der Linksfront immer mehr zum Kern ihres öffentlichen Auftritts.“[16]
Ähnliche Positionen wurden von einigen Teilnehmern der Nationalkonferenz der PCF am 20. Juni geäußert, darunter vor allem von Kritikern der Parteimehrheit, die eine engere Kooperation mit der PS wünschen. [17] Aber andere wie Brossat oder der ehemalige Fraktionsvorsitzende Roland Muzeau, der nicht wiedergewählt wurde, machen deutlich, dass die Entscheidung der Kandidatur Mélenchons nicht ihm zum Vorwurf gemacht werden könne, sondern eine kollektive gewesen sei.[18]
Pierre Khalfa, Co-Vorsitzender der anti-neoliberalen Fondation Copernic, ist der Auffassung, dass die Linie „Front gegen Front“ bereits die letzte Phase des Präsidentschaftswahlkampfes negativ beeinflusst habe. Die FG sei überhaupt nicht als Vertreterin politischer Alternativen erschienen, was dadurch verstärkt worden sei, dass sie sich nicht zu den Ankündigungen der neuen Regierung verhalten habe. Im Gegenteil, viele Erklärungen der FG hätten darauf insistiert, dass die Wahl der FG notwendig sei, um eine linke Mehrheit zu bekommen. Dadurch erweckte man den Eindruck, die FG gehöre zu dieser Mehrheit und vertrete keine unterschiedlichen Positionen. Deshalb wäre die institutionelle Logik, die aus der Parlamentswahl den dritten Wahlgang der Präsidentschaftswahl macht, voll zum Tragen gekommen.[19] „Die Wähler haben ein zweites Mal Hollande gewählt“, meint die Co-Vorsitzende der PG Martine Billard.[20]
Den Grund für den Wählerverlust sehen der Gewerkschafter Claude Debons und der Wirtschaftswissenschaftler Jacques Rigaudiat auch „im ‚revolutionären’ Diskurs der FG, der es zwar vermocht hatte, Enthusiasmus bei den politisierten Rändern der Wählerschaft zu erzeugen und sie für eine bestimmte Konzeption der Linken zu gewinnen: Er konnte – in einer Situation, die nicht vorrevolutionär ist – nicht in der Breite davon überzeugen, dass wir eine Machtalternative darstellen, oder bescheidener, dass wir in der Lage seien, die Konstellation auf der Linken zu verändern, um bessere Vorschläge durchzusetzen.“[21]
Es lassen sich weitere Widersprüchlichkeiten in der Haltung zur PS aufzeigen: Während Mélenchon schon im Präsidentschaftswahlkampf eine Beteiligung an einer sozialistischen Regierung abgelehnt hatte, und immer wieder die programmatischen Unterschiede zu den Sozialisten betonte, ließ die PCF diese Frage bis nach den Wahlen offen. Während die FG zuerst Wahlabsprachen für den ersten Wahlgang mit der PS und den Grünen ausgeschlossen hatte, verhandelte die PCF und dann auch die PG nach der Präsidentschaftswahl mit den Sozialisten über gemeinsame Kandidaturen in einzelnen Wahlkreisen – nicht nur wo die Gefahr bestand, dass kein linker Kandidat in den zweiten Wahlgang kommen würde und dort die FN freies Feld gehabt hätte.
IV.
Die Parlamentswahlen verdeutlichen die Schwierigkeiten der FG, sich zur neuen Regierung zu verhalten. Khalfa sieht die FG auf einem schmalen Grad zwischen einer linksradikalen Linie, die Sarkozy und Hollande gleichsetze, wodurch die Widersprüche der Regierung nicht ausgenutzt werden könnten und man sich von den Wechselerwartungen seiner Wählerschaft isolieren würde, und einer opportunistischen, die die FG ins Fahrwasser der PS bringen würde, die die Bedeutung der ein oder anderen Maßnahme erhöhen würde, um die Logik hinter ihr nicht zu sehen.[22] Die Entscheidung, wie stark man sich von der PS absetzt, hängt auch damit zusammen, welche Bedeutung man der parlamentarischen Verankerung beimisst, und welche Rückwirkung diese auf die politischen Einwirkungsmöglichkeiten der FG und auf ihre Entwicklung haben würde. Ein vollständiger Bruch mit der PS kann dazu führen, dass die gegenseitige Unterstützung in den Stichwahlen beendet wird und die FG auch bei Ergebnissen von über 10 Prozent ihre Sitze verlieren würde.
Noch scheint in der FG keine Einmütigkeit zu herrschen, was das Verhältnis zur Regierung angeht. Die PG erklärt, die FG sei zwar Teil der Mehrheit, die Sarkozy geschlagen habe, aber nicht Teil der Regierungsmehrheit. Sie müsse sich ihre Position einer „gewinnenden Autonomie“ („autonomie conquérante“) bewahren. „Wir werden eine positive Kraft in der Mehrheit sein“, erklärte hingegen die Nationalkonferenz der PCF vom 20. Juni, „um die Veränderung soweit wie möglich zu treiben mit der Leitlinie der Ablehnung einer Austeritätspolitik, die den Wünschen der Märkte unterworfen wird.“[23] André Chassaigne, der neue Fraktionsvorsitzende und unterlegene Gegenkandidat Mélenchons in den internen Wahlen der PCF, meinte: „Wir werden nicht die Zeit damit verbringen, Granaten zu entsichern, um sie den Ministern zwischen die Beine zu werfen.“[24]
Autain bemüht sich um eine Synthese: „Was sicher ist, ist dass wir nicht in der Opposition sind, denn dort ist die Rechte. Darüber hinaus kann jeder seine Rolle definieren wie er will, in der Mehrheit oder der Autonomie: Uns vereint, ein Stützpunkt zur Durchsetzung sozialer Errungenschaften zu sein.“[25]
In der Praxis scheint die Gratwanderung zu gelingen. Die PCF, die die Frage einer Regierungsbeteiligung offen gehalten hatte, stimmte am 20. Juni mit großer Mehrheit (93,4 Prozent der Mitglieder) dagegen und schloss sich so der Meinung ihrer Bündnispartner an. Mit dem Gewinn der Präsidentschaft und der absoluten Mehrheit im Parlament verfügt die PS über eine nie dagewesene Machtfülle. Sie ist in der Nationalversammlung nicht auf die FG angewiesen. Deshalb hätte die FG auch kaum Druckmittel, um Akzente in der Regierungspolitik zu setzen. Die PS hatte zudem klar gemacht, dass sie nicht vom Programm Hollandes abweichen wolle.
Die parlamentarischen Einwirkungsmöglichkeiten der FG sind somit beschränkt – auch wenn im Senat die Regierung auf die 20 PCF-Senatoren angewiesen ist. Aber die FG braucht deshalb auch wenige Rücksichten auf die sozialistische Regierung zu nehmen. Und sie wird vor allem nicht für ihre unpopulären Maßnahmen in Haft genommen, wie es bei früheren Regierungsbeteiligungen der PCF der Fall war.
Nach der Regierungserklärung Ayraults hat die FG ihre Zwischenposition bei der Vertrauensabstimmung über die Regierung durch Enthaltung zum Ausdruck gebracht. Damit will sie deutlich machen, dass sie nur einen Teil der angekündigten Maßnahmen mitträgt, vor allem aber, dass die geplante Austeritätspolitik auf ihre Ablehnung stößt. Gleiches gilt auch für den Verzicht auf die Neuverhandlung des EU-Fiskalpaktes und die Ablehnung einer Volksabstimmung zu diesem Thema.
Die Zukunft der FG ist nach wie vor ein Zankapfel vor allem zwischen der PCF und den restlichen Komponenten. Martelli hat sich damit abgefunden, dass die Umwandlung der FG in eine Partei nicht möglich ist. Man müsse aber ihren Doppelcharakter als Parteienbündnis und als Aufnahmestruktur für Einzelpersonen „ohne Zugehörigkeit“ anerkennen. Zu diesem Zweck müsse die Organisationsform an der Basis geklärt und Doppelstrukturen auf nationaler Ebene geschaffen werden, die aus Vertretern der Basisorganisationen und der Mitgliedsparteien zusammengesetzt wären.[26] Die PG will vor allem in der Frage vorankommen, wie Einzelpersonen zumindest auf lokaler Ebene beitreten können. „Der Wille, Bürgerinnen und Bürger dort zu integrieren, die sich nicht in einer der Parteien engagieren wollen, wird von allen geteilt.“[27] Die PCF hält sich in diesen Fragen noch bedeckt. Sie ruft die Bürger auf, sich der Linksfront anzuschließen, ohne zu sagen, in welchen Strukturen das geschehen soll.[28] Gleichzeitig sind PCF und PG bemüht, eigene Mitglieder zu gewinnen.
Die Haltung Martellis widerspiegelt die der kleineren Gruppierungen in der FG, die versuchen einen eigenen Pol zu bilden und verlässliche demokratische Strukturen der FG durchzusetzen, um der Übermacht von PCF und PG beizukommen. Nach der Parlamentswahl haben sie bereits zum dritten Mal Zulauf aus der NPA bekommen. Die Strömung „Antikapitalistische Linke“, die die sektiererische Linie der NPA-Mehrheit gegenüber der FG kritisiert hatte, hat sich der FG angeschlossen.
Die Wahlergebnisse von SYRIZA in Griechenland haben vielen in der Linksfront nach der Ernüchterung der Parlamentswahlen Hoffnung gemacht. Dabei wird aber leicht übersehen, dass SYRIZA diesen Erfolg nur vor dem Hintergrund einer unglaublich antisozialen Politik der Papandreou-Regierung und des Zusammenbruchs der PASOK erreichen konnte, und dass in Frankreich von der Unzufriedenheit mehr die FN als die FG profitieren könnte. Es bleibt abzuwarten, ob die Hollande-Regierung angesichts der Krise und der Verpflichtung, das Haushaltsdefizit zu senken sich auf Linie der PASOK begeben oder aber eine gemäßigte Austeritätspolitik verfolgen wird, die man den Wählern mit Verweis auf die Schwere der Krise und die Unabwendbarkeit der Maßnahmen schmackhaft machen kann. Welche Linie sie einschlagen wird, wird auch vom Handeln und der Festigung der FG abhängen.
[1] Vgl. N. Biver, Präsidentschaftswahlen in Frankreich: Die Renaissance der radikalen Linken, in Z 90, Juni 2012, S. 8-17.
[2] Parti de Gauche, Conseil National des 23 et 24 juin 2012. Résolution, S. 2.
[3] Sondage OpinionWay – Fiducial, Sondage jour du vote. 1er tour des élections législatives 2012, 10 Juni 2012, S. 8f. Wahltagsumfrage unter 7090 Wahlberechtigten. Bei den wahlsoziologischen Angaben wurde dieser Studie der Vorzug gegenüber einer ähnlichen von Ipsos gegeben, bei der nur 3000 Personen befragt wurden und die Aufschlüsselung der Wahlanteile kleinerer Parteien deshalb zu ungenaueren Ergebnissen führt.
[4] Ebd., S. 9.
[5] Roger Martelli, Analyse du premier tour des législatives, 14.6.2012, S. 2. Der Historiker Martelli wechselte 2010 von der PCF zur Föderation für eine soziale und ökologische Alternative (FASE). Mit ihrer Sprecherin Clémentine Autain gibt er die Zeitschrift Regards heraus.
[6] Sondage OpinionWay – Fiducial, a.a.O., S. 32f.
[7] Ipsos, 1er tour des élections législatives. Comprendre le vote des Francais. Befragung von 3087 Wahlberechtigten vom 7. bis 9. Juni 2012.
[8] Sondage OpinionWay – Fiducial pour Le Figaro, Sondage jour du vote. 1er tour des élections législatives 2012. Les clés du vote et les perspectives politiques, 10.6.2012, S. 32f.
[9] Secteur Elections – Conseil national du PCF, 1er tour des élections législatives. Premiers éléments d’analyse électorale, 15 Juni 2012, S. 5. Laut den Zahlen des Innenministeriums und eigenen Berechnungen lag die FG in 46 Wahlkreisen besser als Mélenchon. Zehn Kandidaten gehörten nicht zur PCF, darunter fünf zur PG, drei zur FASE.
[10] Parti de Gauche, Conseil National des 23 et 24 juin 2012. Résolution, S.2
[11] Editorial in: Cerises, No. 146, 17.6.2012. Cerises ist das Mitteilungsblatt der Einheitskommunisten (Communistes Unitaires) die 2010 die PCF verlassen haben und die Hauptkraft in der FASE sind. Zu ihnen gehören die zwei Abgeordneten Jacqueline Fraysse und François Asensi, der Philosoph Lucien Sève und Roger Martelli.
[12] Parti de Gauche, ebd.
[13] Stéphane Alliès/Lénaïg Bredoux, Front de gauche: les communistes en pleine analyse, médiapart, 20.6.2012, http://www.mediapart.fr.
[14] Jean-Luc Mélenchon évoque „une carence de direction politique”, in Le Monde, 27.6.2012.
[15] Eric Nunès, Pierre Laurent appelle Mélenchon à „se garder de réactions caricaturales, voire insultantes“, in: Le Monde, 26.6.2012.
[16] Les invités de Mediapart, Du mouvement dans le Front de Gauche, in: Médiapart, 26.6.2012; die Autoren sind prominente linke Aktivisten: Christophe Aguiton ehemals Leitungsmitglied der LCR, war Mitbegründer der Gewerkschaft SUD-PTT und von Attac sowie Vorsitzender der Erwerblosenbewegung AC! Samy Joshua war Führungsmitglied der NPA.
[17] Sylvia Zappi. Le bilan des législatives provoque des tiraillements au sein du Front de gauche, in: Le Monde, 26.6.2012.
[18] Stéphane Alliès/Lénaïg Bredoux, ebd.
[19] Pierre Khalfa, Le résultat très décevant des législatives renvoie à des phénomènes complexes. 15.6.2012, http://lafederation.org.
[20] Stéphane Alliès/Lénaïg Bredoux, ebd.
[21] Claude Debons/Jacques Rigaudiat, Front de Gauche: et maintenant? Premières réflexions à l’issue de la séquence présidentielles-législatives, 25.6.2012. Debons ist der ehemalige Chef der Transportarbeitergewerkschaft der CFDT; Rigaudiat ist ehemaliger Berater von Michel Rocard und Lionel Jospin, und Mitglied der Fondation Copernic. Beide waren Mitglieder der PG, die sie inzwischen verlassen haben.
[22]Pierre Khalfa, ebd.
[23] Avec vous, réussir le changement. Erklärung der Nationalkonferenz der PCF vom 20.6. 2012.
[24] Patrick Roger, Le Front de gauche réussit à constituer un groupe à l’Assemblée, in; Le Monde, 25.6.2012.
[25] Stéphane Alliès/Lénaïg Bredoux, ebd.
[26] Roger Martelli, a.a.O., S. 4.
[27]Parti de Gauche, ebd.
[28] Avec vous, réussir le changement, a.a.O., S. 2.