Führende Politiker der EU und Indiens begrüßten den parallelen Wirtschaftsgipfel und waren sich einig, dass eine verstärkte Zusammenarbeit der Unternehmensverbände beider Seiten für die jeweiligen Konzerne und die Kooperation zwischen der EU und Indien insgesamt von großem Nutzen wäre[1].
Aus der Erklärung des EU-Indien Gipfels, 10. Dezember 2010, Brüssel
Die Kommission muss die Industrie intensiv mit einbeziehen, um [in den Freihandelsverhandlungen mit Indien] ein langfristig zufriedenstellendes Ergebnis zu erzielen.
Aus der BDI-Pressemitteilung zum EU-Indien Gipfel, 9. Dezember 2010
Beide Zitate aus dem Kontext des letzten EU-Indien Gipfels im Dezember 2010 in Brüssel deuten auf Zusammenhänge im Verhältnis von Staat und Kapital hin, die in der materialistischen Staatstheorie eine zentrale Rolle spielen: das von Antonio Gramsci geprägte Verständnis des Staates als erweiterten oder integralen Staat aus politischer Gesellschaft und Zivilgesellschaft; die von Nicos Poulantzas betonte Organisation der herrschenden Klasse durch den Staat und die Frage, wie diese im Rahmen von Transnationalisierungsprozessen abläuft; sowie den wachsenden Einfluss privater Akteure und informeller Regimes im Zuge der Internationalisierung des Staates, auf die neo-gramscianische, neopoulantzianische und feministische Arbeiten hinweisen.
Im Folgenden möchte ich diese Ansätze mit aktuellen empirischen Erkenntnissen zur Rolle von Lobbyverbänden in der EU-Politik zusammen bringen. Am Beispiel der EU-Handelspolitik gegenüber Indien werde ich zeigen, wie einzelne EU-Apparate den transnationalen Machtblock organisieren und in diesem Zuge neue Kooperationszusammenhänge transnationaler Eliten kreieren. Ziel ist, das Forschungsprogramm zur europäischen und internationalen Staatlichkeit (siehe z.B. Bieling 2010; Brand 2009) mit politikfeld-spezifischen, empirischen Schlaglichtern anzureichern, jedoch ohne Anspruch auf Vollständigkeit.[2] Die empirischen Belege stammen – soweit nicht anders gekennzeichnet – aus internen Protokollen und Emails der EU-Kommission, die im Rahmen des EU-Informationsfreiheitsgesetzes angefordert wurden.[3]
Im Zentrum der Darstellungen stehen Operationsweisen des europäischen handelspolitischen Staat-Zivilgesellschafts-Komplexes, der die EU-Kommission und zivilgesellschaftliche Netzwerke verbindet (siehe Bieling 2010: 126ff.). In diesem Komplex können einzelne Generaldirektionen der Kommission in Anlehnung an poulantzianische Ansätze als Knotenpunkte einer komplexen selektiven Verdichtung sozialer Kräfteverhältnisse zweiter Ordnung begriffen werden (ebd.: 46; Brand/Görg/Wissen 2007), die für die politische Konstituierung der herrschenden gesellschaftlichen Kräfte als transnationalen Machtblock eine entscheidende Rolle spielen. Dieser Block verbindet europäische politische und ökonomische Eliten, insbesondere transnationale Konzerne (TNK) (Gill 1998; Wissel 2007).
Im Folgenden werde ich die diskursiv-politischen Filter skizzieren, die handelspolitische Diskussionen und Entscheidungsprozesse auf EU-Ebene strukturieren. Anschließend werden die Interaktionen zwischen der EU-Kommission und transnationalen Wirtschaftsverbänden im Kontext der laufenden Freihandelsverhandlungen mit Indien dargestellt. Abschließend werde ich diese Empirie an die eingangs erwähnten theoretischen Zugänge rückbinden und Hinweise für die weitere Forschung zur Europäisierung bzw. Internationalisierung von Staatlichkeit geben.
Strategische Selektivität à la Global Europe
Die jüngste EU-Handelspolitik wurde wesentlich durch die 2006 verabschiedete Global Europe Strategie geprägt (Europäische Kommission 2006a). Sie war einerseits Ausdruck veränderter Kräfteverhältnisse im Inneren. Aus jahrzehntelangen Binnenmarkt- und Außenhandelsliberalisierungen und dem Prozess der Herausbildung einer europäischen Wettbewerbsstaatlichkeit waren weltmarktorientierte Akteure gestärkt hervorgegangen, während nicht weltmarktgängige und eher sozial orientierte Kräfte strukturell geschwächt wurden (siehe Bieling 2010; Deckwirth 2010).[4] Andererseits reagierte die EU mit Global Europe auch auf Umbrüche in der Weltordnung und Weltökonomie. Der Aufstieg der BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China) sowie die schärfer werdende Konkurrenz um Absatzmärkte bzw. den Zugang zu Energie und Rohstoffen seien hier nur als zwei Trends genannt.
In diesem Kontext formulierte die Global Europe Strategie offen die Vision eines neoliberal-imperialen Europas, das unter dem Primat der externen Wettbewerbsfähigkeit von TNKs weltweit Märkte öffnet, Eigentumsrechte und Zugang zu Rohstoffen absichert und dies „durch die richtige Politik zu Hause“ unterstützt (Europäische Kommission 2006a: 4). Als „maßgebende außenwirtschaftliche Richtschnur innerhalb der EU-Außenpolitik“ (Binus 2010: 11) hat Global Europe die wettbewerbszentrierte „strategische Selektivität“ (Jessop 1990) europäischer Staatlichkeit weiter festgeschrieben. Die Förderung europäischer TNKs und ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit wurden der zentrale Filter für Diskurse und Entscheidungsverfahren im EU-System. Der sowieso schon privilegierte Zugang zu diesem System wurde somit für transnational operierende Kapitalfraktionen ausgeweitet. Gleichzeitig wurde das Feld für Kräfte, die alternative handelspolitische Konzeptionen vertraten, wie Gewerkschaften und soziale Bewegungen weniger zugänglich. Kaum etwas bringt das besser auf den Punkt als die selbstformulierte Stellenbeschreibung des derzeitigen Handelskommissars, Karel de Gucht. In seinem ersten Dialog mit der Zivilgesellschaft im Sommer 2010 sagte er: „Meine Stellenbeschreibung lautet: ‚Öffne neue Märkte für die europäische Industrie und den europäischen Dienstleistungssektor’.“[5]
Das erweiterte EU-System in Brüssel und Delhi
Doch eine enge Zusammenarbeit von EU-Kommission und transnationalem Kapital gibt es nicht erst seit Global Europe (siehe z.B. Deckwirth 2005). Schon die Strategie selbst wurde von Akteuren wie dem europäischen Arbeitgeberverband BusinessEurope, einem der einflussreichsten Verbände auf dem Brüsseler Lobby-Parkett, quasi mit verfasst. Auch die Tatsache, dass die neuen Schwerpunkt-Märkte der EU-Handelspolitik in der Strategie explizit genannt wurden, geht auf Lobbyaktivitäten von BusinessEurope & Co. zurück (siehe Corporate Europe Observatory 2008).
Indien ist einer dieser Schwerpunktmärkte. Die EU ist zwar schon jetzt der wichtigste Handelspartner Indiens – vor China, den Vereinigten Arabischen Emiraten und den USA. Für die Union ist der Subkontinent aber nur die Nummer zehn. 2.5% der EU-Exporte gelangen auf den indischen Markt, nur 2.1% der Importe kommen von dort.[6] Dabei wecken die wachsende indische Mittelschicht, hohe Wachstumsraten, Rohstoffvorkommen und der hohe wissenschaftlich-technische Kenntnisstand Begehrlichkeiten. BusinessEurope bezeichnet das aktuell verhandelte EU-Indien Freihandelsabkommen daher auch als „das wichtigste Abkommen, das gerade verhandelt wird.“[7]
Monate vor dem offiziellen Beginn der Gespräche mit Indien im Juni 2007 startete die EU-Kommission ihre Konsultation mit der europäischen Wirtschaft. In einem detaillierten Fragebogen wurde sie zu Problemen beim Export von Gütern und Dienstleistungen, bei Filialeröffnungen, beim Zugang zu Rohstoffen etc. befragt. Zeitgleich versicherte der Direktor der Generaldirektion Handel dem BusinessEurope-Chef, Philippe de Buck, dass „meine und Ihre Kollegen diskutieren, wie wir unsere Konsultationen und einen engen Informationsaustausch am besten organisieren können“. In einem Treffen zwischen BusinessEurope und Beamten der Generaldirektion Handel wurde kurz darauf genauer abgesprochen, welchen Input die Kommission wünschte, welche Verhandlungstexte sie zugänglich machen könnte und wie europäische und indische Verbände in die Verhandlungen einbezogen werden könnten.
Seitdem gab es hunderte von exklusiven Treffen zwischen Kommissionsbeamten und VertreterInnen von TNK sowie nationalen und europäischen Wirtschaftsverbänden. Die engsten Kontakte unterhält die Kommission zu BusinessEurope, die mindestens einmal monatlich zu den Verhandlungen mit Indien unterrichtet und nach ihren Interessen befragt werden. Um den Druck auf die indische Seite zu erhöhen, fordert die Kommission BusinessEurope auch direkt auf, aktiv zu werden. Als die indische Regierung Anfang 2008 ihre Konsultationen zu „sensiblen“ Produkten begann, also Produkten, die sie in einem Abkommen mit der EU ganz oder teilweise von Zollsenkungen ausnehmen wollte, schickte ein Beamter der Generaldirektion Handel die Liste möglicher Produkte sofort an BusinessEurope.
Ähnliche Prozesse spielen sich zwischen der EU-Delegation in Delhi und europäischen TNKs, Handelskammern und der European Business Group (EBG) ab. Letztere wurde in den 90er Jahren ins Leben gerufen, um die Interessen europäischer Unternehmen in Indien zu fördern. Sie bringt europäische Global Player zusammen, die auf dem indischen Markt aktiv sind, wie die Deutsche Bank, Airfrance, Alstom, Veolia und Mercedes-Benz. Zeitweise hatte die EBG ihr Büro in der EU-Delegation, der Leiter der EU-Wirtschaftsabteilung ist Mitglied im EBG-Vorstand;[8] die Delegation bringt die Gruppe ins Spiel, wenn es darum geht, europäische Unternehmen zu einer Frage zusammen zu bringen und Strategien zu entwickeln.
Daneben gibt es noch das in Delhi ansässige European Business and Technology Centre (EBTC). Es wird von Eurochambres betrieben, dem Verband der Europäischen Industrie- und Handelskammern. Initiiert wurde das EBTC allerdings von der EU-Kommission, und zwar, um im Rahmen der Global Europe Strategie „ausschließlich die EU Interessen in Indien zu fördern und die schnell wachsende indische Wirtschaft anzuzapfen“[9]. Die EU finanziert 80% der Kosten des EBTC – mit mehr als 16.5 Millionen Euro aus ihrem Entwicklungsfonds[10] – und verfolgt seine Aktivitäten genau. Dabei geht es vordergründig um die Förderung von in Europa entwickelten grünen Technologien. Aber schon die EU-Ausschreibung aus dem Jahr 2008 macht deutlich, dass das EBTC die verschiedenen Akteure des für die EU-Indien-Beziehungen relevanten europäischen Staats-Zivilgesellschafts-Komplexes besser vernetzen soll: TNK, nationale und europäische Handelskammern, NGOs, Forschungsinstitute, die Europäische Investitionsbank, die Vertretungen der EU-Mitgliedsstaaten und die EU-Kommission. Für Eurochambres ist das EBTC Teil der Vision „die europäische Fahne in den aufstrebenden Märkten zu verankern“[11].
Institutionalisierung neuer Netzwerke
Das EBTC deutet darauf hin, dass die EU-Kommission angesichts der schärfer werdenden globalen Konkurrenz der Wirtschaftsblöcke bestrebt ist, den europäischen Staats-Zivilgesellschafts-Komplex zu effektivieren, um die Handlungsfähigkeit der EU in der Weltpolitik und -ökonomie zu stärken. Schon die Genese dieses Komplexes in den 80er und 90er Jahren hatte es der EU ermöglicht, ihre handelspolitischen Interessen offensiver nach außen zu vertreten (Bieling 2010: 112; 122ff.). Das unterstreicht ein Zitat des ehemaligen EU-Handelskommissars Pascal Lamy von 2004 (zitiert nach ebd.: 142): „Während meiner Zeit in Brüssel war offensichtlich, dass meine Vorgänger etwa zwei Drittel ihrer Zeit damit verbracht hatten, mit den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU zu verhandeln, was nur ein Drittel für Verhandlungen mit der nicht-europäischen Welt übrig ließ. […] Ich bin überzeugt davon, dass sich dieses Verhältnis durch die die stärkere Einheit in der Handelspolitik […] in meiner Amtszeit umgekehrt hat.“
Ganz in diesem Sinne stellte die 2007 verabschiedete Marktzugangsstrategie die Weichen für eine noch stärkere Einbindung von TNKs und Wirtschaftsverbänden in die EU-Handelspolitik. Kern der Strategie ist „eine starke Partnerschaft für die Öffnung der Märkte zwischen der Kommission, den Mitgliedstaaten und den Unternehmen“ (Europäische Kommission 2007: 2). In Brüssel wurden dazu über ein Dutzend so genannter „Marktzugangs-Arbeitsgruppen“ eingerichtet, in denen VertreterInnen der Kommission, der EU-Mitgliedstaaten und der Wirtschaft Regulierungen in Drittstaaten identifizieren, die ihren Exporteuren ein Dorn im Auge sind. Dann werden Strategien entwickelt, um sie aus dem Weg zu räumen – über bilaterale und multilaterale Verhandlungen, Streitschlichtungsverfahren oder „politische Kontakte und Handelsdiplomatie“ (ebd.: 7).
In über 30 Zielmärkten der EU wurden zudem so genannte „Marktzugangs-Teams“ eingerichtet, die „eine systematischere Koordinierung“ zwischen den EU-Delegationen, nationalen Botschaften, Handelskammern und Unternehmen vor Ort ermöglichen sollen. Sie setzen Beschlüsse aus Brüssel um und agieren als „Frühwarnsystem“ zur Identifizierung und Beeinflussung zukünftiger Gesetze. Auf der Agenda steht dabei von Gesundheitsstandards und Beschränkungen beim Zugang zu Rohstoffen über restriktive öffentliche Beschaffungsvorschriften bis zu Hemmnissen beim Dienstleistungsverkehr so ziemlich alles, was nicht in die ordnungspolitischen Vorstellungen der EU passt und daran angeglichen werden soll. Zitat EU-Kommission (2008: 4): „Einige dieser Barrieren sind einfach auf Unterschiede, z.B. beim ordnungspolitischen Konzept, und auf unterschiedliche soziale, beschäftigungspolitische, ökologische, die öffentliche Gesundheit und den Verbraucherschutz betreffende Ziele zurückzuführen. Andere werden systematischer eingesetzt, um die heimische Produktion zu begünstigen oder zu schützen, z.B. spezielle Normen, Prüfvorschriften oder überzogene Dokumentationsansprüche. Während letztere eine starke, zielorientierte Reaktion der EU unter Einsatz durchsetzungsfähiger Instrumente erfordern, können erstere durch systematischere, langfristige Zusammenarbeitsmaßnahmen und Dialoge angegangen werden. Dies ist auf dem Gebiet der ordnungspolitischen Unterschiede besonders wertvoll.“
Indien steht in fast allen Arbeitsgruppen oben auf der Agenda. Auf einer Top-10 Liste indischer Marktzugangsbarrieren befinden sich Qualitäts- und Gesundheitsstandards für importierte Felle und Häute, Importbeschränkungen für Geflügelprodukte aus von Vogelgrippe betroffenen Ländern sowie ein geplantes Gesetz für den indischen Postmarkt, das einkommensschwachen Gruppen und Menschen in entlegenen Regionen Indiens den Zugang zu Postdienstleistungen garantieren sollte. Das Gesetz ist inzwischen im indischen Parlament versandet. Andere Regulierungen sind laut EU-Kommission aufgrund der koordinierten EU-Handelsdiplomatie gelockert oder ganz abgeschafft worden.[12] Wiederum andere soll das zukünftige Freihandelsabkommen aus dem Weg räumen, so z.B. die Beschränkungen von ausländischen Direktinvestitionen im indischen Einzelhandel.
Es verwundert nicht, dass TNK und Verbände mit Sitz in den Marktzugangs-Arbeitsgruppen begeistert sind über den „engen Kontakt mit den EU-Verhandlern“ und die „konstruktive Arbeitsbeziehung“ mit der Kommission, wie der europäische Verband des Einzel-, Groß- und Außenhandels, EuroCommerce, zufrieden feststellt.[13] Er preist die Arbeitsgruppen als „riesiges Hörrohr, mit dem die Kommission den Wünschen der Industrie lauscht.“[14] Für eines seiner Mitglieder, die Metro-Gruppe, geht es darum, dass die Kommission lernt, wie ein Unternehmen zu denken und auch so zu sprechen.[15] Die Kommission wiederum will ihre Handlungsfähigkeit durch die stärkere Einbindung der Verbände ausweiten. Denn: „Unsere Fähigkeit, effektiv unsere Ressourcen zu mobilisieren und zu bündeln wird darüber entscheiden, wie ehrgeizig wir unsere Ziele verfolgen können.“ (Europäische Kommission 2006b: 22)
Die transnationale innere Bourgeoisie in Aktion
Das EBTC, die Aktivierung von Akteuren wie BusinessEurope und der EBG sowie die Bereitstellung von Foren zur Interessenformierung und -artikulation haben schon angedeutet, dass die EU-Kommission ökonomische Akteure nicht nur gegenüber anderen Kräften der Zivilgesellschaft privilegiert, sondern die herrschende Klasse auch organisiert. Interessanterweise bezieht sich das nicht allein auf ‚europäische’, sondern auch auf ‚ausländische’ Kapitale. Vielmehr organisiert der Staatsapparat EU-Kommission das, was Jens Wissel (2007) in Anlehnung an Poulantzas die „transnationale innere Bourgeoisie“ genannt hat – eine Bourgeoisie, die in einer zunehmend transnationalisierten Ökonomie transnationale Interessen vertritt und für deren Durchsetzung auf Foren jenseits nationaler Staatsapparate angewiesen ist.
In den EU-Indien Beziehungen existiert bisher kein derartiges Forum. Doch die Kommission versucht, dieses Vakuum zu füllen. Und zwar einmal, indem sie die europäischen Verbände immer wieder antreibt, strittige Punkte der EU-Indien Verhandlungen mit ihren indischen Pendants zu bearbeiten.[16] Sie aktiviert auch selbst indische Global Player, z.B. die Softwarelobby NASSCOM.[17]
Daneben versucht sie, den EU-Indien Wirtschaftsgipfel zu einem strategischen Knotenpunkt für die Erarbeitung eines transnationalen Konsenses zwischen den ökonomischen und politischen Eliten Europas und Indiens zu transformieren.
Der Wirtschaftsgipfel findet jährlich parallel zum politischen EU-Indien-Gipfel statt, zuletzt im Dezember 2010 in Brüssel. Während er als rein privatwirtschaftliche Initiative daherkommt, zeigen interne Dokumente, dass die Kommission eng in die Vor- und Nachbereitung sowie die Entwicklung der zentralen Botschaften des Ereignisses eingebunden ist. Im Vorfeld des 2009er Gipfels brachten Beamte der EU Delegation in Delhi sowie der in Brüssel ansässigen Generaldirektionen für Handel, Unternehmen und Industrie sowie Außenbeziehungen ihre eigenen Vorstellungen bezüglich der Themen („etwas konkretes, mit dem wir die Konzernchefs locken können“) und des Programms ein („weniger Themen... inklusive der EU Prioritäten“). Die Generaldirektion Außenbeziehungen machte Änderungsvorschläge für die Abschlusserklärung. Und es waren Kommissionsbeamte, die die europäischen Verbände dazu drängten, einen exklusiven runden Tisch für Vorstandsvorsitzende zu organisieren – um innige Diskussionen zwischen wenigen „top CEOs von beiden Seiten“ zu ermöglichen. Derartige runde Tische hatte es bereits 2006 und 2007 gegeben. Sie waren von der Kommission vor allem für den „privilegierten Zugang, den die CEOs zur politischen Elite erhalten“, gelobt worden.
Auch während des EU-Indien Wirtschaftsgipfels 2009 in Delhi fand ein solcher runder Tisch statt, der die Vorstandschefs von TNK wie Ericsson, ArcelorMittal und Bharti zusammen brachte. Intern zeigte sich die Kommission erfreut über deren breite Unterstützung für einen schnellen Abschluss der Freihandelsgespräche, über die Befürwortung der angestrebten vereinfachten Arbeitsmigration von Hochqualifizierten und darüber, dass der indische Telekom-Mogul Bharti für eine Öffnung des indischen Dienstleistungssektors plädierte – wenngleich er hinzufügte, dass Indien dabei vorsichtig vorgehen müsste, „um Unruhen zu vermeiden“. Bei sozialen Bewegungen, NGOs und Gewerkschaften stoßen diese Punkte in den Verhandlungen auf massive Kritik.[18] Insbesondere die angekündigte Öffnung des indischen Einzelhandels für europäische Supermarktriesen wie Metro, Carrefour und Tesco hat massive Proteste von indischen StraßenhändlerInnen und BesitzerInnen so genannter kirana Tante-Emma-Läden ausgelöst. Ihrer Kritik wurde mit dem EU-Indien Wirtschaftsgipfel eine einheitliche Stimme des indischen und europäischen Großkapitals entgegen gesetzt.
Doch eine punktuelle Unterstützung des EU-Indien Liberalisierungsprojekts reicht der Kommission nicht. Bereits vor dem 2009er Wirtschaftsgipfel hatte sie die „ärmliche und langsame Vorbereitung“ und den Mangel an einer gemeinsamen Erklärung der europäischen und indischen Verbände beanstandet. Sie warnte die europäischen Verbände, dass „wir mit den Wirtschaftsgipfeln nicht einfach weiter machen können wie bisher“ und dass „einmalige hochkarätige Treffen keinen Sinn haben, solange es keinen vernünftigen follow-up Prozess gibt“.
Die Generaldirektion Außenbeziehungen schlug das in Delhi ansässige und von der EU-Kommission ko-finanzierte EBTC als „Plattform“ vor, welche die nötige „Kontinuität gewährleisten kann“ – vor allem zwischen den Wirtschaftsgipfeln, bei der Auswahl von Partnern und Themen und dem runden Tisch der CEOs. Beim letzten Gipfel im Dezember in Brüssel war das EBTC schon einmal einer der Partner – neben Multis wie der ING Bank, Arcelor Mittal und Tata sowie den indischen Unternehmensverbänden CII und FICCI. Und erst kürzlich hat die EU Botschafterin in Delhi das Zentrum erneut aufgefordert, den EU-Indien Dialog durch die Perspektive der beiden Privatsektoren zu bereichern.[19]
Ausblicke für Theorie und Praxis
Die Einblicke in die Interaktion zwischen EU-Kommission und weltmarktorientierten Akteuren im Rahmen der EU-Indien-Beziehungen zeigen in Bezug auf das Politikfeld Handelspolitik viererlei: Im Kontext veränderter europäischer und globaler Kräfteverhältnisse versucht die Kommission erstens den europäischen Staats-Zivilgesellschafts-Komplex und damit ihre Handlungsfähigkeit zu stärken. Das geschieht sowohl über die de facto Institutionalisierung informeller Konsultationen wie auch die Schaffung neuer Kooperationszusammenhänge wie den Marktzugangsarbeitsgruppen bzw. -teams und dem EBTC in Delhi. In diesem Zuge gewinnen zweitens informelle Regimes und Netzwerke weiter an Bedeutung, was nicht nur die (männerbündige) Exekutivlastigkeit des EU-Systems weiter festschreibt und den Gestaltungsspielraum demokratischer Entscheidungsgremien einengt, sondern die Grenzen zwischen formell öffentlich-staatlichen und privaten Akteuren weiter verwischt. Politik und Ökonomie scheinen hier nicht mehr so klar getrennt wie im Nationalstaat. Das heißt jedoch nicht, dass die relative Autonomie des Staates aufgehoben ist, denn die Arenen, die die EU-Kommission in der Handelspolitik bereitstellt, ermöglichen es der europäischen Kapitalklasse, ihre Interessen überhaupt erst zu entwickeln und zu artikulieren sowie Konflikte zu bearbeiten. Hier zeigen sich drittens Momente der Organisation der herrschenden Klasse durch die EU-Staatsapparate. Dieser Prozess ist zwar europäisch geprägt, bezieht sich aber viertens nicht ausschließlich auf „europäische“ Kapitale, sondern auf einen transnationalen Machtblock, der z.B. auch indische Eliten einschließt.
Für das Forschungsprogramm zu europäischer bzw. internationaler Staatlichkeit liefern die obigen Ausführungen darüber hinaus zwei weitere Hinweise: Erstens erstreckt sich der europäische Staats-Zivilgesellschafts-Komplex über die EU-Grenzen hinaus. Er umfasst EU-Delegationen, Botschaften der Mitgliedsstaaten, Handelskammern und europäische TNK in Drittländern. Die Relevanz dieser „externen Knotenpunkte“ europäischer Staatlichkeit wird durch den jüngst eingerichteten Europäischen Auswärtigen Dienst sicher noch zunehmen. Zweitens unterstreichen die Initiativen der einzelnen Generaldirektionen der EU-Kommission deren Akteurscharakter, ein Aspekt, der in materialistischen Debatten, die auf den Staat als soziales Verhältnis fokussieren, oft zu kurz kommt (siehe zu dieser Kritik auch Sauer 2001: 114).
All das hat Folgen für emanzipatorische Kräfte und Kämpfe. Sie müssen stärker als bisher die europäische Ebene von Staatlichkeit in den Blick nehmen, ohne freilich den Nationalstaat oder die subnationale Ebene als Terrains für kapitalismuskritische Opposition aufzugeben. Auch auf europäischer Ebene muss es darum gehen, Kämpfe in der Zivilgesellschaft mit Interventionen in das System europäischer Staatlichkeit zu verbinden. Kurz: Um Politik im und gegen den Staat.
Literatur
Bieling, Hans-Jürgen (2010): Die Globalisierungs- und Weltordnungspolitik der Europäischen Union, Wiesbaden.
Binus, Gretchen (2010): Europäische Union. Konzernentwicklung und EU-Außenpolitik. Eine Studie zu Entwicklungstrends in wirtschaftlichen Schlüsselbereichen der EU. Studie im Auftrag der Franktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag, Berlin.
Brand, Ulrich/Görg, Christoph/Wissen, Markus (2007): Verdichtungen zweiter Ordnung. Die Internationalisierung des Staates aus einer neo-poulantzianischen Perspektive, in: Prokla 147. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 37:2; 217-234.
Brand, Ulrich (2009): Staatstheorie und Staatsanalyse im globalen Kapitalismus. Ein „neo-poulantzianischer“ Ansatz Internationaler Politischer Ökonomie, in: Hartmann, Eva/Kunze, Caren/ Brand, Ulrich (Hrsg.): Globalisierung, Macht und Ökonomie. Perspektiven einer kritischen Internationalen Politischen Ökonomie, Münster , 212-241.
Corporate Europe Observatory (2008): Global Europe. An Open Door Policy for Big Business Lobbyists at DG Trade, October, Brüssel.
Corporate Europe Observatory (2010): Caught in the act of reverse lobbying. EU Commission uses EU-India business summit and development funds to back its own big business agenda, Brüssel.
Corporate Europe Observatory/India FDI Watch (2010): Trade Invaders. How big business is driving the EU-India free trade negotiations, Brüssel/Delhi.
Deckwirth, Christina (2005): Die Konzernagenda in der EU-Handelspolitik. Zur Rolle europäischer Konzerne und ihrer Lobbygruppen in der WTO-Politik der Europäischen Union, Berlin.
Deckwirth, Christina (2010): Vom Binnenmarkt zum Weltmarkt. Die Liberalisierung und Globalisierung des europäischen Dienstleistungssektors, Münster.
Europäische Kommission (2006a): Ein wettbewerbsfähiges Europa in einer globalen Welt. Ein Beitrag zur EU-Strategie für Wachstum und Beschäftigung, Brüssel, 4.10.2006, KOM(2006) 567 endg.
Europäische Kommission (2006b): Commission Staff Working Document. Annex to the Communication from the Commission to the Council, the European Parliament, the European Economic and Social Commitee and the Committee of the Regions. Global Europe: Competing in the world, Brüssel, 4.10.2006, SEC(2006) 1230.
Europäische Kommission (2007): Das Globale Europa – Eine starke Partnerschaft zur Öffnung der Märkte für europäische Exporteure, Brüssel, 18.4.2007, KOM(2007) 183 endg.
Europäische Kommission (2008): Über die außenpolitische Dimension der Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung: Bericht über den Marktzugang und Festlegung des Rahmens für eine wirksamere internationale Zusammenarbeit bei der Regulierung, Brüssel, 16.12.2008, KOM(2008) 874 endg.
Europäische Kommission (2010): Handel, Wachstum und Weltgeschehen. Handelspolitik als Kernbestandteil der EU-Strategie Europa 2020, Brüssel, KOM(2010)612.
Gill, Stephen (1998): European Governance and New Constitutionalism. Economic and Monetary Union and Alternatives to Disciplinary Neoliberalism in Europe, in: New Political Economy 3:1, 5-26.
Jessop, Bob (1990): State Theory. Putting Capitalist States in their Place, Pennsylvania.
Sauer, Birgit (2001): Die Asche des Souveräns. Staat und Demokratie in der Geschlechterdebatte, Frankfurt/New York
Wissel, Jens (2007): Die Transnationalisierung von Herrschaftsverhältnissen. Zur Aktualität von Nikos Poulantzas’ Staatstheorie, Baden-Baden.
[1] Die englischen Texte wurden von der Autorin übersetzt.
[2] Zu den empirischen Auslassungen dieses Artikels gehören mögliche Konflikte über die Ausrichtung der EU-Handelspolitik zwischen verschiedenen Generaldirektionen der EU-Kommission, die Rolle nicht-weltmarktgängiger Kräfte und deren Integration, Desorganisation bzw. Marginalisierung durch die Kommission, Widersprüche zwischen Kapitalfraktionen und die Rolle der EU-Mitgliedsstaaten in der Ausgestaltung der Handelspolitik.
[3] Genauere Hinweise auf die Dokumente finden sich in Corporate Europe Observatory/India FDI Watch 2010 und Corporate Europe Observatory 2010.
[4] Dieser Prozess hat nicht nur eine Klassendimension, sondern auch eine geschlechtliche und rassistische, da das Verhältnis zwischen ressourcenstarken, internationalisierten Eliten (mehrheitlich weiß und männlich) und nicht weltmarktorientierten gesellschaftlichen Gruppen (mehrheitlich nicht weiß und weiblich) auch Ausdruck eines asymmetrischen Verhältnisses zwischen Geschlechtern und ethnisch-markierten Gruppen ist. Gleichzeitig fußen die Internationalisierung des Staates und des Kapitals auf der Ausbeutung dieser Gruppen (siehe Sauer 2001: 295ff.).
[5] Karel de Gucht während des Civil Society Dialogue, Brüssel, 23. Juni 2010.
[6] Europäische Kommission/Eurostat (2010): India. EU Bilateral Trade and Trade with the World, 29 November.
[7] Interview mit Adrian van den Hoven, Direktor für internationale Beziehungen beim europäischen Arbeitgeberverband, BusinessEurope, Brüssel, 31. März 2010.
[8] Interview mit Ansgar Sickert, Direktor der Fraport Airport Operations India und Mitglied im Rat der EBG, 11. Mai 2010.
[9] Delegation of the European Commission to India, Bhutan and Nepal: The Establishment of a European Business and Technology Centre (EBTC) in India for the European Business and Scientific Community. Guidelines for grant applications, EuropeAid/126-732/L/ACT/IN, 3.
[10] http://ec.europa.eu/europeaid/work/funding/index_en.htm.
[11] Eurochambres (2010): News April 2010, http://www.eurochambres.be
[12] Die Kommission verbreitet die Erfolge ihrer Marktzugangsstrategie in ihren Marktzugangs-Newslettern, siehe http://ec.europa.eu/trade/creating-opportunities/trade-topics/market-access/.
[13] Eurocommerce (2009): Eurocommerce Draft Action Plan. Briefing to the Steering Committee of 20/11/2009, p.25f.
[14] Interview mit Ralph Kamphöner, Seniorberater für internationalen Handel bei EuroCommerce, Brüssel, 7.4.2010.
[15] Wiedmann, Michael, Metro (2008): Market Acces Symposium „Opening Borders to Business“. Distribution services, presentation at the Market Acces Symposium „Opening Borders to Business“, Paris, 27.11.2008.
[16] Beispiel ist ein Brief des ehemaligen EU-Handelskommissars Peter Mandelson an BusinessEurope vom 18. März 2008. In einer handschriftlichen Notiz forderte Mandelson den Verband auf, die in den Verhandlungen umstrittene Frage der Zollreduktion im Güterhandel und die Öffnung der Dienstleistungsmärkte mit der Confederation of Indian Industries (CII) zu diskutieren.
[17] Im März 2009 forderte der damalige Generaldirektor der Generaldirektion Handel den NASSCOM Vorsitzenden auf, die ökonomische Elite in Indien stärker für die Freihandelsverhandlungen mit der EU zu mobilisieren und „starke Botschaften an seine Gesprächspartner in der indischen Regierung zu übermitteln“.
[18] Siehe das Statement: Last chance to prevent onslaught on people’s rights and livelihoods! Indian and European civil society groups call for an immediate halt to the India-EU trade negotiations, http://www.corporateeurope.org/global-europe/content/2010/10/call-halt-eu-india-fta-talks.
[19] Roundtable on EU-India Partnership: address by Chief Guest Ambassador Smadja, 1.11.2010, http://ec.europa.eu/delegations/india/press_corner/all_news/news/2010/20101101_en.htm.