1. Was heißt „postmoderner Linksradikalismus“?
Das hegemoniale Modell des Neoliberalismus hat, insbesondere seit der Finanzmarktkrise, deutlich sichtbare Risse bekommen. Zutreffend hat deshalb Frank Deppe kürzlich festgestellt, dass die „Systemfrage“ inzwischen nicht mehr nur von „unten“, sondern auch von „oben“ gestellt wird (Deppe 2012: 1), das heißt, auch die herrschenden Eliten beginnen, sich um den Fortbestand des kapitalistischen Systems Sorgen zu machen. Die von der Finanzmarktkrise ausgelösten globalen Verwerfungen haben unter anderem zu einer Renaissance der Kapitalismuskritik, ja sogar zu einer neuen Revolutions- und Kommunismusdiskussion geführt. Typisch dafür ist eine intellektuelle Strömung, die ich als „postmoderne Linke“ oder genauer „postmoderne Linksradikale“ bezeichnen möchte. Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine kohärente Strömung, deren Akteure sich auf ein gemeinsames Paradigma berufen oder einer bestimmten Bewegung oder Partei angehören, sondern um einen Diskurs, in dem von unterschiedlichen Punkten aus der Versuch unternommen wird, Probleme des heutigen Kapitalismus, aber auch der mit ihm verbundenen politischen und kulturellen Formen, neu zu formulieren und einer radikalen Kritik zu unterziehen. Dieser Diskurs eines „postmodernen Linksradikalismus“ wird unter anderen von Alain Badiou, Slavoj Žižek, John Holloway und Michel Onfray repräsentiert. Die Genannten stehen, sieht man von den beiden ersten Namen ab, nicht nur nicht in Verbindung zueinander, sondern würden wahrscheinlich auch ihre Charakterisierung als „postmoderne Linksradikale“ weit von sich weisen. Trotzdem halte ich diese Charakterisierung für gerechtfertigt. Warum?
Zwischen dem Mainstream jenes Denkens, das gemeinhin als „postmodern“ verstanden wird, und den von mir genannten Intellektuellen gibt es einige wesentliche Übereinstimmungen. Das gilt vor allem für die Kritik am Diskurs der Aufklärung, an der Idee eines geschichtlichen Fortschritts, für die „Dekonstruktion“ von Begriffen wie „Staat“, „Nation“ und „Klasse“, also von Begriffen, die als „identitär“ und „essentialistisch“ verworfen werden, oder für die „Dezentrierung“ des Subjekts als vernünftig handelndem Souverän von Geschichte und Gesellschaft (vgl. Kamper/van Reijen 1987; Welsch 1994).
Unterschiede zwischen den Vertretern des postmodernen Mainstreams und den „postmodernen Linksradikalen“ zeigen sich dagegen in folgenden Punkten:
Letztere lehnen den Kapitalismus als ökonomisches Ausbeutungssystem ohne jede Relativierung ab. Sie bestehen auf der Notwendigkeit einer Rebellion oder Revolution, die das bestehende gesellschaftliche System von Grund auf umwälzt und sie treten für eine kollektiven Emanzipation und/oder den Kommunismus als Perspektive authentischer linker Politik ein. Dabei weisen sie Parallelen zum traditionellen Linksradikalismus auf (vgl. Bock 1969), zu dessen Essentials eine rigorose Ablehnung der bürgerlichen Demokratie im Allgemeinen und des Parlamentarismus sowie der „reformistischen“ Parteien und Gewerkschaften im Besonderen gehören.[1]
Im Folgenden will ich die genannten „postmodernen Linksradikalen“, die international vor allem im Spektrum der Bewegungslinken und Globalisierungsgegner auf wachsende Resonanz stoßen[2], kurz vorstellen, charakteristische Aspekte ihres Denkens beleuchten und danach fragen, ob und inwieweit die politische Linke von ihnen Anregungen erhalten und etwas lernen kann.
2. Alain Badiou: Die „kommunistische Hypothese“
Alain Badiou wurde 1937 in Marokko geboren und stammt aus einem linken familialen Milieu. Der Vater war im französischen Widerstand („resistance“) aktiv und nach 1945 als Mitglied der sozialistischen Partei SFIO lange Jahre Bürgermeister von Toulouse. Alain Badiou, durch sein Herkunftsmilieu frühzeitig politisiert, trat schon sehr jung Anfang der sechziger Jahre in den linkssozialistischen PSU ein. Seine radikalen Anschauungen motivierten ihn zu dem Versuch, innerhalb des PSU eine maoistische Fraktion zu bilden (Badiou et al. 1970). Als Student der renommierten Elitehochschule „École normale supérieure“ (ENS) nahm er an Vorlesungen und Seminaren von Jacques Lacan und Louis Althusser teil. Später wurde er Dozent für Philosophie an der Reformuniversität Vincennes, aber erst 1999 gelang es ihm, eine Professur an der ENS zu erhalten.
Was sein Kommunismusverständnis betrifft, so begründet Badiou Kommunismus nicht historisch-materialistisch, sondern eher neoplatonistisch als „Wahrheitsregime“ (Badiou 2005a). Neben „Wahrheit“ erfüllt in seiner Konzeption der auf Martin Heidegger verweisende Begriff des „Ereignisses“ eine zentrale Funktion. Ein „Ereignis“ ist für Badiou der Einbruch („l’interruption“) der Wahrheit in das Seiende, also in die gegebene gesellschaftliche Ordnung, ihre Strukturen und Institutionen. Ein „Ereignis“ ist weder empirisch determiniert noch intentional herstellbar oder prognostizierbar. „Wahrheit“ meint eine radikale Differenz zur Vorherrschaft des Bestehenden, eine Differenz, die sich im Ereignis manifestiert, aber nicht aus den empirischen Besonderheiten einer geschichtlichen Situation abgeleitet werden kann. In der „Wahrheitsprozedur“ wird „die Treue zum Ereignis“ subjektiviert und damit politisch real. Dies aber ist nur möglich, wenn „die Treue zur Wahrheit“ des Ereignisses dessen „Singularität“ mit der Zukunft vermittelt.
Während der letzten Jahre hat Badiou die „kommunistische Hypothese“ als ein theoretisches Konzept entworfen, das sich um die eben genannten zentralen Begriffe herum aufbaut (Badiou 2011). Den Anlass und Ausgangspunkt für die „kommunistische Hypothese“ liefert erstens das Totalitarismusdogma und, so Badiou, der „Ereignisrevisionismus“ (Badiou/Žižek 2005b: 37) der „nouveaux philosophes“ (Bernard-Henry Lévy, André Glucksmann, Alain Finkielkraut u.a.) und anderer Parteigänger des modernen Antitotalitarismus, die wie der Historiker François Furet in der Französischen Revolution oder Stéphane Courtois im Kommunismus nur noch Manifestationen des Terrors sehen wollen. Zweitens setzt Badiou kritisch an den Rechtfertigungsideologien des „selbst-entfesselten liberalen“ und „postmodernen Kapitalismus“, insbesondere an dessen Verschleierungen durch die Formen eines „Parlamentaro-Kapitalismus“, an. Demgegenüber will er die „kommunistische Hypothese“ als „Politik der Wahrheit“ verteidigen und eine ideologische Entsorgung des Kommunismus als geschichtlich überholt und moralisch diskreditiert verhindern. Was heißt das genau?
Nach Badiou kann der Kommunismus nicht durch sein konkretes historisches Scheitern widerlegt werden, weil sein Wahrheitscharakter schlechthin unwiderlegbar sei; denn er versteht Kommunismus als ein Projekt im „Raum des möglichen Scheiterns“ und als „Existenz im Inexistenten“ (Badiou 2011: 33, 148), das sich einer Infragestellung durch eine Berufung auf die Macht der Faktizität entzieht. Das Scheitern des Kommunismus sei deshalb nicht absolut, sondern nur „relativ zu seiner Form“, also in seiner konkreten historischen Erscheinung, zu betrachten. Ähnlich wie Irrtümer in der mathematischen Forschung (Badiou selbst ist mathematisch hochgebildet) im weiteren Prozess zu Problemlösungen beigetragen haben, könne auch das konkrete Misslingen des Kommunismus dessen Wahrheitsgehalt zukünftig bestätigen. In der Pariser Kommune, der Oktoberrevolution, der chinesischen Kulturrevolution und im Mai 1968 sieht Badiou Beispiele für die „Wahrheit des Ereignisses“, welche die Universalität des Kommunismus konstituiert. Von der Philosophie und der durch sie zu begründenden Politik erwartet er, die „Treue zur Wahrheit des Ereignisses“ aufrecht zu erhalten und den Kampf um die Unterbrechung des Seienden fortzusetzen. Dabei macht er einen fundamentalen Unterschied zwischen „der Politik“ („la politique“) und „dem Politischen“ („le politique“), der seine gesamte politische Philosophie durchzieht: „die Politik“ interveniert als Praxis einer „Wahrheit des Ereignisses“ in „das Politische“, das die bestehenden institutionellen Herrschaftsstrukturen und -mechanismen organisiert und als Seiendes auf Dauer zu stellen versucht (Badiou 1985: 9-20). Wenn Badiou auf der Wahrheit des Kommunismus besteht, dann bedeutet das jedoch nicht, dass er diese Wahrheit mit den konkreten Formen identifiziert, die im Namen des Kommunismus historisch hervorgebracht wurden. Weder das Regime Stalins noch die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) nach 1945 entsprechen seiner „kommunistischen Hypothese“. Deshalb muss „die Politik“ unter den Bedingungen des heutigen Kapitalismus neue Wege beschreiten, indem sie die Universalität des Kommunismus mit „lokalen“ und „singulären Wahrheiten“ konkreter Kämpfe verknüpft (Badiou 2011: 173).
Versucht man den Ertrag der Überlegungen Badious für die Perspektiven linker Politik zu bilanzieren, so ist zunächst positiv hervorzuheben, dass er unbeirrt von allen konkreten historischen Fehlentwicklungen und ideologischen Affirmationen oder Negationen an der kontrafaktischen Idee des Kommunismus festhält und sich gegen alle Spielarten liberaler Theorien des Kapitalismus und der Demokratie als resistent erweist. Das ist angesichts des enormen materiellen und symbolischen Integrationsdrucks, der vom „postmodernen Kapitalismus“ ausgeht, eine bemerkenswerte intellektuelle Haltung, die Anerkennung verdient, weil sie gegen den wirkmächtigen Anschein systemischer Unausweichlichkeit die Möglichkeit grundsätzlicher Alternativen offen hält.
Kritisch ist dagegen anzumerken, dass Badiou eine idealistische Ontologie und quasi-religiöse Ethik zur Begründung des Kommunismus liefert.[3] Das zeigt sich unter anderem an der Widersprüchlichkeit seiner Beurteilung konkreter historischer Prozesse und Ereignisse, die er als Beispiele für die „Wahrheit des Ereignisses“ anführt. Im Gegensatz zur Behauptung Badious, dass die chinesische Kulturrevolution eine „wahre Neuschöpfung“ (Badiou 2011: 71), also eine Revolution im Sinne seines Begriffs von „Ereignis“ gewesen sei, weil sie auf eine fundamentale „Änderung der Subjektivität“ zielte, spricht eine empirische Analyse gegen diese Behauptung. Vielmehr handelte es sich in der Volksrepublik China während der Periode von 1966 bis 1976 nicht um eine Revolution, sondern um Kämpfe und Konflikte gegensätzlicher Akteure und Fraktionen („zweier feindlicher Linien“) innerhalb des „Blocks an der Macht“ (vgl. Hoffmann 1978). Der bloße Anspruch der „Revolutionären Garden“, das Bewusstsein der Massen revolutionieren zu wollen, garantiert nicht schon an und für sich eine revolutionäre Qualität der damaligen Ereignisse, die vielmehr die Entwicklung des Landes um Jahre zurückgeworfen und dem Ausbau sozialistischer Produktionsverhältnisse enormen Schaden zugefügt haben. Ähnlich problematisch fällt Badious Interpretation der Situation in Frankreich im Mai 1968 aus, wenn er unterstellt, dass damals die Bedingungen für eine revolutionäre Veränderung gegeben gewesen seien (Badiou 2011: 61). Die Tatsache, dass weder die Mehrheit der Arbeiterklasse noch gar der gesamten Bevölkerung 1968 bereit war, grundsätzlich mit der bestehenden Ordnung zu brechen und entsprechend kollektiv zu handeln, deutet Badiou – noch ganz dem seinerzeit verbreiteten ultralinken Klischee verhaftet – in einen angeblichen Verrat durch den PCF und die ihm damals nahe stehende Massengewerkschaft CGT um. Das hält einer sachlichen Analyse jedoch in keiner Weise stand (vgl. Salini 1968). Badious Kommunismusverständnis, das sich in seiner Unversöhnlichkeit gegenüber den zeitgenössischen Rechtfertigungen des Kapitalismus und der bürgerlichen Demokratie bewährt, tendiert immer wieder zu einem abstrakten Voluntarismus, wo es um Bedingungen und Möglichkeiten politischer Veränderungen geht. Das zeigt sich da besonders schroff, wo Badiou sich gegen den Staat wendet. Dieser ist für ihn der Inbegriff aller Unterdrückung und Verdinglichung, ein metastaseartiges institutionelles Geflecht des Seienden. Weder berücksichtigt er dabei die wie auch immer begrenzten Möglichkeiten sozialstaatlicher Funktionen innerhalb des Kapitalismus, noch fragt er danach, ob der Staat oder einzelne staatliche Institutionen unter bestimmten Bedingungen Eingriffe in die Mechanismen der Kapitalverwertung und des Marktes ermöglichen.[4] Da er ausschließlich auf eine repressive Funktion des Staatlichen fokussiert, vermag er über die Transformation einer „Politik der Wahrheit“ in politische Praxis nur vage Vorstellungen zu entwickeln. Letztere darf sich nicht in einer abstrakten Negation des Staates erschöpfen, wie gegenwärtig zum Beispiel die Auseinandersetzungen um einen gesetzlichen Mindestlohn beweisen.
3. Slavoj Žižek: Revolution als Aktualität
Slavoj Žižek wurde 1949 in Ljubljana in Slowenien geboren, wo er später die gleichnamige Psychoanalytische Schule gründete. Unter anderem beschäftigte er sich intensiv mit Hegel und Lacan. Später ging er nach Paris, wo er seine psychoanalytischen Studien bei Jacques-Alain Miller, dem Schwiegersohn von Jacques Lacan, fortsetzte. Seit 1992 Professor für Philosophie an der Universität Ljubljana hat er zahlreiche Gastprofessuren wahrgenommen und ist seit 2007 als Internationaler Direktor am Birkbeck Institute for the Humanities der Universität London tätig (vgl. Heil 2010: 9f.).
Mit Alain Badiou verbindet Žižek eine enge Freundschaft und wie dieser hält auch er rigoros an der Aktualität der Ideen der Revolution und des Kommunismus fest.[5] Ähnlich wie für Badiou ist für Žižek die Ablehnung des Totalitarismusdogmas der „nouveaux philosophes“ und die Zurückweisung des ideologischen Narrativs vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) einer der Ausgangspunkte seiner philosophisch-politischen Überlegungen (Žižek 2009: 19). Eine weitere Voraussetzung seines Denkens bildet die Auffassung, dass die gegenwärtige Krise des Kapitalismus nicht bloß eine korrigierbare Abweichung von der globalen Modernisierungsdynamik, sondern einen „Fehler im System als solchem“ (ebd.: 23) darstellt. Zentrale Felder der Kritik Žižeks bilden der Zusammenhang von Kapitalismus und Demokratie, insbesondere die Ideologie des „liberalen Multikulturalismus“ (Žižek 2009a: 68-80), sowie Theorien des Kapitalismus und der Demokratie, die sich selbst in einem linken Diskurs verorten, von Žižek aber als Verschleierung der wirklichen Verhältnisse bekämpft werden. Das soll an zwei Beispielen verdeutlicht werden.
Das erste Beispiel bezieht sich auf die Auseinandersetzung mit Antonio Negri, insbesondere mit dem Konzept der „Multitude“[6]. Gegen Negri und andere ihm nahe stehende Autoren erhebt Žižek folgende Einwände: Negri suggeriere einen bruchlosen Übergang des „Empire“ zu einer freien Gesellschaft, weil der Kapitalismus angeblich nur noch eine parasitäre Hülle der modernen Produktivkräfte, insbesondere der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien bilde. Indem er den systemischen Charakter kapitalistischer Ausbeutung ausblende, betreibe er einen technologischen Determinismus des kollektiven Emanzipationsprozesses. Die Darstellung des „Empire“ weise außerdem eine starke Affinität zu jener Ideologie aufgeklärter Eliten des internationalen Kapitals (wie etwa der Akteure der Davoser Weltwirtschaftsforen) auf, die Žižek ironisch als „kommunistischen Kapitalismus“ (ebd.: 157) bezeichnet, weil sie die Lösung kollektiver globaler Probleme auf der Basis eines modernisierungsfähigen Kapitalismus propagiere. Mit seiner Polemik trifft Žižek einen entscheidenden Schwachpunkt der „Empire“- und „Multitude“-Theorie, indem er deren Autoren zu Recht vorhält, den ökonomischen Ausbeutungscharakter des Kapitalismus durch eine anonyme und parasitäre Herrschaftsfunktion ersetzt zu haben, die nun angeblich durch die „Multitude“ allmählich abgelöst werde.
Das zweite Beispiel betrifft Žižeks Kritik an der Demokratietheorie von Claude Lefort, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, die unter dem Label „radikale Demokratie“ bekannt geworden ist (Laclau/Mouffe 1985). Mit wenigen Sätzen soll hier skizziert werden, was das Wesentliche der „radikalen Demokratie“ ausmacht. Ihre Autoren gehen davon aus, dass der Raum der Demokratie niemals ganz geschlossen werden kann, da kein politischer Akteur das Universelle vollständig repräsentieren könne. Letzteres bleibe immer eine leere Stelle, die nur vorübergehend hegemonial besetzt werden könne. Deswegen kann der Kampf um Hegemonie kein Ende finden, sondern setzt sich als politischer Antagonismus stets aufs Neue fort, es sei denn, der Raum der Demokratie würde durch ein totalitäres Regime geschlossen. Das Attribut „radikal“ hat keine inhaltliche politische Bedeutung, sondern will die absolute Unabschließbarkeit von Demokratie hervorheben.
Žižek wirft der Theorie der „radikalen Demokratie“ vor, sie suche einen „bequemen Ausweg“ (Žižek 2002: 167) aus dem Dilemma, einerseits uneingeschränkt Demokratie sein zu wollen, andererseits aber immer etwas Bestimmtes, zum Beispiel den Kommunismus, als nicht-demokratisch ausschließen zu müssen. Auch widerspricht Žižek dem Primat des Politischen in der Theorie der „radikalen Demokratie“, insofern Demokratie sich nicht selbst konstituiere, sondern immer „die Form einer Staatsmacht von Produktionsverhältnissen“ (ebd., 168) repräsentiere, die durch „fundamentale soziale Antagonismen“ und „Klassenkampf“ determiniert werde. In einer bewusst polemischen Übertreibung ordnet Žižek die Vertreter der „radikalen Demokratie“ sogar in eine Kontinuitätslinie politischen Denkens ein, die von Stalin über Laclau/Mouffe und Hardt/Negri bis zu den Verfechtern eines „dritten Weges“ (wie Anthony Giddens) reiche. Wie erklärt sich diese erstaunliche Konstruktion? Die Antwort Žižeks läuft darauf hinaus, dass allen genannten Theoretikern die Vorstellung gemeinsam sei, dass sie an die Möglichkeit eines evolutionären Übergangs zu einem höheren Zustand der Gesellschaft glaubten und die Singularität der Revolution als „Wahrheitsereignis“ im Sinne von Alain Badiou negierten.
Den Theorien, die sich selbst als links verstünden, aber die Widersprüche des Kapitalismus und der Demokratie letztlich verharmlosten, setzt Žižek im Blick auf die Gegenwart die These von vier Antagonismen des globalen Kapitalismus entgegen: 1. die ökologische Krise, 2. der Widerspruch zwischen kapitalistischem Privateigentum und „geistigem Eigentum“, 3. der Gegensatz zwischen traditionellen ethischen Prinzipien (z. B. in der Bioethik) und wissenschaftlich-technischer Innovation und 4. neue globale Formen von Apartheid (Žižek 2009a: 252ff.) .
Auf der Suche nach einem Akteur, der in dieses Widerspruchsszenario zu intervenieren vermag, stößt Žižek auf die Entstehung einer neuen globalen „Gegenklasse“ der Slumbewohner in Megastädten wie Mexiko-City oder Lagos. Diese neue „Gegenklasse“ trete heute an die Stelle des traditionellen Proletariats und repräsentiere den „Anteil der Anteillosen“ (ebd.: 242) und „Nicht-dazu-Gehörigen“, also die vollständig „Ausgeschlossenen“, die sich vom traditionellen Proletariat und dessen integraler Position im Kapitalismus unterscheiden. Weil sie die an den „homo sacer“ Giorgio Agambens (Agamben 2002) erinnernden „lebendigen Toten“ des „modernen Kapitalismus“ sind und dessen radikale Negation verkörpern, wird sich der Kampf um Hegemonie zwischen ihnen und den ökonomisch und sozial Integrierten abspielen. Um diesen Kampf zugunsten der „Anteillosen“ und „Ausgeschlossenen“ entscheiden zu können, müssen vier Prinzipien rigoros befolgt werden, nämlich „egalitäre Gerechtigkeit“, „Schrecken“ (im Sinne drakonischer Zwangsmaßnahmen), „Voluntarismus“ (Kollektivität der Entscheidungen) und „Vertrauen in das Volk“ (Žižek 2009a: 319). Diese Prinzipien erinnern allerdings eher an das jakobinische Ethos des Tugendterrors als an Merkmale marxistischer Revolutionstheorie, auf die sich Žižek immer wieder beruft.
Wie lassen sich seine oft zwischen assoziativen Deutungssprüngen und argumentativer Analyse wechselnden Einlassungen beurteilen und inwieweit bringen sie dem linken Diskurs einen Gewinn?
Wie Badiou verdient auch Žižek für seine kompromisslose Ablehnung aller Spielarten liberaler Ideologie Anerkennung und wie Badiou hält er an der Überzeugung fest, dass trotz des konkreten Scheiterns des sozialistischen Projekts dessen Notwendigkeit fortbesteht. Seine Kritik beispielsweise an Negri deckt unnachsichtig die Mängel eines Denkens auf, das sich radikal und revolutionär gebärdet, aber in seiner Konsequenz nicht einmal das Niveau einer pragmatischen reformistischen Politik erreicht.
Das Problem des Staates und der Staatlichkeit handelt Žižek weniger abstrakt ab als Badiou und erkennt an, dass staatliches Machtpotential auch für Zwecke genutzt werden kann, die der Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit förderlich sind. So befürwortet er die Bildung bewaffneter Einheiten in venezuelanischen Favelas mit Hilfe des Staates und konfrontiert potentielle Kritiker mit der einleuchtenden Frage, ob es etwa besser sei, auf mehr soziale Gerechtigkeit zu verzichten, nur weil sie durch staatliche Machtmittel gewährleistet werde (ebd.: 263f.).
Problematisch ist dagegen sein Revolutionsverständnis insofern, als er, auf die Situation Lenins vor der Oktoberrevolution verweisend, „Hoffnungslosigkeit“ (Žižek 2002: 15) geradezu als die eigentlich adäquate Voraussetzung einer Revolution mystifiziert und so den weit verbreiteten Vergeblichkeitsdiskurs über Möglichkeiten und Sinn von Revolutionen mit einer voluntaristischen Gegenposition beantwortet, die zusätzlich durch sein ambivalentes, zwischen der symbolischen und realpolitischen Ebene hin- und her schwankendes Verständnis von Gewalt belastet wird (Žižek 2009b). Auch die Berufung auf die globalen Slumbewohner als potentiell revolutionäres Subjekt wirft Fragen auf. Reproduziert er hier nicht jene Aporien, die bereits die „Randgruppentheorie“ Herbert Marcuses (Marcuse 1967) aufwies, als sie einen abstrakten Gegensatz zwischen der ideologischen Reinheit der Marginalisierten und „drop outs“ einerseits und den ideologisch scheinbar unwiderruflich ins System Integrierten andererseits unterstellte?
4. John Holloway: Schrei der Empörung
John Holloway, Philosoph und Politikwissenschaftler, wurde 1947 in Dublin geboren. Die Entwicklung seines Denkens wurde u.a. durch Georg Lukács, Ernst Bloch und Theodor W. Adorno, aber auch vom italienischen Operaismus beeinflusst. Mehrere Jahre wirkte er an der „Open Marxism School“ mit, einem linken intellektuellen Netzwerk, das mit Namen wie Richard Gunn, Werner Bonefeld und Kosmas Psychopedis verbunden ist und Berührungspunkte mit der „Neuen Marx-Lektüre“ in Deutschland aufweist. Seit den neunziger Jahren lebt Holloway in Mexiko, wo er mit den Zapatistas zusammenarbeitete. Heute lehrt er an der „Universidad Autónoma de Puebla“ in Mexiko.
Sein international ein starkes Echo auslösendes Buch „Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen“ („Change the World Without Taking Power“) beginnt mit „dem Schrei“ als existentiellem Ausdruck der Empörung über Herrschaft, Ausbeutung, Entfremdung und Unrecht (Holloway 2002: 10-20). Die diesem „Schrei“ entsprechende kollektive Praxis ist „das Tun“, von dem Holloway eine „praktische Negation“ der bestehenden Verhältnisse erwartet. Für den Kapitalismus ist nach Holloway allerdings das Bestreben kennzeichnend, den „Fluss des Tuns“ mittels instrumenteller Vernunft vollständig in eine Totalität des „Getanen“, also der Verdinglichung, zu verwandeln. Um das zu erklären, greift er auf den Marxschen Begriff des „Fetischcharakters“ zurück und setzt das „Getane“ mit einem permanenten Prozess der Fetischisierung gleich. Ihm müssen, wie Holloway fordert, die Unterworfenen ihre Kreativität als „Anti-Macht“ entgegensetzen, wenn sie sich befreien wollen. Da aber auch die Unterworfenen von Fetischisierung nicht unberührt bleiben, sei es eine Illusion zu glauben, die entfremdende Totalität des „Getanen“ durch Kräfte aufheben zu können, die gleichsam von außen in die Gesellschaft eingreifen. So hätten Lukács, Adorno und Marcuse jeweils auf ihre Weise versucht, das System der Herrschaft von außen in Frage zu stellen: nämlich Lukács mit der allwissenden Partei des Proletariats, Adorno mit dem solitären kritischen Intellektuellen und Marcuse mit den angeblich revolutionären „Randgruppen“ (ebd.: 102-107). Als revolutionäres Subjekt kommt, so Holloway, aber auch die heutige Arbeiterklasse nicht mehr in Frage. Ihre Funktion sei in der bisherigen marxistischen Theorie auf die Produktionssphäre reduziert worden. Das „Tun“ als Basis und Ausdruck des Widerstandes gegen den Kapitalismus gehe aber qualitativ und quantitativ unendlich weit über Arbeit und Produktion hinaus. Deshalb konstituiere sich das zukünftige revolutionäre Subjekt nicht mehr als Arbeiterklasse, sondern als unübersehbare Vielfalt eines „Undefinierbaren“ (ebd., 172) und dementsprechend sei der „Kampf um den Kommunismus“ weder inhaltlich noch zeitlich bestimmbar und begrenzbar.
Im Unterschied zu „Die Welt verändern...“ fokussiert Holloway in „Kapitalismus aufbrechen“ („Crack Capitalism“) auf das Problem der „abstrakten Arbeit“ (Holloway 2010). Dieser bekanntlich von Marx stammende Begriff steht nun bei Holloway für den Prozess der Unterwerfung von Mensch und Natur unter die Verwertungslogik des Kapitals. „Abstrakte Arbeit“ trenne die Lohnarbeit von anderen Tätigkeiten und schaffe so die Arbeiterklasse als Personifizierung und Charaktermaske des Kapitalverhältnisses. An dieser Stelle versucht Holloway, eine feministische Perspektive in seine Argumentation einzubauen. Zwar bringe die Charaktermaske „abstrakter Arbeit“ den Typus des männlichen Arbeiters hervor, aber „abstrakte Arbeit“ könne die Fülle schöpferischen „Tuns“ niemals vollständig absorbieren und lasse sich folglich auch nicht auf die Identität des männlichen Arbeiters reduzieren. Schöpferisches Tun sei vielmehr weiblich und deshalb verdecke die Maske der „abstrakten Arbeit“ nicht den Menschen an sich, der ja allgemein männlich konnotiert sei, sondern die „mulier abscondita“, die „verborgene Frau“. Sie nämlich repräsentiere als „Tätige“ die Gesamtheit der latenten kreativen Möglichkeiten, deren Verwirklichung der Kapitalismus unterdrücke: „Der Tätige hat nicht dasselbe Geschlecht wie der Arbeiter. Tätigsein ist ein viel reichhaltigerer Begriff, und verweist eher auf die vielfältigen Fertigkeiten und Tätigkeiten, die traditionell mit Frauen verbunden sind, denn auf die engere, eingleisige Tätigkeit, die für Männer typischer ist. Wenn wir der Tätigen ein Geschlecht zuschreiben müssen, dann sollten wir von ihr sicherlich als einer ‘Sie’ denken, nicht als einem ‘Er’: mulier abscondita“. (Ebd.: 217)
Die Bewegung des „Aufbrechens“ des Kapitalismus drückt sich nach Holloway praktisch in einer indefiniten Vielfalt des gegen die „abstrakte Arbeit“ aufbegehrenden Tuns aus: Es reicht vom freundschaftlichen Kuchenbacken für die Nachbarn bis zu den Aktionen der „Landlosen“ in Brasilien oder der „piqueteros“ in Argentinien. Obwohl also das kollektive „Tun“ äußerst heterogen sei, befürchtet Holloway nicht dessen Zerfall in zahllose isolierte Mikropolitiken, weil sich alle Akte des „Tuns“ gleichermaßen gegen die Totalität der „abstrakten Arbeit“ richteten. Dabei betont Holloway immer wieder, dass es nicht darum geht, den Kapitalismus durch eine andere Totalität zu ersetzen; denn diese würde die Zwänge des Kapitalismus nur wiederholen. Statt den Kapitalismus immer wieder zu reproduzieren, komme es vielmehr darauf an, anders zu leben: „Das ist Revolution: aufhören, den Kapitalismus zu machen, und stattdessen etwas anderes machen.“ (Ebd.: 236) Revolution wird so zu einem auf Handeln der Subjekte beschränkten Prozess, der von den strukturellen und institutionellen Bedingungen der zu revolutionierenden Gesellschaft abgekoppelt zu sein scheint. Damit nimmt Holloway allerdings eine folgenreiche Umdeutung des Revolutionsbegriffs vor, wie ihn Marx verstanden hat; denn für letzteren war die Idee eines qualitativen Bruchs mit der vorangegangenen Gesellschaftsformation und ihrem spezifischen systemischen Charakter konstitutiv.
Was überzeugt an Holloway’s Argumentation, was ruft Widerspruch hervor?
Holloway verfügt über ein entwickeltes Sensorium für die Relevanz lebensweltlicher Bedürfnisse als Elemente und Triebkräfte des Kampfes gegen Unterdrückung und Entfremdung. Zu Recht begreift er die Selbstveränderung der Subjekte als eine notwendige Voraussetzung gesellschaftlicher Veränderung. Zustimmen kann man auch seiner Vorstellung, dass es im Kampf um Befreiung keine privilegierten Akteure, geschweige denn Eliten, mehr geben kann, da alle Handlungen der „kreativen Anti-Macht“ prinzipiell gleichwertig seien.
Entschieden zu kritisieren sind dagegen die epistemologischen Prämissen Holloway’s und sein Wissenschaftsverständnis. So hält er begriffliche sozialwissenschaftliche Systematisierung a priori für einen Ausdruck verdinglichten Denkens und eines identitären Reduktionismus. Immer wieder wendet er sich dabei gegen Versuche im linken Diskurs, den Begriff der Arbeiterklasse wissenschaftlich zu definieren und sie analytisch von anderen sozialen Klassen und Kategorien zu unterscheiden, was er schon an und für sich für einen Akt intellektueller Barbarei hält. Wie aber linke Politik ohne analytische Kategorien und empirische Befunde auskommen kann, will sie nicht in einen Zustand bloßer Spekulation verfallen, kann Holloway nicht befriedigend beantworten, ganz abgesehen davon, dass er selbst in einer großzügigen Weise mit Kategorien umgeht, die Fragen aufwirft. So fällt seine eigenwillige Interpretation des Marxschen Begriffs der „abstrakten Arbeit“ auf, der ja bei ihm eine zentrale Rolle spielt. Während nämlich für Marx „abstrakte Arbeit“ zunächst nicht mehr und nicht weniger als der ökonomische Begriff für die wertmäßige Vergleichbarkeit der auf dem Markt getauschten Waren durch das Maß gesellschaftlicher Arbeitszeit ist (Marx 1969: 52ff.), deutet Holloway „abstrakte Arbeit“ in eine Metapher allgemeiner Entfremdung um.
Völlig unhaltbar ist außerdem seine Verortung der Arbeiterbewegung am Pol der „abstrakten Arbeit“. Er setzt damit Arbeiterbewegung und Kapitalistenklasse faktisch als kollektive Agenten „abstrakter Arbeit“ und damit von Entfremdung gleich. Die konkrete Geschichte der Arbeiterbewegung, die Holloway allerdings keines Blickes würdigt, widerlegt, wie die internationale Forschung beweist, die fatale Behauptung, die Arbeiterbewegung sei immer nur eine Lohnmaschine gewesen, und liefert statt dessen ein Bild eindrucksvoller sozialer, politischer und kultureller Vielfalt.
Wie auch bei Badiou fällt Holloway’s Kritik am Staat einseitig und abstrakt aus. Weder historisch noch systematisch vermag er die Entwicklung und Funktion des Staates zu beschreiben, der bei ihm ausschließlich Züge eines postmodernen Leviathans annimmt (Holloway 2002: 110-118). Die umfangreiche internationale Forschung über die Rolle des Staates nimmt er dagegen entweder nicht zur Kenntnis oder kennt sie überhaupt nicht. Kritikbedürftig ist schließlich auch, dass Holloway den von ihm vorgeschlagenen Begriff des „Aufbrechens“ mit dem Begriff der „permanenten Revolution“ besetzt, ohne sich um die unterschiedlichen Bedeutungsgehalte in beiden Fällen zu kümmern.
4. Michel Onfray: Libertärer hedonistischer Antikapitalismus
Michel Onfray wurde 1959 in Argentan in der Normandie geboren und stammt aus bescheidenen Verhältnissen. Er war zunächst Philosophielehrer an einem Gymnasium, schied aber unter Protest gegen den staatlich vorgeschriebenen Philosophieunterricht aus dem Schuldienst aus. Sein Denken ist beeinflusst vom antiken Hedonismus, von Nietzsche, dem revolutionären Syndikalismus Georges Sorels, von Guy Debord, Michel Foucault und Gilles Deleuze. 2002 hat Onfray in Caen/Normandie eine unabhängige „Volksuniversität“ („Université populaire“) aufgebaut. Im Mittelpunkt seines Denkens steht ein intellektuelles Engagement, das einen libertären, hedonistischen Individualismus mit Antikapitalismus und radikaler Staatskritik verknüpfen will.
Onfrays philosophische Position baut auf der Leidensfähigkeit und den Glücksmöglichkeiten des menschlichen Körpers auf.[7] Letzteres sei aber mit der kapitalistischen Ökonomie ganz unvereinbar und kennzeichne so den für die Gegenwart konstitutiven Widerspruch in der Gesellschaft; denn die gegenwärtige Ökonomie des Kapitalismus werde – dieser Gedanke erinnert an Max Weber, den Onfray jedoch nicht erwähnt – von der „Askese“ des Profistrebens angetrieben, das sich die Vitalität des Menschen einverleibe. Insofern bezeichnet Onfray die kapitalistische Ökonomie auch als „kannibalisch“. Zu ihr biete jedoch der Marxismus keine echte Alternative, weil er nur ein neues Kontrollsystem an die Stelle des kapitalistischen setzen wolle. Statt dessen beruft sich Onfray hier auf die „économie générale“ („allgemeine Ökonomie“) von Georges Bataille (1897-1962), die ausdrücklich dem Lustprinzip und den exzessiven Bedürfnissen des Menschen gewidmet sei, die der Kapitalismus als dysfunktional ausmerzen wolle (Onfray 2001: 122ff).
Die libertäre Haltung Onfrays beruht auf der Mentalität einer „linken Mystik“ (ebd.: 132ff) sowie der intellektuellen Orientierung an einem „linken Nietzscheanismus“ (ebd.: 176), der durch die Ideen vor allem von Michel Foucault und Gilles Deleuze inspiriert ist und, wie Onfray meint, seit Mai 1968 noch immer seiner Vollendung harre. Allerdings sei der „libertäre Überhumanismus“, wie sich Onfray unter Anspielung auf Nietzsche ausdrückt (ebd.: 183), ohne „epistemologischen Bruch“ einerseits mit dem Marxismus und andererseits mit dem traditionellen Anarchismus eines Bakunin nicht möglich gewesen. Der in beiden Strömungen angeblich gleichermaßen vorhandenen Fixierung auf den Staat setzt Onfray die Vorstellung einer „Mikrophysik der Macht“ (Michel Foucault) entgegen, da kapitalistische Modernisierung zu einer „Kontrollgesellschaft“ (Michel Foucault) ohne Machtzentrum geführt habe. Sie lasse sich nicht mehr, wie vom Marxismus und traditionellen Anarchismus behauptet, mit der Logik des „Staatsstreichs“ überwinden, sondern nur durch eine „Revolutionierung der Individuen“ (ebd.: 201). Zukünftig müsse man, um mit Gilles Deleuze zu sprechen, „zwischen der Zukunft der Revolutionen in der Geschichte und der Revolutionierung der Menschen“ unterscheiden. Letztere voranzutreiben, ist das erklärte Ziel Onfrays.
In diesem Zusammenhang räumt er der Kultur eine eminente Bedeutung in modernen Gesellschaften ein, der ein libertäres politisches Engagement unbedingt Rechnung tragen müsse. Deshalb fordert er die Verwirklichung einer „generalisierten Ästhetik“ und einer „kritischen Kultur“, die gegen den mächtigen Widerstand von Konformismus, Systemloyalität und Manipulation in allen gesellschaftlichen Bereichen verankert werden müsse (ebd.: 231-261).
Aus seinen theoretischen Überlegungen leitet Onfray folgende politische Perspektive ab: Es komme vor allem darauf an, den revolutionären Syndikalismus von Georges Sorel (1847-1922) zu aktualisieren[8], weil dessen Substanz im unbedingten Willen zum „unaufhörlichen Kampf“ gegen Kapitalismus und autoritäre Herrschaft bestehe. Praktisch könne man heute an diesen revolutionären Syndikalismus anknüpfen, indem man Aktionen wie Leistungsverweigerung in den Betrieben, Warenboykott, Verbraucherwiderstand und Sabotage durchführe. In den sogenannten „coordinations“, die sich als Basisorgane der Streikenden während der großen Streikbewegung 1995 in Frankreich bildeten, sieht Onfray konkrete Organisationsformen, die jenseits der Gewerkschaften einen „wahrhaft subversiven Syndikalismus zu neuem Leben erwecken“ (ebd.: 281) und so die Tradition des revolutionären Syndikalismus der „direkten Aktion“ in der Gegenwart fortsetzen könnten.
Wie lassen sich Onfrays Überlegungen zusammenfassend bilanzieren?
Wie Holloway hebt auch er die Bedeutung subjektiver Erfahrungen und Bedürfnisse für eine antikapitalistische Praxis hervor. Darin kann man ihm ebenso zustimmen wie seiner Erkenntnis, dass Kultur zu einem wichtigen Feld des Kampfes um gesellschaftliche Hegemonie geworden ist, weil hier die systemkonforme Zurichtung der Individuen besonders wirksam betrieben wird.
So viel für die von Onfray emphatisch verteidigte Rolle der Autonomie der Individuen spricht, so löst seine Tendenz zur Verabsolutierung individuellen Lustgewinns als der angeblich primären politischen Handlungsressource jedoch Widerspruch aus, weil ein längerfristiges linkes Engagement nicht nur die Fähigkeit zum Lebensgenuss, sondern unter Umständen auch das genaue Gegenteil erfordert, nämlich die Fähigkeit zur Einschränkung, zum Verzicht und zur Selbstdisziplin. Nach dem Mai 1968, der Onfray besonders lieb und teuer ist, hat sich an der Karriere nicht weniger einstiger linker Aktivisten gezeigt, dass bald eintretende Frustration und Anpassung an die etablierten Verhältnisse in der vorangegangenen Verabsolutierung des Hedonismus vorprogrammiert waren.
In Anlehnung an Foucault, von dem er sich neben Deleuze vor allem inspiriert fühlt, spricht Onfray von einer Heterogenität einer Macht ohne Zentrum. Diese Sichtweise ist eine Vereinseitigung; denn in modernen kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaften bestehen Macht und Herrschaft sowohl aus dezentrierten netzartigen Strukturen und ihren diffusen Wirkungen als auch aus klar lokalisierbaren Zentren wie den staatlichen und militärischen Machtapparaten sowie den „global players“ der kapitalistischen Wirtschaft (z.B. industrielle Großkonzerne, Großbanken, „institutionelle Investoren“ und Ratingagenturen wie Standard & Poor’s oder Moody’s).
Schließlich reicht Onfrays Hinweis darauf, dass individuelles Handeln durch einen gleichsam emotional ansteckenden „altruistischen Individualismus“ (Albert Camus)[9] vergemeinschaftet werden könne (ebd.: 287), keineswegs aus, um das schwierigen Problem einer organisierenden Vermittlung der unterschiedlichen linken Bewegungen, Initiativen und Akteure praktisch lösen zu können.
6. Schlussbemerkung
Intellektuelle wie Badiou, Žižek, Holloway und Onfray liefern, so sehr sie sich untereinander auch im Einzelnen unterscheiden mögen, dem heutigen Diskurs der Linken eine Reihe diskussionswürdiger Anregungen. Aber ihre Positionen offenbaren auch gravierende Defizite. Sie liegen sowohl in der Widersprüchlichkeit ihrer epistemologischen und methodischen Voraussetzungen als auch in den Schwierigkeiten, das, was sie denken, mit politischen Perspektiven in Verbindung zu bringen, die sich an der empirischen Wirklichkeit bewähren können. Darin spiegelt sich ein spezifisches Dilemma ihrer Situation als kapitalismuskritische Intellektuelle unter den heutigen Bedingungen wider. Einerseits beanspruchen sie, die Welt des Kapitalismus radikal zu kritisieren, aber andererseits fehlt ihrer Kritik der entscheidende „link“ zu einer politischen Praxis, die an den konkreten Widersprüchen und krisenhaften Entwicklungen der modernen kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft anknüpft. Insofern sind die hier berücksichtigten Vertreter eines postmodernen Linksradikalismus letztlich auch bloß Philosophen, die „die Welt nur unterschiedlich interpretieren“, zu ihrer praktischen Veränderung aber nur wenig beitragen können, obwohl gerade das ihr erklärtes Ziel ist.
Literatur
Agamben, Giorgio, 2002: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main
Badiou, Alain et al., 1970: Contribution au problème de la construction d’un parti marxiste-léniniste de type nouveau, Paris
Badiou, Alain, 1985: Peut-on penser politique?, Paris
Badiou, Alain, 2005: Das Sein und das Ereignis, Berlin
Badiou, Alain/ Slavoj Žižek, 2005: Philosophie und Aktualität. Ein Streitgespräch, Wien
Badiou, Alain, 2011: Die kommunistische Hypothese, Berlin
Bock, Hans Manfred, 1969: Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 – 1923, Meisenheim am Glan
Camus, Albert, 1953: Der Mensch in der Revolte, Reinbek bei Hamburg
Deppe, Frank, 2012: „nämlich die Systemfrage stellen“, Marburg (unveröff. Text).
Desai, Radhika, 2012: Kleinbürgerphantasien. In: junge Welt, Nr. 145, 25. Juni, S.10.
Hardt, Michael/Antonio Negri, 2002: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/New York
Heil, Reinhard, 2010: Zur Aktualität von Slavoj Žižek. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden
Hoffmann, Rainer, 1978: „Kampf zweier Linien“, Stuttgart
Holloway, John, 2002: Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, Münster
Holloway, John, 2010: Kapitalismus aufbrechen, Münster
Kamper, Dietmar/Willem van Reijen (Hrsg.), 1987: Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne, Frankfurt am Main
Laclau, Ernesto/Chantal Mouffe, 1985: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, 3. Aufl., Wien
Lenin, W.I., 1965: Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus: In: ders.: Ausgewählte Werke, Band III, Berlin (DDR), S.389 – 472.
Marchart, Oliver, 2010: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin
Marcuse, Herbert, 1967: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied und Berlin
Marx, Karl, 1969: Das Kapital. Erster Band, Berlin (DDR)
Negri, Antonio und Raf Valvola Scelsi, 2007: Goodbye Mister Socialism, Paris
Onfray, Michel, 1993: Philosophie der Ekstase, Frankfurt/New York und Paris
Onfray, Michel, 2001: Der Rebell. Plädoyer für Widerstand und Lebenslust, Stuttgart
Salini, Laurent, 1968: Mai des prolétaires, Paris
Welsch, Wolfgang (Hrsg.), 1994: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, 2. durchgesehene Aufl., Berlin
Žižek, Slavoj, 2002: Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, Frankfurt am Main
Žižek, Slavoj, 2009a: Auf verlorenem Posten, Frankfurt am Main
Žižek, Slavoj, 2009b: Violence. Six Sideways Reflections, London
* Diesem Text liegt ein Vortrag zugrunde, den ich am 20. März 2012 im Rahmen des 5. Winterkolloquiums der Heinz-Jung-Stiftung in Biedenkopf bei Marburg gehalten habe.
[1] In seiner bekannten Schrift „Der ‘linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ hat W.I. Lenin 1920 die Defizite des Linksradikalismus grundlegend kritisiert (vgl. Lenin 1965: 389-472).
[2] So stieß die Konferenz „Die Idee des Kommunismus“, die 2009 unter Teilnahme u.a. von Alain Badiou und Slavoj Žižek in London stattfand, auf eine unerwartet große Resonanz (vgl. Desai 2012: 10).
[3] Diesen Gesichtspunkt betont zu Recht Oliver Marchart in seiner sehr lesenswerten Studie „Die politische Differenz“ (vgl. Marchart 2010: 172ff.).
[4] Entweder ist ihm die gesamte Diskussion über die möglichen oder tatsächlichen sozialstaatlichen Funktionen des Staates und der damit verbundenen Differenzierungen des Kapitalismus (z.B. der „varieties of capitalism“) unbekannt oder er hält sie für a priori indiskutabel. Beides wäre gleichermaßen zu kritisieren.
[5] Žižek fordert dazu auf, „Lenin zu wiederholen“, und zwar in dem Sinne, dass, wie auch Badiou denkt, die Revolution unabhängig von bestimmten empirischen Bedingungen, immer aktuell sei.
[6] Žižek bezieht sich dabei konkret auf Negri/Scelsi 2007. Das Erscheinen von „Empire“ (Hardt/Negri 2002) hatte er noch überschwänglich als das „Kommunistische Manifest für unsere Zeit“ gefeiert.
[7] Zur philosophiegeschichtlichen Kontextualisierung seiner theoretischen Prämissen vgl. Onfrays Buch über „Philosophie der Ekstase“ (Onfray 1993).
[8] Onfray beruft sich neben Sorel auch auf andere Repräsentanten des Anarchismus und Anarchosyndikalismus wie Pierre-Joseph Proudhon, Auguste Blanqui und Fernand Pelloutier.
[9] Onfray stütz sich auf hier auf Albert Camus „Der Mensch in der Revolte“ (Camus 1953), das bei seinem Erscheinen unter den französischen Intellektuellen zu heftigen Kontroversen führte.