Den Hintergrund der zunehmenden Beschäftigung mit Marx in der Gegenwart bildet die aktuelle Situation des Kapitalismus. Wir erleben seit 2007 die seit Jahrzehnten schwerste und anhaltende Weltwirtschaftskrise mit einem riesigen Finanzdebakel – Ausdruck der Systemkrise des Kapitalismus. Und wir erleben mit neuen Kräftekonstellationen in der Welt zunehmende internationale Spannungen und kriegerische Auseinandersetzungen sowie neue, die gesamte Menschheit bedrohende Probleme wie Armut, Hunger, Klimawandel. Für viele Menschen ist diese Situation nicht fassbar oder erklärbar.
Wenn man daher die heutigen Verhältnisse grundsätzlich verstehen will, ist die Beschäftigung mit Marxens Ideen und Theorien, vor allem die Kenntnis seiner historisch-dialektischen Methode, nach wie vor von zentraler Bedeutung. Und nicht nur das. Die marxistische Analyse des Kapitalismus in seinen innergesellschaftlichen und internationalen Dimensionen hatte über Jahrzehnte Tradition, wenn auch mit Defiziten und Verengungen behaftet. Aber die Zeit ist reif, sie wieder produktiv zu machen und zu fragen, was von den früheren Erkenntnissen noch Bestand hat und weiterentwickelt werden sollte.
Für Uwe-Jens Heuer war die Organisierung einer marxistisch orientierten Theoriebildung immer ein wichtiges Anliegen. In seinem Sinne sollten wir uns deshalb auch den neuen Realitäten zuwenden.
Zur Frage „Wie sollte der Marxismus erneuert werden?“
Ein greifendes gesellschaftstheoretisches Verständnis setzt eine fundierte Analyse der gegebenen kapitalistischen Welt voraus. Sie hat sehr verschiedene Bereiche zu bedienen. Thomas Metscher ist auf der Veranstaltung „Marxismus kontrovers“ im April dieses Jahres aus philosophischer Sicht auf den „Marxismus als Denken des Gesamtzusammenhangs“ eingegangen. Für die heutige Zeit geht er von einem weltgesellschaftlichen Charakter als konstitutiven Bestandteil des Imperialismus aus und charakterisiert den „heute nicht unumstrittenen“ Begriff des Imperialismus als Phase einer bestimmten gesellschaftlichen Formation.[1] Mir scheint dieser Ansatz des „Denkens des Gesamtzusammenhangs“ für die Erneuerung der marxistischen Theorie die richtige methodologische Vorgehensweise zu sein. Allerdings würde ich aus politökonomischer Sicht eher Georg Fülberth folgen, der den Ansatz für eine Erneuerung des Marxismus in einer konsequenten Weiterführung der marxschen Akkumulationstheorie sieht. Und das ist möglich, wenn man sich dabei auf deren Fortsetzung, die marxistische Monopoltheorie, als eine tragende Teiltheorie stützt und diese weiterentwickelt. Gerade sie kann wesentliche Komponenten des heutigen kapitalistischen Entwicklungsstadiums in seiner Gesamtheit national und international erfassen und auch längerfristige Tendenzen mit ihren Wirkungen sichtbar machen.
Bekanntlich führt die historische Linie der Kapitalakkumulation bei Marx von der ursprünglichen Akkumulation über den permanenten Prozess der Akkumulation als Konzentration und Zentralisation von Produktion und Kapital bis zum Entstehen von mächtigen Monopolen. Lenin prägte den Begriff des „ökonomischen Monopols als Kern der ganzen Sache“. Daran ist auch heute anzuknüpfen. Das Monopol ist nach wie vor ein entscheidendes konstituierendes Element der gesellschaftlichen Zusammenhänge in der kapitalistischen Gegenwart. Ohne diese Kategorie ist auch der so genannte „neue Imperialismus“ theoretisch nicht zu erfassen; denn es geht mit der Expansion der Monopole um die ökonomischen und politischen Bedingungen, unter denen sich der Kapitalismus auf der einen Seite neue Entwicklungspotentiale erschließt, auf der anderen Seite zugleich neue, riesige Zerstörungspotentiale produziert. Die Kategorie des Monopols ist daher m. E. der politökonomische Zugang zum „Denken des Gesamtzusammenhangs“.
Man könnte im Sinne einer marxistischen Erneuerung ohne weiteres daher an die Monopoltheorie der 60er und 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts anknüpfen. In einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen wurden wesentliche Erkenntnisse publiziert, wie z. B. zum Monopol und Wertgesetz, zum Monopolprofit, zum Zusammenhang von Monopol und Krise sowie als Weiterentwicklung die Theorie des staatmonopolistischen Kapitalismus. In den letzten Jahrzehnten klafft jedoch eine große Lücke in der weiteren theoretischen Erfassung der Monopolbildung, obwohl uns heute eine bisher nie gekannte Monopolmacht vor allem in Form der Finanzgiganten gegenüber steht. In diesem Zusammenhang möchte ich hier auf drei wesentliche Aspekte dieser Theorie kurz eingehen:
1. Das Monopol als weiterentwickeltes Kapitalverhältnis
Der erste Punkt betrifft das Verständnis des Monopols als eine historische Kategorie, als ein weiterentwickeltes Kapitalverhältnis im Ergebnis der Kapitalakkumulation. Das ökonomische Monopol ist nicht einfach nur eine „Marktform“, auch wenn es sich als solch eine Organisationsform des Kapitals realisiert. Aus dem Zeitgeschehen sind uns solch organisierte Monopolformen geläufig, wie die Internationalen Konzerne, Kartelle, Wirtschaftsvereinigungen, Banken, Handelskonzerne, Versicherungen, Investmentfonds, Hedgefonds usw. Sie beherrschen die Welt heute mit größerer Macht und Wirkung als je zuvor.
In ihrem Agieren auf den Märkten geht es nicht schlechthin um die Herausbildung neuer Größenordnungen, sondern darum, wie sich die Aneignung von Profit mit ökonomischer und außerökonomischer Gewalt unter diesen verschiedensten Organisationsformen und Netzwerken maximieren lässt – was letztlich alle anderen Sphären der Gesellschaft tangiert.
So ist dieses Erfassen des ökonomischen Monopols in seinen entwickelten Kapitalformen in erster Linie Voraussetzung, um die sozialökonomische Grundstruktur des heutigen Kapitalismus genauer zu bestimmen. Es lässt sich analysieren, in welcher Weise die Monopolmacht auf die Produktivkraftentwicklung, auf die soziale Lage der arbeitenden Menschen, auf den großen Sektor der Klein- und mittleren Unternehmen, auf politische Konstellationen und Klassenverhältnisse sowie auf die internationalen Beziehungen wirkt. Im Rahmen sich wandelnder Organisationsformen des monopolistischen Kapitals realisiert sich die erdrückende Macht des Finanzkapitals, der Ausbau seiner Herrschaftsmechanismen und die Ausprägung seiner Diktatur zur Durchsetzung seiner imperialen Zielstellungen – verbunden mit gravierenden Verfall der bürgerlichen Demokratie.
2. Das Monopol als Eigentumsproblem des entwickelten Kapitalismus
Das Wesen des ökonomischen Monopols als ein sich weiterentwickelndes Kapitalverhältnis liegt in der Entwicklung des kapitalistischen Eigentums – mit dem Kernproblem der für die weitere Akkumulation notwendigen Enteignungsprozesse. Marx sprach im dritten Band des Kapitals von der Expropriation „als Aneignung des gesellschaftlichen Eigentums durch wenige“.
Wir wissen: Nur die Verfügungsmacht der Monopole über anwachsende, gewaltige gesellschaftliche Kapitalien gestattet eine weitere Entwicklung der Produktivkräfte, die Beherrschung von materiellen und Wissens-Ressourcen, die Verfügung über die Organisation der Produktion und die Aneignung seiner Resultate und damit letztendlich die Realisierung der Profite.
Dieser marxistische Monopolbegriff beinhaltet, wie Peter Hess schrieb, den auf ökonomischer und außerökonomischer Macht beruhenden und für die weitere Akkumulation notwendigen Enteignungsprozess aller anderen Eigentümer, eine mehr und mehr zentralisierte Verfügung über das kapitalistische Eigentum[2]. Ohne neue Formen derartiger kapitalistischer Enteignungsprozesse kann sich der Kapitalismus nicht behaupten und weiterentwickeln. Akkumulation und Enteignung sind daher zwei Seiten ein und desselben Prozesses in der Entwicklung des überreifen Kapitalismus.
Das ökonomische Monopol konstituiert sich seit seiner Herausbildung im „imperialen Zeitalter“ des vorigen Jahrhunderts ständig aus dieser Symbiose heraus. Gerade im letzten Jahrzehnt hat dieser Prozess mit der Internationalisierung des Kapitals solche Wucht und Breite erreicht, dass der marxistische Wissenschaftler David Harvey den „neuen“ Imperialismus als Akkumulation durch Enteignung charakterisiert.[3] Besonders das finanzkapitalistische Monopol in seinen neuartigen Formen ist heute das entscheidende Instrument der Eigentumszentralisation und der gnadenlosen Enteignung geworden – sichtbar auch im jetzigen Krisendilemma in Europa.
Akkumulation durch Expansion des monopolistischen Eigentums und Enteignung zeigen sich in vielfältigsten Formen, sozusagen „klassisch“ mit der zunehmenden Verwandlung von Privatkapital in „Gesellschaftskapital“. Dies ist im heutigen „Börsenkapitalismus“ mit der Zusammenballung der Verfügung von Kapital in wenigen Händen bei einem gleichzeitigen Anwachsen einer immer größeren Anzahl von Aktionären mit hohem Enteignungsrisiko verbunden. Zugleich werden auch alle anderen Eigentümer außerhalb der eigentlichen monopolistischen Eigentumssphäre in ihren Einkommens- und Gewinnansprüchen über den staatsmonopolistischen Regulierungs- und Umverteilungsmechanismus beschnitten. Das betrifft sowohl das Einkommen der arbeitenden Klasse und nicht mehr arbeitender Schichten als auch kleinere und mittlere Unternehmen. Ausdruck dafür sind das sichtbare Zurückbleiben der Lohn- gegenüber der Profitentwicklung oder das Schröpfen der kleinen und mittleren Unternehmen über das monopolistische Kreditwesen, über Finanzmärkte und andere Marktmechanismen.
In den letzten Jahren ist die Privatisierung des öffentlichen Sektors, kommunaler Betriebe und Dienstleistungen zu einem entscheidenden Mittel monopolistischer Akkumulation und Enteignung geworden. Letztlich werden auch durch die enorme internationale Expansion des Monopolkapitals die Ressourcen anderer Völker zugunsten einer überragenden Machtelite umverteilt, oft als so genannte „kalte Enteignung“ bezeichnet.
3. Das Monopol als Initiator polarisierender Konkurrenz
Der dritte Punkt betrifft das Wirken der Konkurrenz der mächtigsten Monopole um neue Anlagesphären und Ressourcen im Verbund mit den sie vertretenen Großmächten. Daraus ergeben sich die wesentlichsten Konflikte, Widersprüche und Rivalitäten in der heutigen Welt, daraus resultieren die zwischenimperialistischen politischen Kontroversen, die „hegemoniale Überdehnung“ der USA-Politik und das wachsende hegemoniale Anspruchsdenken der EU, insbesondere das neue imperiale Streben Deutschlands.
Aus marxistischer Sicht konstituiert das ökonomische Monopol wesentlich die Konkurrenzverhältnisse. Es durchbricht zwar den Konkurrenzmechanismus, negiert ihn aber keinesfalls als „innere Natur“ des Kapitals. Mit der Einschränkung der Konkurrenz durch den Ausbau von Monopolstellungen entsteht andererseits vielmehr die Form einer Synthese von Monopol und Konkurrenz, die zu einer Verschärfung des Konkurrenzkampfes führt. Jörg Huffschmid hat einmal geschrieben: „Monopole sind nicht in der Konkurrenz begründet, aber als Erscheinungsform des konzentrierten und zentralisierten Kapitals sind sie wie alle anderen Kapitale Resultat der Konkurrenz, Element und Instrument der Konkurrenz.“[4]
Diese monopolistische Konkurrenz wirkt zwischen den internationalen Monopolgruppen und Konzernen im nationalen und internationalen Maßstab um Beherrschung von Wissenschaft und Technik, um Marktpositionen, um Rohstoff- und Finanzressourcen, sie wirkt zwischen den verschiedenen Größenklassen der Unternehmen um Existenz und Expansion und sie wirkt auch im Hinblick auf Intensität, auf Art und Weise von Staatsinterventionen zugunsten profitablerer Kapitalverwertungs- und Standortbedingungen sowie auf die Gestaltung nationaler und internationaler Einflusssphären zugunsten des Monopolkapitals. Ohne Zweifel liegen deshalb auch die Wurzeln der heutigen imperialistischen Strategien in der polarisierenden Konkurrenz der dominanten Monopole begründet.
Die rigorosen Konkurrenzkämpfe in der Welt entwickeln sich dabei in Abhängigkeit von den jeweiligen konkreten objektiven Bedingungen für die Akkumulation des Kapitals. Gerade in den letzten Jahrzehnten hat es bedeutende Einschnitte für die Kapitalverwertung und damit auch für die Konkurrenzverhältnisse gegeben. Dazu zählen
- die seit Mitte der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zu konstatierende, langfristige Überakkumulationskrise des Kapitals,
- der Wegfall der viele Jahrzehnte den Kapitalismus zähmenden Systemkonkurrenz,
- der bedeutende Wandel in den Machtkonstellationen zwischen den Großmächten mit der sukzessiven Verlagerung des Gravitationszentrums der Weltpolitik von den USA nach Asien sowie dem Aufstieg neuer regionaler Mächte im politischen Weltsystem wie die BRICS-Staaten und Russlands Kampf um neue Weltpositionen,
- und die Bestrebungen der EU als kapitaldominiertes Integrationsgebilde, international ihre Ansprüche in der Weltpolitik und auch immer stärker militärisch geltend zu machen.
Es zeigt sich eine völlig neue Stufe des Kampfes der internationalen Monopole, der Staaten und Staatengruppen um die Neuaufteilung der Welt, um geopolitische Macht, um Märkte und Rohstoffe – und das eben auch in äußerst aggressiven Formen bis hin zu imperialistischen Kriegen.
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Zum Schluss möchte ich mein Anliegen zu der heutigen Thematik einer marxistischen Erneuerung nur noch einmal unterstreichen: Ich habe mich aus politökonomischer Sicht auf die marxistische Monopoltheorie konzentriert. Dies ist mein Votum dafür, dass bei einer Erneuerung des Marxismus diese Theorie einen Platz haben sollte. Sie ist ein Ansatz zum Denken des Gesamtzusammenhangs, denn sie stellt einen wichtigen Pfeiler zur Erforschung gesellschaftlicher Prozesse sowie zur Aufhellung grundlegender Veränderungsoptionen auch im heutigen Entwicklungsstadium des Kapitalismus dar. Sie hat einen direkten Bezug zur gegenwärtig stark diskutierten Imperialismustheorie, bietet Grundlagen zur Erforschung der äußerst engen Verflechtung von Staat und Monopolen oder der weiteren staatsmonopolistischen Entwicklung und damit auch zum Erfassen des gegenwärtigen Standes und des Abbaus der Demokratie. In engem Kontext mit der Expansion der Monopole und ihrem Agieren stehen die großen, die ganze Menschheit bedrohenden ökologischen und globalen Probleme.
Der Bezug auf diesen marxistischen theoretischen Ansatz und seine Fundierung durch konkrete Analysen würde auch praktikable alternative Gestaltungsmöglichkeiten und gesellschaftliche Veränderungen diskutabel oder möglich machen. Konkret ist hier nur die Eigentumsproblematik zu nennen. Sie hat im neuen Erfurter Programm der Partei DIE LINKE immerhin einen beachtenswerten Platz, auch wenn das Programm noch viele Fragen unbeantwortet lässt. Zweifelsfrei muss die Lösung der Eigentumsfrage als Machtfrage und als Grundlage zum Systemwechsel mehrere Facetten nichtkapitalistischen Eigentums haben – entsprechend der Entwicklung der Monopolstruktur. „Wiedergewinnung des Öffentlichen“ oder „Re-Kommunalisierung“ sowie Verstaatlichung oder Vergesellschaftung der Banken und Energiemonopole sind gegenwärtig politisch-strategisch tragfähige, antimonopolistische Forderungen. Andere Vergesellschaftungsformen wie das Belegschaftseigentum bedürfen weiterer Diskussionen.
* Vortrag zum Thema „Marxistische Erneuerung – aber wie?“ auf einer Veranstaltung des „Marxistischen Forums“ und des „Geraer Sozialistischen Dialogs“ (5. Mai 2012) im Gedenken an Uwe-Jens Heuer.
[1] Vgl. junge Welt v. 11.04.2012.
[2] Peter Hess, Zur Aktualität der Imperialismustheorie, in :Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 4 (Dezember 1990), S. 73f.
[3] David Harvey, Der „neue“ Imperialismus: Akkumulation durch Enteignung, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Hamburg, Nr. 5, Mai 2003.
[4] Jörg Huffschmid, Der marxistische Monopolbegriff, in: Das Argument, AS 6, Berlin 1975, S.37.