Kollektiv „AngryWorkers“, Class power on Zero-Hours, London 2020, 387 Seiten, 10,00 Euro, in englischer Sprache
Mit dem Buch liefert das Kollektiv „AngryWorkers“ aus London einen politökonomisch informierten Beitrag zur Entwicklung zeitgemäßer Klassenpolitik. Als Mitglieder der syndikalistischen Basisgewerkschaft Industrial Workers of the World und inspiriert von Streiks der kämpferischen Gewerkschaft Si Cobas im Logistiksektor Italiens beginnen die Mitglieder der Gruppe im Jahr 2014, als Betriebsaktive auf eine unabhängige Organisierung von Lohnabhängigen hinzuarbeiten. Ihre Publikation ist eine selbstkritische Auswertung dieser Erfahrung und leitet eine Reihe politisch-strategischer Schlussfolgerungen ab, die sie auch für die bundesdeutsche Debatte interessant machen.
Sie gliedert sich in drei Abschnitte. Einleitend erklären die Autor*innen die Eckpfeiler ihrer Strategie, sich in der Arbeiter*innenklasse zu verwurzeln. Ihre Umsetzung wird im zweiten Teil durch drei „workers inquiries“ beschrieben, die detaillierte Einblicke in die Arbeitsbedingungen und geführten Kämpfe bei einem Fertiggerichtehersteller, einem Warenhaus für Nahrungsmittel sowie einer Produktionsstätte für 3D-Drucker geben. Das Kollektiv schließt mit einer Erweiterung seiner Perspektive zu einer revolutionären Strategie und leitet aus historischen Erfahrungen ab, dass es eine Organisation braucht, die als organisch in der Arbeiter*innenklasse verwurzelte Kämpfe führt.
„Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiterklasse selbst sein.“ Diesen Imperativ von Marx vor Augen, ziehen die „AngryWorkers“ nach Greenford, einem migrantisch geprägten Arbeiter*innenviertel im Westen Londons, dominiert vom Logistiksektor und industrieller Nahrungsmittelverarbeitung. Prekäre Arbeitsverhältnisse ohne garantierte Arbeitszeit – sogenannte „Zero Hour Contracts“ sind Arbeitsverträge ohne genaue Stundenzahl und bedeuten Arbeit auf Abruf –, Niedriglöhne und hohe Mieten prägen den Alltag der Menschen. Um Gegenwehr organisch entwickeln zu können und ihr Verständnis für die Situation der Beschäftigten zu vertiefen, nehmen die Aktiven Jobs in unterschiedlichen Betrieben an: „Wir spürten die dringende Notwendigkeit, aus der kosmopolitischen Filterblase auszubrechen und unsere politische Praxis im Leben und Arbeiten der Arbeiter*innenklasse zu verankern“ (7, eigene Übersetzung).
Ihre politische Arbeit in Greenford gliedert sich in vier „Ebenen der Organisierung“ (13). Erstens sollen organisierte Betriebskerne aufgebaut und entlang von Kämpfen um Verbesserung der Arbeitsbedingungen allmählich erweitert werden. Zweitens etabliert das Kollektiv ein Solidaritätsnetzwerk, das Menschen bei Problemen mit Behörden oder Vermieter*innen unterstützen soll. Dieses soll der individualisierenden Wirkung wohlfahrtsstaatlicher Daseinsfürsorge entgegenwirken und verhindern, dass die verarmten und isolierten Teile der Arbeiter*innenklasse gegen den organisierten Teil mobilisiert werden können. Durch die Herausgabe einer eigenen Zeitung versuchen sie drittens, über Kämpfe zu informieren, sie zu reflektieren und politisieren sowie in öffentliche Diskurse zu intervenieren. Viertens wollen sie den drei aufgezählten Teilbereichen eine organisatorische Klammer geben: eine Organisation der Arbeiter*innenklasse, die Kämpfen einen Kompass geben und mit anderen Organisationen in Austausch über die Erfahrungen treten muss. Durch gleichzeitige Aktivität auf allen vier Ebenen erhoffen sich die Autor*innen Synergieeffekte: „Das Solidaritätsnetzwerk kann Leuten helfen, im Betrieb die Initiative zu ergreifen, und Arbeitskämpfe im Betrieb wiederum können lokalen Kampagnen außerhalb mehr Stärke gegenüber den lokalen Autoritäten verleihen.“ (17) Ansätze von Basisarbeit mit nur einem isolierten der vier Schwerpunkte reiche den Autor*innen zufolge nicht aus.
Darüber hinaus lehnen die Autor*innen Organisationsansätze ab, die von außen auf die Arbeiter*innenklasse zugreifen wollen, und sie kritisieren die national beschränkten strategischen Ansätze des „Democratic Socialism“ in den USA und UK als unfähig, sich dem globalen Charakter des Kapitals stellen zu können. Aus der Position einer Regierungspartei würde dieser zudem unfähig sein, eine Lösung für die Probleme der Arbeiter*innen zu bieten (334).
Das Buch lohnt sich auch mit Blick auf die neuere Debatte um Klassenpolitik, Basisarbeit und Organizing als Antwort auf die Krise der Linken. Denn leider verschwimmen die Begriffe in der deutschen Auseinandersetzung oftmals – bereits das Verteilen von Flyern auf der Straße gilt dann schon als Basisarbeit und „Neue Klassenpolitik“. Hier liefern die „AngryWorkers“ einen komplexeren Ansatz. Er wird um eine Analyse der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise sowie Organisation von Arbeit ergänzt. So können den Autor*innen zufolge leichter Orte ausgemacht werden, an denen sich Macht für die Durchsetzung von Lohnabhängigeninteressen aufbauen lasse. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf globalen Lieferketten – diese sehen die „AngryWorkers“ als Machtressource und Kristallisationspunkt für global auszutragende Klassenkämpfe, die darum auch notwendig internationalistische sein müssten.
Weiterhin hilft das Buch, betriebliche Kämpfe auch innerhalb aktivistischer Kreise weiter als Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung und linker Politik ins Bewusstsein zu rufen und greifbar zu machen. Aufgrund der sozioökonomisch privilegierten Herkunft vieler linker Aktivist*innen und einem oft klassenvergessenen Verständnis von Identitätspolitik bleiben Arbeitskämpfe als politische Praxis und der Bezug auf Klassenstatus als einendes Moment zumindest in jüngeren linken Milieus oft auf der Strecke. Der gerne reflexhaft erhobene Vorwurf, man würde sich bei einem Rekurs auf Klassenverhältnisse nur auf weiße, männliche Lohnarbeiter beziehen und patriarchale oder rassistische Unterdrückung als Nebenwidersprüche abtun, begegnen die Autor*innen, indem sie mehrfach auf die besonders exponierte Position von Frauen und Migrant*innen als Teil der Arbeiter*innenklasse verweisen: Sie analysieren den zunehmenden ökonomischen Druck auf Familien und damit insbesondere auf viele Frauen, in Vollzeit für Mindestlohn zu arbeiten und zusätzlich kostenlose Reproduktionsarbeit zu leisten. So wird erkennbar, dass Kämpfe um soziale Infrastruktur, öffentliche Daseinsfürsorge, Mieten sowie Löhne klassenpolitische und feministische bzw. antirassistische Kämpfe zugleich sein können.
Eine wichtige Komponente von Basisarbeit findet jedoch wenig Beachtung – die kulturelle Verankerung im Wohnviertel. Eine Organisation der Arbeiter*innenklasse sollte nicht nur Ansprechpartner bei Problemen sein, sondern auch Teil von Freizeit und sozialem Alltag werden, um Vertrauen zu schaffen und weiteren Zugang zur kollektiven Organisierung zu bieten. Stammtische, Fußballtraining oder Nachbarschaftsfeste etwa werden viel zu schnell vergessen oder hinten angestellt.
Die „AngryWorkers“ haben den verdienstvollen strategischen Versuch unternommen, als und mit Arbeiter*innen einen Zusammenschluss aufzubauen, durch den sie Gegenwehr leisten und Erfolge auch als Ergebnis gemeinsamer Arbeit erkennen können. Allerdings hätten sie dabei 80 Prozent ihrer Energie auf die konkreten Kämpfe und die Zeitung verwandt, wie sie selber angeben. Selbstkritisch merken sie an, dass sie es nach sechs Jahren nicht geschafft haben, ihr politisches Kollektiv zu erweitern bzw. Arbeiter*innen für die langfristige Mitarbeit zu gewinnen. Inwieweit sie es also schaffen werden, weitere Kolleg*innen zu organisieren, ist der Gradmesser, an dem sich auch ihre strategische Suchbewegung wird messen lassen müssen. Wir lesen hoffentlich davon in einem weiteren Buch der „AngryWorkers“.