Berichte

Jürgen Kuczynskis Leben und Werk in Elberfeld (Wuppertal)

Wissenschaftliches Kolloquium der Marx-Engels-Stiftung, Wuppertal, 12. Mai 2012

von Dirk Krüger
September 2012

Die in Wuppertal ansässige Marx-Engels-Stiftung e.V. hatte am 12. Mai 2012 zu dem Kolloquium eingeladen. Mehr als 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmer – unter ihnen auch eine indische Dozentin der Bergischen Universität, die die Ausstellung in ihrem Heimatland zeigen wird und ein Seminar dazu plant – sind der Einladung gefolgt.

Sie wurden Zeugen eines historischen Ereignisses, denn es war die erste wissenschaftliche Annäherung an Leben und Werk von Jürgen Kuczynski in seiner Geburtsstadt. Kuczynski hatte zwar im Mai 1970 auf Einladung der Stadt an einer internationalen wissenschaftlichen Konferenz zu Ehren des 150. Geburtstages von Friedrich Engels teilgenommen und auch referiert, sein Leben und sein Werk wurde in Wuppertal aber bewusst („er war jüdischer Kommunist“) dem Vergessen anheim gegeben. Die Versuche der ortsansässigen DKP, ihn zu einer Veranstaltung nach Wuppertal zu bewegen, scheiterten.

Sein Vater, Robert René Abraham Kuczynski, hatte am 4. Februar 1904 einen Brief des Oberbürgermeisters der damals noch selbstständigen und bedeutenden Industriestadt Elberfeld erhalten. Darin wurde ihm die „Stelle des Direktors des hiesigen Statistischen Amts gegen das Anfangsgehalt von 5000 Mark zunächst auf ein Probejahr“ angeboten. René Kuczynski nahm das Angebot an und bezog mit seiner Frau Bertha eine Wohnung im Zoo-Viertel, in der Jaegerstraße 16. Hier wird am 17. September 1904 ihr Sohn Jürgen geboren. Sein Büro bezog René Kuczynski im Elberfelder Rathaus.

René Kuczynski hatte sich als Städtestatistiker national wie international profiliert. Er untersuchte vor allem die erbärmliche Wohnungssituation und Wohnungsnot der werktätigen Bevölkerung. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs wandte er sich Fragen der Volksernährung zu. Seine wissenschaftlich bedeutendste Leistung war die Begründung der modernen Bevölkerungsstatistik. Er war aber nicht ausschließlich als Wissenschaftler tätig. Politisch spielte er zusammen mit Helene Stöcker und Ludwig Quidde eine entscheidende Rolle bei der Kampagne zur Durchführung des Volksentscheids für die entschädigungslose Enteignung der Fürsten (1926). Sie wurde zur letzten gemeinsame Aktion von SPD und KPD.

Sein ganzes Leben zeichnet den parteipolitisch ungebundenen René Kuczynski als einen fortschrittlichen Wissenschaftler und Politiker aus. Das wird eindrucksvoll belegt auch durch seine Aktivitäten in der Emigration in Großbritannien. Sein Sohn, Thomas Kuczynski, schreibt in der von ihm verfassten Biografie: „Neben Einstein war Kuczynski in dem Halbjahrhundert vor 1945 der einzige deutsche bürgerliche Wissenschaftler von internationalem Ruf, der der Arbeiterklasse wirklich verbunden und durch diese Verbundenheit in die Lage versetzt war, unserem Volke und der Gesellschaftswissenschaft nicht unbedeutende Dienste zu leisten.“

Das Kolloquium wurde vom Vorsitzenden der Marx-Engels-Stiftung, Lucas Zeise, eröffnet. Nach Grußworten von Thomas Kuczynski, von Eberhard Illner, dem Leiter des Historischen Zentrums und des Stadtarchivs der Stadt Wuppertal und von Gunhild Böth, der Vizepräsidentin des NRW-Landtags, wurden drei wissenschaftliche Referate vorge­tragen: Herbert Meißner aus Oranienburg sprach zu dem Thema „Zur wissenschaftsgeschichtlichen Leistung von JK“, Jörg Roesler aus Berlin zum Thema „JK als Wissenschaftler und Journalist in der Weltwirtschaftskrise“ und Georg Fülberth aus Marburg über den Bestseller „Dialog mit meinem Urenkel“ und das Nachfolgebuch „Fortgesetzter Dialog mit meinem Urenkel“.1

Ihre Ausführungen belegten ihre langjährige Beschäftigung mit Leben und Werk von JK, ihre häufigen Begegnungen und intensiven politischen, vor allem aber ihre wissenschaftlichen Diskurse mit dem Chronisten der Arbeiterbewegung. Alle Referenten und auch die an der Diskussion Beteiligten würdigten JKs außerordentliche wissenschaftliche Leistungen. Sein Werk sei ein unschätzbarer Fundus für alle, die sich den Kämpfen der Arbeiterklasse verpflichtet fühlten. Seine zahlreichen theoretischen Abhandlungen hätten nichts vor ihrer aktuellen Bedeutung verloren. Daneben setzten sich die Referenten an der einen oder anderen Stelle auch kritisch mit seinen theoretischen Ansätzen auseinander.

Meißner führte aus, dass „Jürgen Kuczynski der erste deutsche Wirtschaftswissenschaftler (war), der auf der Grundlage des Historischen Materialismus und einer Vielzahl von orientierenden Hinweisen von Marx und Engels eine neue Betrachtung der Theoriegeschichte demonstrierte.“ Das zeige sich besonders an seinen außergewöhnlichen Kenntnissen zur Geschichte seines Fachgebietes und an seiner Methodologie. Er habe immer den „Zusammenhang einer zu einer bestimmten Zeit vorhandenen Wirtschaftstheorie mit den jeweiligen ökonomischen Verhältnissen, die hinter einer jeden Theorie stehenden Interessen und den wechselseitigen Einfluss von Wirtschaftstheorie und Wissenschaftspolitik“ beachtet und aufgedeckt.

Roesler zufolge war Jürgen Kuczynski „der Überzeugung, dass die offiziellen Wirtschafts- und Sozialstatistiken in den Krisenjahren aufgrund bewusster oder unbewusster methodischen Mängel die wirkliche Lage der Arbeiter nicht ausreichend widerspiegelten, vielmehr den Bedürfnissen des Kapitals nach Information untergeordnet waren. Aus diesem Grunde begnügte er sich nicht mit den veröffentlichten Angaben über Nominal- und Reallohn. JK ging vom Bruttoreallohn, genau genommen von Bruttorealtariflohn, aus und entwickelte ihn zum Instrument der Einschätzung der materiellen Lage der Arbeiter weiter. Er arbeitete mit Nettoreallöhnen, Realwochenlöhnen und dem Reallohn für beschäftigte Arbeiter.“

Ein Gegenstand der Betrachtungen der Referenten war JKs Fähigkeit zur genauen Beobachtung der ihn umgebenden politischen Realitäten, die sehr häufig einen Widerspruch zwischen Wissenschaft und Politik ergaben und die JK oft zu kritischen Bemerkungen und zu kritischem Eingreifen in die Politik der KPD und später der DDR motivierten. Das habe ihm nicht nur Freunde eingebracht, sondern auch heftige, maßlose, unsolidarische und auch völlig unwissenschaftliche Anfeindungen, gegen die er sich auch selbst zur Wehr setzte. Seinen Memoiren 1994-1997 gab er den programmatischen Titel „Ein treuer Rebell“ und am Ende seiner illegalen antifaschistischen Tätigkeit im faschistischen Deutschland 1933 bis 1936 bemerkt er: „Seitdem war die Parteiführung zwar oft mit mir unzufrieden, hat mir ernste Vorwürfe in dieser oder jener ideologischen Beziehung gemacht – aber niemals hat sie an meiner Parteitreue gezweifelt.“

Georg Fülberth vertiefte diese Sicht mit seinem Bekenntnis, dass er den „Dialog mit meinem Urenkel“ und den „Fortgesetzten Dialog mit meinem Urenkel“ in Vorbereitung auf das Kolloquium erneut und mit „anderen Augen“ gelesen habe. Er führte aus: Das Verhältnis der einzelnen Komponenten des Buches Dialog mit meinem Urenkel’ lässt sich so qualifizieren: 49 Prozent Autobiografie, 49 Prozent Festrede, 2 Prozent Kritik und fährt fort: Im „Fortgesetzten Dialog mit meinem Urenkel“ komme er, JK, zu Ergebnissen, die seinen früheren Aussagen völlig widersprechen. Die DDR sei kein Sozialismus, sondern eine Art feudaler Absolutismus gewesen, einmal spreche er sogar von einer „verkommenen Gesellschaft“.

Seine Ausführungen riefen eine lebhafte Diskussion um die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik hervor. Zu den Ursachen für diesen schroffen Gegensatz konnten in der Diskussion nur Vermutungen geäußert werden. Thomas Kuczynski schaltete sich mit ganz grundsätzlichen Bemerkungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik in die Diskussion ein und machte auf den Widerspruch aufmerksam, in den diese beiden Bereiche menschlichen Handelns in der Vergangenheit und der Gegenwart geraten seien und immer wieder geraten. Er erinnerte in diesem Zusammenhang an die „Göttinger Sieben“ von 1837 und an den „Göttinger Appell“ vom 12. April 1957. Das treffe auch auf seinen Vater zu. Diese Diskussion werde geführt und müsse mit Blick auf die zukünftige gesellschaftliche Gestaltung weiter geführt werden.

Die Referate von Dirk Krüger zu Kuczynskis antifaschistischem Wirken in der Illegalität in Deutschland von der Machtübertragung an Hitler bis zu seiner Emigration nach Großbritannien Anfang 1936 und zu seinem Wirken in der Emigration bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland 1945 in die SBZ, die spätere DDR, konnten aus Zeitmangel nicht gehalten werden. Sie werden mit den gehaltenen Beiträgen in den „Marxistischen Blättern“ veröffentlicht.

Bei der Tagung wurde eine mit Hilfe der Zentral- und Landesbibliothek Berlin (die den umfangreichen Nachlass von JK betreut) zusammengestellte „Ausstellung zu den Kuczynskis“ gezeigt; sie war ständig umlagert. Ein Novum war der stadthistorische Spaziergang „Auf den Spuren der jüdischen Familie Kuczynski in Wuppertal“, den Reiner Rhefus und Dirk Krüger leiteten. Er begann im ehemaligen Elberfelder Rathaus, der Arbeitsstelle von René Kuczynski, und endete mit einer anrührenden Begegnung mit den jetzigen Bewohnern im Geburtshaus von JK, in der Jaegerstraße 16, im Zoo-Viertel von Wuppertal. Die Hausbewohner werden sich dafür einsetzen, dass eine Hinweistafel für René Kuczynski vor dem Haus angebracht wird.

Der Berichterstatter erarbeitet derzeit eine umfangreiche Würdigung der Familie Kuczynski, die in der nächsten Ausgabe der gemeinsam vom Bergischen Geschichtsverein, dem Historischen Zentrum, dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek herausgegebenen Schriftenreihe „Geschichte im Wuppertal“ erscheinen wird.

1 Die Beiträge erscheinen in: Marxistische Blätter, H. 4/2012