Vor gut 75 Jahren, am 27. April 1937, ist Antonio Gramsci an den Folgen der Haft, zu der ihn das faschistische italienische Regime in einem terroristischen politischen Prozess verurteilt hatte, gestorben. Das Berliner Institut für Kritische Theorie (InkriT) hat mit Unterstützung der Rosa-Luxemburg-Stiftung dieses Datum zum Anlass genommen, um bei seiner diesjährigen, XVI. Konferenz neben den Arbeiten an zahlreichen Artikeln für das „Historisch-Kritische-Wörterbuch-Marxismus“ (HKWM) die Lebenskraft des gramscianischen Denkens an theoretischen und praktischen Fragen der Gegenwart aufzuzeigen.
Mehr als 80 TeilnehmerInnen aus 10 Ländern (Bundesrepublik Deutschland, Finnland, Österreich, Dänemark, Ungarn, Italien, Schweden, Schweiz, Großbritannien, USA) nahmen an den drei Abteilungen „Gramsci-Plenum“, „Gramsci-Werkstatt“ und „Wörterbuch-Werkstätten“ im Rahmen von achtundzwanzig Einzelveranstaltungen teil.
Die übergreifende Thematik der Tagung „Aktualisierung Gramscis“ beinhaltete die beiden Aspekte der auch heute gegebenen Aktualität des Denkens von Gramsci und die damit verbundene Notwendigkeit, sein Denken weiterzudenken und fortzuentwickeln. Dementsprechend wurden in den drei Zusammenkünften der „Gramsci-Plenen“ unterschiedliche Problematiken unter der Fragestellung behandelt: „Funktioniert Gramscis Begrifflichkeit und Denkweise noch in Zeiten der sozialen Netzwerke und der Großen Krise, bzw. wie müssen sie weiterentwickelt werden?“ Dazu gab es Vorträge mit durchaus kontroversen Diskussionen zu den Thematiken „Actualization of Gramsci with the reference to Egypt“ (Peter Gran, Philadelphia), „Occupy Wall Street – A Gramscian Analysis“ (Jan Rehmann, New York), „Gramscis Kategorie der ‚Subalternität’ in der Welt von heute“ (Ursula Apitzsch, Frankfurt am Main) und zu der Problematik „Versuch, die Krise der US-Hegemonie mit Gramsci zu begreifen“ (Wolfgang Fritz Haug, Esslingen und Los Quemados).
Gleiches gilt für die „Gramsci-Werkstätten“ „Was bringt Gramsci für das Ringen um eine feministische Politik in der Linken“ (Frigga Haug, Esslingen u. Los Quemados), „Zwischen Krise, Restauration und (blockierter) Umwälzung. Gramsci und das ´Modell Deutschland`“ (Bernd Röttger, Braunschweig), „Der Gramsci des Peter Weiss“ (Werner Schmidt, Huddinge/Schweden) und „Gramscis kultur- und literaturtheoretischen Überlegungen – heute“ (Ingo Lauggas, Wien).
Werkstätten zu HKWM-Artikelentwürfen behandelten die Stichworte „Kritik“ (W. F. Haug; P. Jehle; W. Küttler), „Macht I“ (W. Goldschmidt), „Markt“ (R. Pirker), „Mätresse“ (S. Müller), „Kybertariat“ (M. Candeias), „Macht II“ (R. Haude), „Lohnarbeit“ (H.-J. Bontrup), „Landwirtschaft“ (F. Forster), „Linkssozialismus“ (A. Diers), „Kunstmarkt / Kunst der Außenseiter“ (U. Meckler), „Materialismus, geographischer“ (R. Czeskleba-Dupont), „Lesbenbewegung“ (S. Shulman, T. P. Farley, C. Leidinger), „Mammon“ (T. Veerkamp), „Mindestlohn“ (N. Dimmel), „Mafia“ (E. Roggero), „Medienästhetik“ (D. Salomon), „Massenkunst“ (O. K. Werckmeister), „feministische Kritik“ (F. Haug). Bemerkenswert war die intensive aktive Beteiligung fast aller TeilnehmerInnen an den Diskussionen .und die ergebnisorientierte, kollektive Projektarbeit, die die InkriT-Konferenzen von vielen wissenschaftlichen Kongressen und Konferenzen unterscheidet, deren Referate, Round-Tables etc. zumeist unverbindlich aufeinander folgen, häufig kaum aufs allgemein vorgegebene Thema bezogen sind und schließlich bestenfalls in Protokoll-Bändern gebündelt veröffentlicht werden. Ein wesentlicher Vorzug dieses Projekts besteht nicht zuletzt auch darin, dass die TeilnehmerInnen während der InkriT-Konferenzen seit dem Jahr 1994 regelmäßig zusammenkommen und in den vielen unterschiedlichen Facetten der gemeinsamen Arbeit am HKWM-Projekt die Herausbildung einer internationalen, marxistisch orientierten wissenschaftlichen Community theoretisch und sinnlich erleben sowie mitgestalten.
Neben den politischen und wissenschaftlichen Veranstaltungen gab es persönliche Berichte der beiden ZeitzeugInnen Frigga Haug und Wolf-Dieter Narr zum Thema „Wie wir politische Wendepunkte erfahren haben“, eine Lesung von Gerhard Schoenberner aus seinem Gedichtband „Fazit“, Gesangsvortrag des „Freien Chors Stuttgart“ sowie eine Wanderung durch die Umgebung Esslingens.
Die Konferenz 2013 wird wiederum über Fronleichnam in Esslingen stattfinden (nähere Informationen unter http://www.inkrit.de/).