Berichte

Gewerkschaftsforschung

„AK Strategic Unionism" – 29. bis 30. Juni 2012, Jena (Friedrich-Schiller-Universität)

von Maria Diedrich / Thomas Möller
September 2012

„Strategic Unionism. Von der Krise zur Erneuerung“ lautet der Titel eines vom Arbeitskreis „Strategic Unionism“ herausgegebenen Buches aus dem Jahre 2008, dem ein weiteres folgen soll. Der Arbeitskreis (AK) traf sich am 29. und 30. Juni, um das im Buch vertretene Ziel einer Erneuerung der Gewerkschaften und der Gewerkschaftsforschung weiter zu thematisieren. Auch oder gerade für junge Forscher_innen scheint dies interessant zu sein, wie der große Anteil an Promovierenden zeigt, die mit einigen Studierenden und bekannten Protagonist_innen der Gewerkschaftsforschung wie Frank Deppe, Beverly Silver oder Heiner Dribbusch diskutierten.

Ein wichtiger Bezugspunkt für den AK ist die Studie „Forces of Labor“ von Beverly Silver (dt. Ausgabe 2005), die den Eröffnungsvortrag der Tagung hielt. Sie machte klar, dass ihr Fokus nicht auf der Analyse der Hemmnisse, sondern der Möglichkeiten von Arbeitskämpfen liegt. Ihre sehr breite Perspektive erlaubt die räumlich und zeitlich umfassende Analyse von „labor unrest“ und den Machtressourcen von Lohnabhängigen – hier unterscheidet sie strukturelle und Organisations-Macht – mit Blick auf die Transformation der Qualität und Quantität von Kämpfen, die ihr zufolge mit einem Wandel des Kapitalismus verknüpft sind.

Für eine Perspektive, die u.a. auch nicht-normierte Konflikte, andere Aktionsformen und die Wahrnehmungen der Akteure in den Blick nimmt, braucht es jedoch eine Weiterentwicklung des Ansatzes (Stefan Schmalz, Luigi Wolf). Dies wollen die Forscher_innen des Arbeitskreises mit ihrem Machtressourcenansatz (MR-Ansatz) vorantreiben.

Dass neben der Analyse struktureller Faktoren die Erforschung individueller Handlungsmöglichkeiten nicht vernachlässigt werden sollte, fand allgemeine Zustimmung. Ebenso die Annahme, mit einem Blick auf die Geschichte könne untersucht werden, unter welchen Bedingungen vorhandene Machtressourcen von Lohnabhängigen und Gewerkschaften auch realisiert werden können.

In der folgenden Diskussion „Back to the 70s?“ wurde festgestellt, dass der Fokus auf Potenziale gewerkschaftlicher Politik seit den 1970ern im Mainstream der deutschen Industriesoziologie nicht mehr häufig anzutreffen ist. Mit Blick auf die Frage nach deren heutiger Relevanz wurden Texte von Walther Müller-Jentsch zu Gewerkschaften als „intermediäre Organisationen“ sowie Eberhard Schmidts Konzept der „betriebsnahen Gewerkschaftspolitik“ diskutiert. Frank Deppe stellte eindrücklich dar, in welchem Ausmaß sich Kapitalismus und Gewerkschaften seit den 70ern gewandelt haben und inwieweit gewerkschaftliche Forderungen im System der industriellen Beziehungen anerkannt und integriert wurden. Deppe forderte einen neuen historischen Block der Linken, der z.B. auch Prekarisierte zusammenschließt und die Fragen nach systemischer Veränderung stellt.

In der anknüpfenden Debatte wurde argumentiert, dass infolge von Enttäuschungen, materiellen Zwängen auf die Protagonist_innen der Kämpfe der 70er Jahre, und Zweifel an der Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt der „utopische Überschuss“ verloren gegangen sei. Die anhaltende Bedeutsamkeit der Gewerkschaftsforschung ergebe sich auch aus deren Beharren auf der sozialen Frage und der Betätigung auf einem der Schauplätze im Kampf um ein würdiges Leben. Dies, so einige Diskussionsbeiträge, sollte auch das Ziel kritischer Wissenschaft sein. Catharina Schmalstieg (Abendvortrag) griff ein Element von Gewerkschaftserneuerung auf, das in gewisser Weise schon seit Beginn der Arbeiterbewegung eine Rolle spielt: Partizipation und Demokratisierung in Gewerkschaften und deren Effekte auf den Ausgang von sozialen Konflikten. In ihrem Vergleich von zwei Bezirken US-amerikanischer Gewerkschaften und einem ver.di-Bezirk stellte sie unterschiedliche Formen der Einbindung von Mitgliedern dar. Partizipation erhöhe Streikfähigkeit und Organisationsgrad, jedoch bestehe immer ein Spannungsverhältnis zwischen dem tatsächlichen Einfluss der Entscheidungen von Mitgliedern und (akzeptierter) Führung, die auch Eigeninteressen verfolge.

Im weiteren Verlauf setzte sich die Tagung mit verschiedenen Aspekten des Jenaer Machtressourcenansatzes auseinander, der die verschiedenen Quellen gewerkschaftlicher Macht betrachtet. Der im Buch von 2008 entwickelte Ansatz wurde unter Berücksichtigung eigener, neuer Forschung kritisch überdacht; mehrere Erweiterungsansätze wurden diskutiert. Dies betraf zunächst die schon angesprochene Ressource „institutionelle Macht“. Als Ergebnis gewerkschaftlicher Auseinandersetzungen stellt sie Handlungsräume für folgende Konflikte bereit; zugleich kann sie aber auch Kämpfe vorstrukturieren und damit Akteure in ihren Handlungsmöglichkeiten einschränken. „Organisationsmacht“ beruht als Machtressource auf der Organisations- und Mobilisierungsfähigkeit von Lohnarbeiter_innen und schließt dabei Betriebs- und Aufsichtsräte ein, denen auch Arbeitnehmervertreter_innen angehören. Ausgeblendet blieben dabei jedoch potenzielle Bündnispartner, die außerhalb der Kernstruktur der betrieblichen und gewerkschaftlichen Organisation der Lohnabhängigen stehen. Solche gesellschaftlichen Bündnispartner könnten z.B. beim Kampf mit global agierenden Unternehmen oder für Gruppen mit wenig anderen Machtressourcen entscheidenden Einfluss auf den Ausgang eines Konfliktes haben. Insofern wurde dafür plädiert, entsprechende Machtressourcen, die die Kooperationsfähigkeit der Gewerkschaften einschließen, zu berücksichtigen. Ausgehend von Jennifer Jihye Chuns Buch Organizing at the Margins (2009) wurde der Begriff der „Symbolischen Macht“ diskutiert – die Fähigkeit, Konflikte in die Öffentlichkeit zu transportieren und „public dramas“ zu inszenieren. Kritik betraf Unschärfe und voluntaristischen Charakter dieses Begriffs sowie ähnlicher Kategorien, die das gleiche Phänomen fassen. Der Begriff gewinne jedoch an Erklärungskraft bei Betrachtung als Analyseebene und mache zugleich auf einen blinden Fleck des MR-Ansatzes aufmerksam, die fehlende Einbeziehung der öffentlichen Arena.

Der Ansatz der Strategic Capabilities wurde anhand des Versuchs von Christian Lévesque und Gregor Murray aus dem Jahre 2010 vorgestellt, Erkenntnisse der sozialen Bewegungsforschung für die Gewerkschaftsforschung nutzbar zu machen und zwischen Machtressourcen und den Fähigkeiten ihrer Realisierung zu unterscheiden. Auf Kritik stieß, dass die Autoren allein organisationsbezogene Dimensionen behandeln und den Faktor der Produktionsmacht ignorieren. Mit der Einbeziehung sozialer Bewegungsforschung könne das Zusammenspiel von Struktur, Handlung und Akteuren besser gefasst werden, so ein weiterer Vorschlag.

Zum Abschluss des Treffens referierte Bernd Röttger zur „Politischen Ökonomie der Gewerkschaftsmacht“. Er betonte, dass die Handlungsspielräume gewerkschaftlicher Kämpfe sehr eng seien. Die verschiedenen Ebenen der Kämpfe (Betrieb, überbetriebliche und gesellschaftliche Arena), müssten miteinander verknüpft werden. Daneben wandte Röttger sich auch der gegenwärtigen Krise und ihren systemischen Ursachen mit Schwerpunkt auf dem „Modell Deutschland“ zu, welches von den DGB-Gewerkschaften mitgetragen wird. Entgegen der Annahme, dass Krisen auch Handlungsmöglichkeiten eröffnen, konstatierte er, dass Krisen im Kapitalismus keine Bestandsgefährdung, sondern -sicherung darstellen. Gewerkschaften könnten ihren Teil zu gesellschaftlicher Veränderung beitragen, könnten jedoch nicht deren alleiniger Ausgangspunkt sein. In der Diskussion fanden Röttgers Aussagen weitgehende Zustimmung, wobei auch auf Beispiele progressiver Gewerkschaftsarbeit verwiesen wurde. Der MR-Ansatz könne nicht erklären warum Gewerkschaften soziale Einschnitte und eine Politik mittragen, die Interessen von Lohnabhängigen entgegensteht. Allerdings könne mit der Analyse von Machtressourcen aufgezeigt werden, wie diese Situation überwunden werden kann.

Die Diskussion bezog sich v.a. auf Kämpfe von DGB-Gewerkschaften; es könnte sich jedoch lohnen, auch auf Konflikte außerhalb des DGB zu schauen (z.B. die Arbeitskämpfe der GDL oder von Cockpit), die durchaus Impulse für Gewerkschaftserneuerung geben könnten. Der AK bereitet ein Buch mit Beiträgen zu verschiedenen Regionen und Bereichen vor. Es darf gehofft werden, dass dort einige der im Juni aufgenommenen Fäden zusammengeführt werden können.

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