Verschiebungen im Weltsystem II

EU: Von der Wirtschafts- zur Integrationskrise

März 2011

Die aktuelle Wirtschaftskrise hat die Bruchlinien zwischen Zentrum und Peripherie in der EU bloßgelegt. Diese stellen die Fortexistenz der Euro-Zone und der EU in der heutigen Form in Frage. Sie sind als Resultat der Akkumulationsstrategien und Politiken sowohl auf EU- als auch auf nationalstaatlicher Ebene in den letzten 25 Jahren entstanden. Der Beitrag geht der Frage nach, wie die unterschiedlichen Akkumulationsregime in der EU und die europäische Arbeitsteilung auf den Verlauf der aktuellen Krisenprozesse und die Anti-Krisen-Politik in der EU gewirkt haben.

Dimensionen der Akkumulation

Für die Analyse der Akkumulationsdynamiken bietet die Regulationstheorie einen interessanten Ansatz. Es lassen sich drei zentrale Achsen der Akkumulation unterscheiden:

  • produktive/finanziarisierte Akkumulation
  • extensive/intensive Akkumulation
  • intro-/extravertierte Akkumulation (Becker 2002: 67 ff.)

Die Unterscheidung zwischen produktiver und finanziarisierter Akkumulation ist grundlegend. Bei einer überwiegend produktiven Akkumulation stehen die produzierenden Sektoren im Vordergrund. Auf diese ist dann auch die Investitionstätigkeit konzentriert. Bei einer dominant finanziarisierten Akkumulation geht es vor allem um Finanzanlagen. Innerhalb der finanziarisierten Akkumulation lassen sich zwei Hauptformen unterscheiden: einerseits eine Akkumulation, die sich stark auf das sogenannte „fiktive Kapital“, wie es Marx (1979: 482 ff., 510) bezeichnet, also Wertpapiere in den verschiedenen Formen, bezieht; andererseits Akkumulation in Form von zinstragendem Kapital, also von Krediten (Becker et al. 2010: 228 ff.). Anlagen von fiktivem Kapital gewinnen vor allem bei stagnierender produktiver Akkumulation an Bedeutung, da dann die Unsicherheit steigt und vermeintlich liquide Kapitalanlagen vorgezogen werden. Kapitalzuflüsse in diesen Bereich, die vielfach durch eine Neu-Regulation der Finanzmärkte gefördert werden, führen zu steigenden Preisen von Finanzaktiva. Buchgewinne werden realisiert indem Wertpapiere (oder auch Immobilien) teurer verkauft werden, als sie gekauft wurden. Die Profitmasse, aus der Dividenden oder Zinsen gezahlt werden können, steigt allerdings nicht entsprechend der Preisentwicklung der Finanzaktiva mit. Ab einem bestimmten Punkt wird das Auseinanderklaffen zwischen dem Ertrag der Wertpapiere (bzw. Immobilien) und deren Preise von den AnlegerInnen erkannt. Die Preise beginnen dann – oft sehr heftig – zu fallen. Der Kreislauf des fiktiven Kapitals besitzt zwar eine gewisse Autonomie gegenüber dem Kreislauf des produktiven Kapitals, bleibt mit diesem aber über die Mehrwertmasse verbunden. Die Finanzsphäre kann sich also nicht völlig von der produktiven Akkumulation lösen. Eine Akkumulation, die sich sehr stark auf das fiktive Kapital stützt, ist daher instabil. Die zweite Form der finanziarisierten Akkumulation bezieht sich auf das zinstragende Kapital. Hier stehen die Kreditausweitung und die Unterschiede zwischen Spar- und Kreditzinsen, der so genannte Spread, im Vordergrund. Ein hoher Spread ermöglicht es den Finanzinstitutionen, sich einen beträchtlichen Teil der Mehrwertmasse anzueignen.

Die finanziarisierte Akkumulation hat diverse Folgen für die produktive Akkumulation. Sowohl attraktive Finanzanlagen als auch hohe Zinsen wirken sich dämpfend auf Investitionen in produktiven Bereichen aus. Allerdings kann es über den Schein steigender Vermögen und eine damit steigende Verschuldungsfähigkeit und -bereitschaft auch zu einer Stimulierung des Konsums kommen. Die Ausweitung des Konsumentenkredits kann für eine gewisse Zeit unzureichende laufende (Lohn-)Einkommen kaschieren und einen verhältnismäßig starken Konsum ermöglichen. Ein kreditfinanzierter Immobilienboom kann mit verstärkter Bautätigkeit einhergehen.

Finanziarisierung lässt sich im Hinblick auf ihre soziale Reichweite in eine elitäre und eine massenbasierte Form unterteilen (vgl. Erturk et al. 2008: 15 ff., Lapavitsas 2009, Becker et al. 2010: 230 ff.). In der Vergangenheit waren primär die Bourgeoisie und die obere Mittelschicht – vor allem über Wertpapiere – in Finanziarisierungsprozesse eingebunden. In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten sind in vielen Ländern jedoch immer größere Bevölkerungsgruppen – oft zwangsweise – in Finanziarisierungsprozesse eingebunden worden. Ein zentraler Motor war dabei die Kommerzialisierung der Alterssicherung in Form kapitalgedeckter Pensionfonds (vgl. Lordon 2000, Montagne 2006). Ein zweites Moment war die Ausdehnung von Krediten an Lohnabhängige, sowohl der Mittelschicht als auch der Arbeiterschaft, für den Kauf von Immobilien und Konsumgütern. Die höhere Verschuldung ist oftmals eine Reaktion auf stagnierende oder rückläufige Einkommen. Der kreditfinanzierte Immobilienboom wird vielfach staatlich durch unzureichenden sozialen Wohnungsbau und die steuerliche Förderung von Immobilieneigentum bzw. Hypothekarkrediten gefördert. In Ländern der Peripherie erfolgt diese Verschuldung oftmals in Fremdwährung, US-Dollar oder Euro, weil dies mit niedrigen Zinsen verbunden ist. Da das Einkommen der KreditnehmerInnen aber in nationaler Währung bezogen wird, ist eine Währungsabwertung mit der Zunahme der Schuldenlast verbunden. Ihre soziale Situation ist also an die vorherrschende Währungspolitik gekoppelt (Becker et al. 2010: 230).

Die zweite analytische Unterscheidung betrifft die Form der produktiven Akkumulation. Bei der extensiven Akkumulation stehen die Verlängerung des Arbeitstages und/oder die Erhöhung der Arbeitsintensität im Vordergrund. Bei der intensiven Akkumulation geht es um die Erhöhung des relativen Mehrwertes durch die Verbilligung jener Güter, die den ArbeiterInnenkonsum ausmachen. Hierbei ist vorausgesetzt, dass der ArbeiterInnenkonsum weitgehend aus dem Lohn bestritten wird und Subsistenzwirtschaft kaum mehr eine Rolle spielt. In diesem Fall sind Konsumgüter- und Kapitalgüterindustrie eng miteinander verbunden (Aglietta 1982: 60, Becker 2002: 67 f.). Für (semi-)periphere Ökonomien gilt letzteres allerdings nicht. Hier werden Maschinen meist importiert. Damit ist die Verfügbarkeit von Devisen ein zentraler Engpassfaktor der Akkumulation.

Die dritte Achse unterscheidet Intro- und Extraversion. Hierbei ist zwischen den verschiedenen Arten des Kapitals (Warenkapital, produktives Kapital, Geldkapital…) zu unterscheiden. Denn die Ausrichtung auf den Binnenmarkt bzw. auf Exporte muss nicht für alle Kapitalarten identisch sein. Die Akkumulation kann primär auf den Binnenmarkt zentriert sein, dann spricht man von Introversion. Extraversion bedeutet einen hohen internationalen Verflechtungsgrad. Ist dieser vornehmlich auf den Export bezogen, so wäre von aktiver Extraversion zu sprechen. Bei einer hohen Importabhängigkeit liegt hingegen passive Extraversion vor (Becker 2006 14 f.). Es sind aber auch Mischformen denkbar, wie beispielsweise beträchtlicher Waren- und Geldkapitalimport bei gleichzeitigem Export von produktivem Kapital. Warenexportierende Länder exportieren oft auch Geldkapital. Spiegelbildlich finanziert äußere Verschuldung Importüberschüsse. Strukturelle Abhängigkeit vom Waren- und Kapitalimport (passive Extraversion) war in der Vergangenheit Kennzeichen „dominierter“ oder auch peripherer Ökonomien (Beaud 1987: 76 ff.). Eine Besonderheit des derzeitigen weltwirtschaftlichen Umbruchs ist, dass einige Ökonomien des Zentrums – vor allem die USA und Großbritannien – in ihrer Extraversion Charakteristika einer strukturellen Importabhängigkeit im Warenhandel und beim Geldkapital aufweisen, wie sie eigentlich für periphere Ökonomien kennzeichnend sind (Boratav 2009: 10). Spiegelbildlich weisen einige aufstrebende Länder der Semi-Peripherie außenwirtschaftliche Charakteristika, wie hohe Exportüberschüsse bei Waren und Geldkapital auf, die bislang als Kennzeichen dominierender Ökonomien galten. Diese Paradoxien in der Form der Extraversion dürften auf den Entwicklungstrend dieser Ökonomien – nach unten für die USA und Großbritannien, nach oben für China – in der internationalen Arbeitsteilung verweisen. Für Großbritannien dürfte dies auch für die inner-europäische Arbeitsteilung gelten.

Nicht eine Achse allein ist für die Akkumulation in bestimmten Räumen kennzeichnend. Vielmehr ist der Akkumulationsprozess in den verschiedenen Dimensionen zu analysieren. Für die Analyse der Akkumulationsdynamiken vor der Krise und in der Krise sind vor allem die Achsen produktive/finanziarisierte Akkumulation sowie Intro-/Extraversion von besonderer Bedeutung.

Akkumulationsregime und innereuropäische Arbeitsteilung

In groben Zügen lässt sich eine Polarisierung der EU in einen um Deutschland gruppierten neo-merkantilistischen Block mit hohen Exportüberschüssen und partiellen Tendenzen der Finanziarisierung einerseits und einen von Waren- und Kapitalimporten abhängigen Block mit ausgeprägter Finanziarisierung in den angelsächsischen und baltischen Ländern sowie in Süd- und Südosteuropa andererseits konstatieren. Diese beiden Blöcke sind zwar komplementär, doch haben sich die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte, die schon zuvor vorhanden waren, im letzten Jahrzehnt vertieft. Die Finanziarisierung ermöglichte im letzten Jahrzehnt vor der Krise eine starke Zunahme der Leistungsbilanzüberschüsse bzw. -defizite sowie eine extreme Zunahme der Auslandsverschuldung in den Defizitländern, vor allem an der EU-Peripherie.

Der neo-merkantilistische Block ist um Deutschland herum gruppiert. Sehr eng an das deutsche Produktivsystem sind die die Benelux-Länder, Österreich sowie, in einer stärker peripheren Position, die Visegrád-Länder (vor allem die Tschechische Republik und die Slowakei, in geringerem Maße Polen und Ungarn) und Slowenien gebunden sowie Norditalien (vgl. Mazzocchi 2010: 263 f., Bellofiore et al. 2010: 134). Daneben sind auch die skandinavischen Länder, besonders Schweden, stark neo-merkantilistisch, also auf die Erzielung von Exportüberschüssen, ausgerichtet.

Der deutsche Leistungsbilanzüberschuss stieg von einer ausgeglichenen Leistungsbilanz im Jahr 2000 auf einen Überschuss von 7,7% des BIP im Jahr 2007 (Hein/Truger 2007: 21, Tab., Ederer 2010: 590). Die deutsche Exportdynamik wird von wenigen Branchen, vor allem der Autoindustrie, der chemischen Industrie und dem Maschinenbau, geprägt. Damit hat die Produktionsmittelindustrie im deutschen Export einen herausragenden Stellenwert (Mazzocchi 2010: 261). Der deutsche Neo-Merkantilismus wird durch gravierende Veränderungen im Lohnverhältnis – die Schaffung eines großen Niedriglohnsektors, die drastische Beschneidung der Arbeitslosenversicherung unter dem Siegel Hartz IV – vorangetrieben (vgl. Hein/Truger 2007). Die massenbasierte Finanziarisierung schreitet in Deutschland nur langsam voran, obgleich die rot-grüne Regierung mit der so genannten Riester-Rente Schritte in diese Richtung unternommen hatte. Die Verschuldung der privaten Haushalte veränderte sich zwischen 1995 und 2005 nicht signifikant (Stockhammer2009: 22, Tab. 1). Im Bereich der elitären Finanziarisierung sind allerdings seit den 1990er Jahren signifikante Veränderungen festzustellen. Die Banken lösten sich von der engen Verbindung mit der Industrie und reorientierten sich zunehmend auf Finanzmarktgeschäfte gerade auch im Ausland. Diese Verschiebung wurde durch eine Re-Regulation des Finanzbereiches durch die deutsche Bundesregierung systematisch gefördert (Sablowski 2008: 145 ff.).

Die Benelux-Länder sowie Österreich waren und sind eng an das deutsche Produktivsystem gebunden. Alle diese Länder weisen, ähnlich wie Deutschland, neo-korporatistische Elemente auf, die eine restriktive Lohnpolitik erleichtern. Die niederländische Ökonomie ist ihrerseits durch hohe Exportüberschüsse, allerdings auch alle Formen der Finanziarisierung, gekennzeichnet. Die Verschuldung der privaten Haushalte in den Niederlanden ist eine der höchsten in der EU (Becker 2010a: 11). Österreich nahm und nimmt in der innereuropäischen Arbeitsteilung eine Scharnierfunktion ein. Einerseits ist die österreichische Industrie eng in die deutschen Produktionsketten eingebunden, andererseits erzielt Österreich hohe Exportüberschüsse im Handel mit Osteuropa. In Österreich ansässige Unternehmen, vor allem die Banken, expandierten stark nach Osteuropa. Im Güterhandel mit Deutschland verzeichnete Österreich 2007 ein Defizit von 13 Mrd. Euro, im Osteuropa-Handel hingegen einen Überschuss von 8,7 Mrd. Euro. Sehr hoch waren die österreichischen Überschüsse in der Einkommensbilanz mit Osteuropa (6,2 Mrd. Euro), vor allem aufgrund der hohen Gewinnrepatriierung (Altzinger 2008: 36, Tab. 2).

Den nächsten Ring des Deutschland-zentrierten Produktivsystems bilden die Visegrád-Länder und Slowenien. Der industrielle Export mit einer starken Orientierung auf Westeuropa und die Integration in deutsche Produktionsketten ist für diese Länder kennzeichnend. In den kleinen Ländern, vor allem der Slowakei, ist die Exportpalette stark auf die deutsche Autoindustrie ausgerichtet. Mit Ausnahme Sloweniens – und partiell Polens – dominieren transnationale Konzerne die industrielle Exportproduktion (vgl. Becker 2008: 6 ff., Myant/Drahokoupil 2011: 70 ff., 303 ff.). Exportüberschüsse erzielte vor der Krise allein die Tschechische Republik, die Leistungsbilanz war in allen genannten Ländern negativ, vor allem aufgrund der Gewinnrepatriierung der transnationalen Konzerne. Das Wachstum war zudem durch zunehmende Privatverschuldung und einen Immobilienboom getragen. Mit Ausnahme Ungarns erfolgte die Verschuldung der Haushalte allerdings überwiegend in einheimischer Währung (Becker 2010b: 518 ff.).

Ein Stück weit ist auch Nordost-Italien in das deutsch-zentrierte Produktivsystem eingebunden (Mazzocchi 2010: 261). Teile der italienischen Ökonomie sind eher exportorientiert. Allerdings ist die wirtschaftliche Entwicklung in Italien seit mehr als einem Jahrzehnt durch niedriges Produktivitäts- und Wirtschaftswachstum sowie ein Zurückfallen in der internationalen Arbeitsteilung gekennzeichnet (Barucci/Pierobon 2010: 34 ff.). Die Finanziarisierung ist in Italien eher schwach ausgeprägt, die Bankenpolitik konservativ.

Als neo-merkantilistisch kann auch die Entwicklung der skandinavischen Länder bezeichnet werden. In Schweden herrschte in den 1980er Jahren bis zur Finanzkrise zu Beginn der 1990er Jahre ein finanziarisiertes Modell vor. Die damalige Finanzkrise beförderte aber die Reorientierung auf eine stärker produktiv geprägte, exportorientierte Entwicklung. Im schwedischen Fall wurden die Exportüberschüsse zunächst durch eine starke Abwertung zu Beginn der 1990er Jahre beschleunigt. Der Abwertungseffekt wurde dann durch eine restriktive Lohnpolitik befestigt (Vidal 2010). Die schwedischen Banken expandierten stark nach Osteuropa, vor allem in die baltischen Länder, wo sie ein extrem finanziarisiertes Akkumulationsmodell finanzierten.

Die Gruppe der primär finanziarisierten Ökonomien ist durch weit geringere wirtschaftliche Verflechtungen als der deutsch-zentrierte produktive Block und durch eine größere Heterogenität geprägt.

Die britische Ökonomie weist seit langem eine starke Prägung durch die Londoner City und damit durch Tendenzen der Finanziarisierung auf. Die britische Wirtschaftspolitik ist auf die Londoner City ausgerichtet. Als das britische Finanzzentrum Anfang der 1990er Jahre gegenüber den US-Konkurrenten ins Hintertreffen zu geraten drohte, setzte der damalige britische Finanzminister Gordon Brown darauf, dessen Position über eine noch weiter liberalisierte Regulierung wieder zu stärken. Für internationale, speziell US-Banken, wurde London ein „Platz an dem man tun konnte, was zuhause nicht erlaubt war“ (Gowan 2009: 28). Zusammen mit New York dominierte der Finanzplatz London das Geschäft bei der Begebung von Anleihen, der Emission von Aktien und speziell das Derivate-Geschäft. Die eng mit dem irischen Finanzsektor verbundene irische Regierung verfolgte eine ähnliche Ausrichtung. Das irische Wachstum war ab etwa 2002 primär von der raschen Expansion des Banken- und Immobiliensektors getragen (Lynch 2010: 152 ff.). Beide angelsächsische Länder wiesen eine hohe und beschleunigte elitäre und massenbasierte Finanziarisierungstendenz auf. Die Verschuldung der privaten Haushalte zählte 2005 in Großbritannien mit 159 % und in Irland mit 141 % der verfügbaren Einkommen zu den höchsten in der EU (Stockhammer 2009: 22, Tab. 1). Diese Verschuldung war eng mit einem überbordenden Immobilienboom verbunden. Die Wohnungspreise stiegen zwischen 1997 und 2006 in Irland um 253% und in Großbritannien um 194% – und damit wesentlich schneller als in den USA mit „nur“ 124% (Mazzocchi 2010: 249 f.). Die Finanziarisierung war in Großbritannien mit dem weiteren Bedeutungsverlust der ohnehin rachitischen Industrie sowie strukturellen Leistungsbilanzdefiziten verbunden. Irlands durch transnationales Kapital dominierte Industrie erzielte zwar – möglicherweise durch konzerninterne Verrechnungspreise aufgeblähte – Handelsbilanzüberschüsse, gleichzeitig gab es aber extrem hohe Gewinnrepatriierungen (Becker 2010c: 4). Die Leistungsbilanz war zwar nur leicht in den roten Zahlen, der Refinanzierungsbedarf des Bankensektors in Irland jedoch sehr hoch. Sowohl Großbritannien als auch Irland müssen zu den Extremfällen der Finanziarisierung gezählt werden.

Die französische Entwicklung zeichnet sich durch eine deutlich moderatere Finanziarisierung aus, die vor allem die elitäre Finanziarisierung und eine Neuausrichtung des Finanzsektors betrifft (Becker 2010a: 11). Die verarbeitende Industrie ist in Frankreich deutlich stabiler als in Großbritannien, obgleich auch hier der Industrieanteil am BIP in den letzten 35 Jahren um 3,9 Prozentpunkte auf 16,7 % im Jahr 2008 zurückgegangen ist (Péléraux/Plane 2010: 64). Das ist allerdings statistisch teilweise auch auf die Ausgliederung von Dienstleistungsaktivitäten aus Industrieunternehmen zurückzuführen. Die französische Industrie ist weniger einseitig als die deutsche auf Fahrzeug- und Maschinenbau orientiert. Allerdings verlor die französische Industrie aufgrund des aggressiven deutschen Neo-Merkantilismus ab 2002 Marktanteile und die französische Handelsbilanz wurde kurz darauf auch negativ (ibid.: 67 f.). Im Vergleich zu anderen EU-Ökonomien ist die Finanziarisierung in Frankreich als begrenzt, die Wirtschaftsentwicklung als weniger außenorientiert einzuschätzen.

Deutlicher als in Frankreich sind Finanziarisierungstendenzen, vor allem über steigende Privatverschuldung und Immobilien, in Verbindung mit hohen Leistungsbilanzdefiziten in den eher peripheren Ökonomien in Süd- und Südosteuropa sowie den baltischen Ländern ausgeprägt. Diese Ökonomien wurden durch die liberale Integrationspolitik stark auf die Rolle als Absatzmärkte für die neo-merkantilistischen Ökonomien und seit den 1990er Jahren auch zunehmend als Destination für Kapitalexporte festgelegt. In Südeuropa wurde diese Rolle durch den Beitritt zur Währungsunion zementiert. Aus deutscher Sicht ist es primärer Sinn der Währungsunion, kompetitive Abwertungen durch periphere EU-Länder zu verhindern (vgl. Bellofiore et al. 2010: 141). Der EU-Beitritt war in Spanien, Portugal und Griechenland mit Phasen der teilweisen De-Industrialisierung verbunden (vgl. Müller/Schneider 2010: 282, Stathakis 2010: 111 f., Etxezarreta 1991: 72 ff., Santos/Jacinto 2006). Der Beitritt zur Euro-Zone zementierte die Schwäche der produktiven Sektoren. Die portugiesische Ökonomie verkraftete den Beitritt zur Euro-Zone besonders schlecht, das Wachstum liegt seit 2002 unter dem EU-15-Durchschnitt (Romão 2006: 36). In Spanien und Griechenland waren die Wachstumsraten günstiger. Allerdings war das Wachstum nicht von den produktiven Sektoren getragen. In Spanien war ein kreditfinanzierter Immobilienboom Hauptwachstumsfaktor (Outes Ruso 2009, Rosell Trigo 2010: 13). Auch in Griechenland stieg die Privatverschuldung rasch, allerdings von einem niedrigen Ausgangsniveau aus. Auch die Ausweitung der Staatsausgaben, die allerdings nicht mit einer entsprechenden Stärkung der Steuereinnahmen verbunden war, trug hier zum Wachstum bei (Stathakis 2010: 111 ff.). Es gab deutliche Kennzeichen einer massenbasierten Finanziarisierung, wenngleich sich die Banken bei riskanten Wertpapiergeschäften zurückhielten, in Spanien durch die Bankenaufsicht auch direkt an solchen Geschäften gehindert wurden. Die Wirtschaftsentwicklung war mit hohen, im Fall Spaniens und Griechenlands stark steigenden Handels- und Leistungsbilanzdefiziten verbunden. Das portugiesischen Leistungsbilanzdefizit bewegte sich im Jahrzehnt vor der aktuellen Krise bei etwa 10% des BIP, das spanische Leistungsbilanzdefizit stieg bis 2007 auf 9,5%, das griechische sogar auf 14,7% des BIP an (EuroMemo Group 2010: 11, Tab. 4, Ederer 2010: 590). Diese Verschlechterung der Leistungsbilanzdefizite erfolgte spiegelbildlich zum Aufbau der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse. Finanziert wurden die Leistungsbilanzdefizite durch eine rasche steigende Auslandsverschuldung.

Noch deutlich stärkere Defizite im produktiven Bereich kennzeichnen die Akkumulationsregime einer abhängigen Finanziarisierung in Südosteuropa und den baltischen Ländern (Becker 2008: 7 ff.). Hier optierten die Regierungen für Wechselkursregime, die mit einer überbewerteten Währung verbunden waren: teils in Form fixer Wechselkurse (baltische Länder, Bulgarien – z.T. in Form eines Currency Boards, das keine Spielräume für eine autonome Geldpolitik lässt), teils in Form formal flexibler Wechselkurse in Verbindung mit sehr hohen Zinsen (Rumänien, Ungarn), was zu realen, im Fall Rumäniens zu einer extrem hohen nominalen Aufwertung führte. Die Wechselkurs- und Geldpolitik zog Geldkapital an. Dieses wurde vom weitgehend von westeuropäischen Finanzhäusern kontrollierten Bankensektor vornehmlich für Konsum und Immobilien weiter verliehen. Die private Verschuldung stieg rasant an und erfolgte hochgradig in Fremdwährung. Damit waren die MittelschichtsschuldnerInnen eng an den überbewerteten Wechselkurs und die entsprechende Wirtschaftspolitik gebunden, da ihnen im Fall einer Währungsabwertung eine deutlich steigende Schuldenbelast drohte.

Die überbewerteten Währungen und damit verbundene Verbilligung der Importe schwächte die Industrie weiter, die die Transformationskrise der frühen 1990er Jahre schon stark geschädigt hatte. Die Leistungsbilanzdefizite in der Region erreichten Rekordhöhen: in Lettland und Bulgarien in den Vorkrisenjahren über 20% des BIP (Becker 2010b: 522). Speziell in den baltischen Ländern mit ihrer extrem liberalen Wirtschaftspolitik kam es zur explosiven Verbindung von sehr hoher Auslandsverschuldung mit oftmals kurzfristiger Fälligkeit, einer hohen Fremdwährungsverschuldung im Inland und sehr hohen Leistungsbilanzdefiziten. Damit war wirtschaftspolitisch eine extreme Krisenanfälligkeit hergestellt worden, die aber im Diskurs negiert wurde. Als anfällig war auch Bulgarien anzusehen. Auch hier verbanden sich extreme Leistungsbilanzdefizite mit hoher Verschuldung. Das hinderte Meinardus nicht daran, noch 2009 die bulgarische Wirtschaftsentwicklung der Vorkrisenjahre als „stabile Makro-Ökonomie und dynamische Entwicklung“ (Majnardus 2009: 12) zu bezeichnen. Es handelte sich hierbei um Pseudo-Stabilität auf einer nicht tragfähigen Grundlage.

Die massenbasierte Finanziarisierung stimulierte bzw. stabilisierte den Konsum angesichts sinkender bzw. in Osteuropa in den 1990er Jahren sehr stark gesunkener Lohnquoten (vgl. Stockhammer 2009). An dieser Konsumnachfrage partizipierten die Industrien des neo-merkantilistischen Blocks. Die hohen strukturellen Leistungsbilanzdefizite, die mit Modellen abhängiger Finanziarisierung und passiver Extraversion verbunden waren, wurden durch Kreditflüsse aus den Zentrumsökonomien finanziert. Im März 2010 beliefen sich die Verbindlichkeiten Griechenlands, Irlands, Portugals und Spaniens bei Auslandsbanken auf insgesamt 2.566 Mrd. US$, wobei allein etwa ein Fünftel auf deutsche Banken entfielen, knapp gefolgt von französischen und dann britischen Banken (EuroMemo Group 2010: 8, Tab. 1). In Osteuropa (einschließlich Russlands, der Ukraine, der Türkei und anderen Nicht-EU-Ländern) stellte sich die Reihenfolge etwas anders dar. Hier entfielen Ende 2007 18,6% der Verbindlichkeiten gegenüber Auslandsbanken auf österreichische Banken, gefolgt mit 14,2% von deutschen und 13,6% von italienischen Instituten. Dies ist Folge der extremen Präsenz der österreichischen Banken in der Region (Maechler/Ong 2009: 13, Tab. 2). Ohne die starke Ausweitung der Kreditvergaben, die ein Ausdruck der internationalisierten Finanziarisierung war, wären für die Länder mit aktiver Extraversion derart starke Steigerungen der Leistungsbilanzüberschüsse nicht möglich gewesen. Spiegelbildlich hätten die Länder mit passiver Extraversion und abhängiger Entwicklung nicht derart hohe Handels- und Leistungsbilanzdefizite aufbauen können. Die Spannungen zwischen Zentrums- und Peripherieländern wurden durch Kreditexpansion kaschiert, obwohl sie sich schon im Jahrzehnt vor der Krise aufgebaut hatten.

Krisenverläufe in der EU

Im Verlauf der aktuellen Krise brachen diese Spannungen offen aus. Die EU-Länder waren von der Krise zu unterschiedlichen Zeitpunkten, mit unterschiedlichen Verläufen und unterschiedlicher Intensität betroffen (vgl. überblicksmäßig Becker 2010a, Mazzocchi 2010).

In den USA begann die Krise bereits 2007. Großbritannien und Irland, die im Hinblick auf die Finanziarisierung große Ähnlichkeiten zu den USA aufweisen, gerieten analog in die Krise. Im britischen Fall wurden bereits Anfang 2008 Insolvenzprobleme – also strukturelle Überschuldungen – im Bankensektor deutlich. In Spanien begann ähnlich wie in den USA, Großbritannien und Irland die Immobilienblase zu platzen. Die baltischen Länder konnten ihren Finanz- und Immobilienboom nicht mehr wie gewohnt weiter finanzieren. Bei Ländern mit besonders ausgeprägter Finanziarisierung – baltische Länder, Irland, Großbritannien, Dänemark – schrumpfte das BIP bereits 2008 auf das Gesamtjahr gerechnet (Ederer et al. 2010: 874, Tab. 1).

Der Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers im September 2008 markierte eine Eskalation der Krise. Derivate in ihren verschiedenen Ausprägungen – vorher als innovativ gelobt, jetzt als „toxisch“ gebrandmarkt – erwiesen sich als Heißluftnummern, brachen preislich ein und erwiesen sich vielfach als unverkäuflich. Aktiennotierungen fielen steil ab. Eben dann als Liquidität gefragt war, schwand sie dahin. Der Interbankenkredit geriet ins Stocken. Der Ansteckungseffekt über Entwertung der Derivate und zunehmende Refinanzierungsprobleme betraf vor allem Banken in Nordwesteuropa. Dies wird am Umfang der Stützungspakete für die Banken (und zuweilen auch Versicherungen) – Garantien, Staatsbeteiligungen, staatliche Rekapitalisierungen – sehr deutlich. Hier nehmen Irland und Großbritannien Spitzenpositionen ein, gefolgt von den Benelux-Ländern. Eine mittlere Gruppe wurde von Deutschland, Frankreich und Österreich gebildet (Panetta et al. 2009: 13, Tab. 1.2, Europäische Zentralbank 2009: 77, Tab. 2, Becker/Jäger 2010: 18, Mazzochi 2010: 258 ff.). In Süd- und Osteuropa spielten hingegen die Verluste auf den Derivatmärkten keine relevante Rolle.

Die Länder mit abhängiger Finanziarisierung waren allerdings durch das Ausbleiben der gewohnten Zuflüsse bzw. durch plötzliche Kapitalabflüsse, um den Liquiditätsbedarf in den Zentrumsökonomien zu befriedigen, bereits im Herbst 2008 stark betroffen. Ihr Wirtschaftsmodell war völlig von Kapitalzuflüssen abhängig. Ausbleibende Kapitalzuflüsse bzw. plötzliche Abflüsse führten zu Währungsabwertungen (Ungarn, Rumänien) bzw. stellten die fixen Wechselkurse infrage (baltische Länder, Bulgarien). Die plötzliche Abwertung des Forint brachte das ungarische Kreditsystem ins Wanken (Andor 2009, Becker 2009: 101 ff.). In Lettland geriet einer der größten Banken ins Trudeln, das lettische Wechselkursregime war infrage gestellt. Beide Länder suchten um Stützungskredite des Internationalen Währungsfonds und der EU nach. Diese waren mit der Auflage einer extremen Sparpolitik verbunden. Von den osteuropäischen EU-Ländern folgte später noch Rumänien mit einem IWF/EU-Austeritätsprogramm (Becker 2009: 102 ff., Becker 2010b: 529 ff., Galgóczi 2009). Auch die Länder ohne IWF-Programme konzipierten ihre Wirtschaftspolitik nach demselben Muster. Ausgehend vom Finanz-/Immobiliensektor brachen auch die Aktivitäten anderer Wirtschaftssektoren ein. Die extreme Austeritätspolitik implizierte einen starken Rückgang der privaten Binnennachfrage. Die baltischen Länder wiesen 2009 die höchsten Rückgänge des BIP auf: Lettland -18,0%, Litauen -14,7% und Estland -13,9% (Ederer et al. 2010: 874, Tab. 1). Auch 2010 war in diesen Ländern keine ernsthafte Erholung erkennbar. In Rumänien ging das BIP um 7,1% zurück, in Bulgarien um moderatere 4,9% (Ederer et al. 2010: 874, Tab. 1). Auch in diesen beiden Ländern ist die Krise nicht ausgestanden. Die Euro-Länder Südeuropas waren von dieser Phase der Kreditverknappung nicht so stark betroffen. Die Rückgänge des BIP lagen in Spanien mit - 3,9%, in Portugal mit - 2,6% und in Griechenland mit - 2,0% sogar unter dem EU-Durchschnitt (ibid.: 874, Tab. 1). Die direkte Ansteckung spielte hier keine Rolle, Währungsabwertungen drohten nicht und auch der Rückgang der Exportnachfrage wirkte sich angesichts der Exportschwäche nicht so dramatisch aus.

Die südeuropäischen Länder – beginnend mit Griechenland – wurden erst 2010 über den Kreditkanal massiv unter Druck gesetzt. Anlass war die hohe griechische Staatsverschuldung und die Verschönerung der griechischen Daten zum Budgetdefizit. Das Budgetdefizit führte zur Herabsetzung der Kreditratings und zu steigenden Zinsaufschlägen. Allerdings ist die Gruppe bezüglich der Verschuldungsdaten nicht homogen. Die spanische Staatsverschuldung ist im Vergleich deutlich unterdurchschnittlich. Steigende Staatsschulden sind Folge der Wirtschaftskrise, nicht ihr Grund. Gemeinsam sind den Ökonomien Griechenlands, Portugals und Spaniens hingegen hohe strukturelle Handels- und Leistungsbilanzdefizite sowie niedrige Steuern und damit verbunden niedrige Steuerquoten von nur ca. 20% des BIP (Švihlíková 2010: 99 f.). Damit sind auch sie strukturell abhängig von Kapitalzuflüssen und verwundbar durch spekulativen Attacken (Becker/Schlager 2010: 79). Die sozialdemokratischen Regierungen dieser Länder sahen sich mit verteuerter Kreditaufnahme konfrontiert und starkem Druck seitens der Banken, der Europäischen Kommission, der Regierungen der EU-Zentrumsstaaten sowie des IWF ausgesetzt, auf strikte Austeritätspolitik umzuschwenken. Dies führt absehbar zu einem weiteren Einbruch der Binnennachfrage und zu erneuter Rezession. Für Griechenland wird für 2010 mit einem BIP-Rückgang von 3,8% die stärkste Rezession unter den EU-Ländern geschätzt (Ederer et al. 2010: 874, Tab. 1). Auch Irland geriet im Herbst 2010 unter Druck der Banken. Hier ist aufgrund der extremen Überschuldung der Banken und Haushalte die wirtschaftliche Situation wesentlich dramatischer als in den südeuropäischen Ländern. Die Bankenstützung ließ in Irland das Budgetdefizit auf 32% des BIP hochschnellen (Becker 2010c: 4). Auch Irland befindet sich in der prolongierten Rezession.

Der krisenbedingte Rückgang der Exporte hat vor allem die neo-merkantilistischen Ökonomien, kaum aber die südeuropäischen Ländern Griechenland, Spanien und Portugal getroffen. Besonders stark war der Einbruch bei der deutschen Industrie mit ihrer Ausrichtung auf Investitionsgüter und Autos. Beide Bereiche waren besonders stark von der Krise betroffen. Der Rückgang der deutschen Exportproduktion schlug binnen kurzem auf die Exportindustrien in den eng mit Deutschland verbunden Ökonomien durch (Mazzocchi 2010: 261 ff.).

In den Ländern des neo-merkantilistischen Blocks war insgesamt Ende 2008/Anfang 2009 eine starke Rezession festzustellen, die ihren Ausgangspunkt im Exportsektor hatte, der seinerseits mit stark rückläufigem Absatz infolge der zusammenbrechenden Spekulationsblasen und Investitionen sowie der Konsumnachfrage bei dauerhaften Konsumgütern wie Autos betroffen war. In den Ländern mit ausgeprägter Exportorientierung und geringer Verschuldung der privaten Haushalte wurde der Abschwung durch die relativ stabile private Binnennachfrage etwas abgefangen. In der Leitökonomie Deutschlands ging das BIP trotz relativ stabiler Binnennachfrage aufgrund der extremen Extraversion 2009 mit -4,7% überdurchschnittlich zurück, aber auch die Finanzkrise traf die deutschen Banken ähnlich wie die österreichische Institute signifikant. Noch stärker waren die Finanzsektoren der Benelux-Länder betroffen. Sehr hoch waren 2009 auch die BIP-Rückgänge in den kleinen hoch spezialisierten, mit Deutschland eng verbundenen Ökonomie der Slowakei (-4,7%) und Sloweniens (-8,1%; Ederer et al. 2010: 874, Tab. 1). Die Rückgänge in den westeuropäischen Ländern waren geringer. In der Tschechischen Republik und in Polen wurden die Wirkungen des Exporteinbruchs durch die deutliche Währungsabwertung abgemildert (Workie et al.2009: 96, 101). In den osteuropäischen Ökonomien spielte bei der wirtschaftlichen Abschwächung bzw. Rezession auch das Platzen der Immobilienblasen und des damit verbunden Baubooms eine Rolle.

In den neo-merkantilistischen Ökonomien setzte in der 2. Jahreshälfte 2009 eine allmähliche Erholung ein, die vom Export getragen war. Hierbei spielte für die deutsche Ökonomie vor allem der steigende Export nach Ostasien – primär China – eine zentrale Rolle. Die Exporte in die Euro-Zone machten im 3. Quartal 2010 nur noch 40% des deutschen Gesamtexportes aus, weitere 20% gingen in die EU-Länder außerhalb der Euro-Zone (o.A. 2010: 11). Trotzdem ist der deutsche Export in die EU nicht zu vernachlässigen. Und aufgrund der generalisierten Sparpolitik in der EU-Peripherie, aber auch in Großbritannien, ist in diesen Ländern mit einer erneuten Rezession (bzw. deren Vertiefung) zu rechnen (vgl. OFCE 2010: 5), was auf die neo-merkantilistischen Ökonomien zurückschlagen wird.

In den stark finanziarisierten Ökonomien war der Finanzkanal für die Krisenausbreitung entscheidend. Hier ging auch die Binnennachfrage zurück, bedingt durch die restriktivere Kreditvergabe und die hohe Verschuldung der Haushalte. In den baltischen Ländern war die Rezession extrem. Insgesamt waren Rezession und Stagnation in den Ländern mit stark finanziarisierter Ökonomie anhaltender als in den neo-merkantilistischen Ökonomien. Der Hauptpfeiler des finanziarisierten Akkumulationsmodells ist schwer angeschlagen. Die extreme Austeritätspolitik zementiert die rezessiven Tendenzen in Großbritannien, Irland, Spanien, Portugal und Griechenland, aber auch in den Ländern mit abhängiger Finanziarisierung in Osteuropa (vgl. Ederer et al. 2010: 878 f.). In diesen Ländern ist meist auch die Arbeitslosigkeit stark gewachsen und erreicht in Spanien und im Baltikum bereits eine Rate von 20%, bei Jugendlichen sogar von 40% (Ederer et al. 2010: 883, Becker 2010b: 524).

Relativ gut mit der Krise sind jene Länder fertig geworden, die nicht so stark außenorientiert waren, keine extreme Verschuldung der Haushalte aufgewiesen haben und eine relativ diversifizierte produktive Struktur hatten: Polen, dessen Ökonomie als einzige EU-Wirtschaft 2009 nicht schrumpfte, und Frankreich (Becker 2010a: 13, 15).

Anti-Krisen-Politik

Im Fokus der Anti-Krisen-Politik stand in der EU der Finanzsektor. Erste tiefe Eingriffe nahm die britische Regierung – wie die Nationalisierung von Northern Rock – bereits im Frühjahr 2008 vor (Gowan 2009). Auch die EZB begann ihre Geldpolitik, wenngleich deutlicher langsamer als die US-Zentralbank, nach dem Beginn der Finanzkrise im Jahr 2007 zu verändern.

Die Intensität der Stützungsmaßnahmen für den Finanzsektor verstärkte sich nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008. Die irische Regierung verkündete in einer Panikreaktion kurz darauf eine Garantie für alle Einlagen. Andere EU-Regierungen setzten daraufhin ihre Staatsgarantien für Einlagen ebenfalls hoch, um Abzügen von Spareinlagen vorzubeugen. Zu einem Abstimmungsprozess auf EU-Ebene kam es erst mit zeitlicher Verzögerung. Dies war auch in anderen Bereichen der Fall. Die Reaktion auf die Krise erfolgte zunächst auf Ebene der Nationalstaaten, erst danach folgte eine Politikabstimmung auf EU-Ebene (vgl. Becker 2010a: 16 ff., Mazzocchi 2010: 269 ff).

Dieses Muster galt auch für die direkt Stützung des Bankensektors. Hierüber wurden die Entscheidungen im exklusiven Kreis von Vertretern der Finanzministerien, der Zentralbanken und der privaten Banken auf nationalstaatlicher Ebene getroffen. Erst danach wurde auf EU-Ebene ein Rahmen abgesteckt, der die unbedingte Stützung der „systemwichtigen“ Banken beinhaltete. Diese Entscheidung fiel zunächst in der Gruppe der Mitgliedsstaaten der Euro-Zone plus Großbritannien. Damit waren die meisten osteuropäischen Länder bei dieser Sitzung nicht dabei. Auf den Finanzierungsbedarf in Devisen, wie ihn osteuropäische Länder mit hoher innerer Fremdwährungsverschuldung haben, wurde bei dieser Entscheidung nicht eingegangen (Becker 2010a: 17).

Auf nationalstaatlicher Ebene wurden oftmals im engsten Kreis Entscheidungen über Dutzende von Milliarden Euro innerhalb von Stunden gefällt. In den nordwesteuropäischen Ländern ging es hier um besonders hohe Beträge: In Großbritannien beliefen sich die Stützungsmaßnahmen einschließlich Garantien bereits 2009 auf 44,1% des BIP (Panetta et al. 2009: 13, Tab. 1.2.). Durch die Stützungsmaßnahmen wurde laut einem EZB-Bericht aus dem Jahr 2009 der öffentliche Schuldenstand in den Niederlanden um 18,2% des BIP, in Luxemburg um 8,3% und in Belgien um 7,4% des BIP erhöht (Europäische Zentralbank 2009: 77, Tab. 2) – die Stützung der Fortis-Bank war für die Benelux-Länder sehr teuer. Für Deutschland waren die entsprechenden Werte 2,9%, und für Frankreich 3,9% (ibid.). In Irland schlug die direkte Bankenstützung dann 2010 mit etwa 20% des BIP direkt zu Buch, nach nicht geringen Ausgaben bereits 2009. Irland war 2009 der Spitzenreiter bei den tatsächlich gewährten Garantien – 214,8% des BIP. Unter den Euro-Zonen-Ländern folgten auf Irland Belgien mit 21,0%, Luxemburg mit 12,8%, Österreich mit 6,6% und Deutschland mit 6,3% des BIP. Bei den Angaben bis in das 1. Semester 2009 kam die Europäische Zentralbank (2009: 77, Tab. 2) auf eine Erhöhung des öffentlichen Schuldenstandes im Euro-Währungsgebiet um 3,3% des BIP und eine Erhöhung der Eventualverbindlichkeiten durch tatsächlich geleistete Garantien um 7,5% des BIP. Dies sind jedoch nur die Anfangswerte. Trotz der enormen Summen, um die es hierbei als Folge der hohen Inflation bei den Finanzaktiva in den Vorkrisenjahren geht, gibt es über die Bankenstützungen – vielleicht mit der beschränkten Ausnahme des besonders krassen Falls Irlands – kaum eine öffentliche Debatte. Die Probleme inflationär aufgeblähter Aktiva und struktureller Überschuldung eines Teils der Banken und privaten SchuldnerInnen werden so nicht angegangen. Der Schein normaler Aktivität wird aufrechterhalten, zu einer realen Finanzierung produktiver Aktivitäten sind die Banken aber nicht mehr in der Lage (Toporowski 2010a: 31).

Die Stützungen waren nur im geringen Ausmaß mit Auflagen verbunden, obgleich es durchaus unterschiedliche Nuancierungen im Detail gab (Weber/Schmitz 2010). Die Re-Regulierung der Finanzmärkte beschränkte sich in der EU auf kleinere Anpassungen – vor allem in der Organisation der Aufsicht und der Begrenzung des Kredithebels bei Finanzgeschäften. Für Redak/Weber (2010) bedeutet das im Kern die „Fortschreibung des Status quo“ und bleibt, wie die EuroMemo Group (2010: 26) feststellt, noch „hinter den milden US-Reformen zurück“. Gegen ernsthafte Verschärfungen der Finanzmarktregulierung hat sich mit besonderer Vehemenz die britische Regierung gewehrt. Aber letztlich sind auch die Regierungen Deutschlands und Frankreichs, obgleich sie sich regulierungsfreundlicher geben, nicht an einer ernsthaften Infragestellung des Status quo interessiert, da ihre Ökonomien über Finanzgeschäfte und die Exporte in hoch-finanziarisierte Ökonomien selbst in den Finanziarisierungsprozess eingebunden sind und diesen in der Vergangenheit auch aktiv vorangetrieben hatten. In Details gibt es allerdings durchaus Differenzierungen.

Die Politik der EZB, die erst spät auf Zinssenkungen und auf vermehrte Liquiditätsversorgung, auch unkonventioneller Art, setzte, zielt anscheinend primär auf eine Politik der Stabilisierung und möglichst der erneuten Inflation der Preise bei Finanzaktiva – also auf die Fortschreibung eines gescheiterten Akkumulationsmodells. Dies scheint bezogen auf die Kernländer der EU auch insgesamt das Ziel der wichtigsten EU-Regierungen und EU-Institutionen zu sein. Diese Politik genießt Unterstützung bis weit in die Mittelschichten hinein. Besonders eng ist die Bindung an eine solche Ausrichtung in stark finanziarisierten Ökonomien mit privatisierter Alterssicherung und hoher Hypothekarverschuldung. Dies drückt sich zum Teil auch bereits erkennbar im Wahlverhalten aus. Die hohen Wahlergebnisse für die traditionell (rechts-)liberale und die neue liberal-rassistische Partei und die sich auf diese Parteien stützende Regierung in den Niederlanden lassen sich als Ergebnis dieser Bindung der Mittelschichten an die Finanziarisierung interpretieren. Im benachbarten Flandern punktete eine liberale Ausprägung des flämischen Nationalismus in den Wahlen während der Krise besonders stark. Die Verbindung von (Neo-)Liberalismus und Wohlstandschauvinismus könnte sich in wohlhabenden EU-Regionen als politische Krisengewinnerin herausstellen.

Verglichen mit den Anstrengungen in der Finanzsphäre erscheint die konjunkturelle Belebung der produktiven Ökonomie zweitrangig. Politische Forderungen in dieser Richtung wurden vor allem von Seiten einzelner Industriebranchen (z.B. Autoindustrie) und Gewerkschaften artikuliert. Das geldpolitische Instrumentarium scheint allerdings bei der konjunkturellen Belebung – wegen der extrem niedrigen Zinsen - nicht mehr zu greifen. Damit würde die Fiskalpolitik an Bedeutung gewinnen (OFCE 2010: 5).

Anti-zyklische Fiskalpolitik war politisch weit umstrittener als die Bankenstützung. Die deutsche Bundesregierung mit ihrer neo-merkantilistischen Ausrichtung wandte sich sowohl gegen Forderungen nach einer besonders expansiven Fiskalpolitik in Deutschland als auch gegen entsprechende ernsthafte Bemühungen auf EU-Ebene, wie von Frankreich angeregt (siehe Laurent/Le Cacheux 2010: 3). Zwar wurde auf EU-Ebene ein gemeinsamer Rahmen formuliert, der EU-Stimulus aber war nicht mehr als die Aggregation nationaler Programme. Diese bewegten sich für 2009 und 2010 für die Kernländer der EU zwischen 0,2% (Italien) und 2,6% des BIP (Deutschland; Watt/Nikolova 2009: 12, Tab. 2) – also in einer viel kleineren Größenordnung als die Bankenstützungspakete. Die Maßnahmen waren strukturkonservativ ausgelegt und setzten kaum ökologische Impulse. So ging die Unterstützung für die produktiven Sektoren vor allem an die Autoindustrie.

Für die osteuropäischen Länder mit abhängiger Finanziarisierung war eine vorsichtige fiskalische Stimulierungspolitik von vorne herein keine Vorgabe. Die Ausweitung des Kreditrahmens für EU-Länder außerhalb der Euro-Zone knüpfte die EU an eine verschärfte Aufsicht. Die gemeinsam von IWF und Europäischer Kommission geschnürten Stützungsprogramme für Ungarn, Lettland und Rumänien waren mit extremer Austeritätspolitik verbunden (Galgóczi 2009, Becker 2010b: 530 ff.). Höchstes Ziel war aus Sicht der Europäischen Kommission, aber auch westeuropäischer Regierungen, die Beibehaltung der Währungsparität. Dies lag im Interesse der westeuropäischen Banken, die in der Region engagiert sind. Eine Währungsabwertung würde eine Entwertung der Aktiva in der Region und große Zahlungsschwierigkeiten für die SchuldnerInnen bei Fremdwährungskrediten bedeuten. Auch die in Devisen verschuldete Mittelschicht ist für die Stabilisierung der Wechselkurse. Daher ist diese Facette der Politik in den genannten osteuropäischen Ländern auch kaum in Frage gestellt worden.

Da eine Abwertung so ausgeschlossen wurde, galt nun die so genannte „innere Abwertung“, also Deflation, als Ausweg. Kernelement der deflationär ausgerichteten Politik war eine extrem restriktive Fiskalpolitik, vor allem eine Senkung der Gehälter im öffentlichen Dienst (sehr drastisch in Lettland und Rumänien) und der Sozialleistungen. Dies sollte eine Minderung der Binnennachfrage und damit der Importe ermöglichen. So soll die Leistungsbilanz verbessert und der externe Finanzierungsbedarf vermindert werden.

Letzteres wurde auch tatsächlich erreicht. Allerdings um den Preis einer massiven Rezession, vor allem in Lettland und Rumänien. Durch den starken Rückgang des BIP und der Masseneinkommen ist die relative Schuldenlast weiter gestiegen, mit entsprechenden Problemen bei der Bedienung der Schulden der privaten Haushalte. Die produktive Substanz ist weiter geschwächt worden. Damit hat die auf die Sicherung der kurzfristigen Zahlungsfähigkeit gerichtete Politik die strukturellen Probleme nicht nur nicht gelöst, sondern noch verschärft (Becker 2010b: 532 f.).

2010 sind diese Politikmuster auf die südeuropäische Peripherie übertragen worden. Die südeuropäischen Länder hatten 2009 durchaus noch anti-zyklische Akzente gesetzt, wenn auch z.T. erst nach innenpolitischen Auseinandersetzungen. Die deutsche Bundesregierung zögerte angesichts der innenpolitischen Unpopularität einer solchen Maßnahme lange mit einer EU-Stützungsaktion für Griechenland und setzte dann – gegen französische Widerstände – die Einbeziehung des IWF durch (Mazzocchi 2010: 282). Die Stützungspolitik wurde hier – ähnlich wie in Osteuropa – von einer rigorosen Austeritätspolitik abhängig gemacht: Griechenland wurden Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst, starke Einschränkungen bei den Sozialleistungen (vor allem der Pensionen), ein Abbau von ArbeitnehmerInnenrechten und Privatisierungen verordnet (IWF 2010, Wehr 2010: 72 ff.). Die irische Wirtschaftspolitik folgt in dem zweiten EU-IWF-Stützungsprogramm eines Euro-Zonen-Landes demselben Muster (Becker 2010c: 4). Die sozialdemokratischen Regierungen Spaniens und Portugals sind unter dem Druck der Europäischen Kommission und der Banken ebenfalls auf Austeritätspolitik eingeschwenkt (vgl. Mota et al. 2010: 104 ff.). Ähnlich wie bei den osteuropäischen Ländern geht es um die Wahrung der kurzfristigen Zahlungsfähigkeit. Für die in Griechenland und Irland engagierten Banken, die an den hoch gesetzten Zinsen gut verdienen, bedeutet das Engagement von IWF und EU eine Garantie. Die strukturellen Probleme schwacher bzw. enger produktiver Sektoren und tendenzieller privater Überschuldung (zumindest in Irland) werden durch die Austeritätspolitik noch verschärft. Die sozialen Proteste vor allem der Gewerkschaften sind in Südeuropa stärker als in Osteuropa (mit Ausnahme Rumäniens).

Die Politik, wie sie von der Europäischen Kommission Griechenland aufgedrückt wurde, soll für alle Peripherieländer in der Euro-Zone verstetigt werden. Ein erster Schritt in diese Richtung war der im Mai 2010 verabschiedete so genannte Rettungsschirm für Euro-Zonen-Staaten, der ebenfalls in Kooperation mit dem IWF bis Ende 2012 funktionieren soll. Er hat einen Rahmen von 750 Mrd. Euro, wovon bis zu 250 Mrd. Euro vom IWF bereitgestellt werden. Damit wird ein Teil der Verantwortung für die asoziale Sparpolitik auf den IWF abgelenkt; gleichzeitig bedeutet diese Konzeption aber auch die Aufgabe von äußerer Autonomie – gerade auch gegenüber den USA, die im IWF eine zentrale Rolle spielen. An diesem Punkt wurden nicht nur wirtschaftspolitische Divergenzen zwischen Berlin mit seiner streng anti-keynesianischen Ausrichtung und Paris mit seiner größeren Flexibilität, sondern auch Divergenzen hinsichtlich der globalpolitischen Ausrichtung der EU deutlich. Hier scheint die französische Regierung – bei aller Ambivalenz – stärker auf Autonomie der EU gerichtet zu sein als die Bundesregierung.

Auch bei der Konzipierung eines dauerhaften Stützungsmechanismus hat sich Berlin in der EU durchgesetzt. Er soll durch Veränderungen des EU-Vertrages abgesichert und mit „drakonischen Bedingungen“ (Cassen 2010: 18) im Fall der Inanspruchnahme verbunden werden. Damit werden auf Betreiben der deutschen Bundesregierung eine restriktive Fiskalpolitik und die anti-keynesianische Ausrichtung der EU noch verschärft. Auch soll der so genannte Stabilitäts- und Wachstumspakt fiskalpolitisch noch strikter gefasst werden. In Anspielung auf den bekannten neo-liberalen „Washington Consensus“ der 1990er Jahre spricht Cassen (2010) von einem „Berlin-Konsens“. Die EU-Politik ist so auf eine Verschärfung des Neo-Liberalismus und auf beschleunigten Sozialstaatsabbau orientiert. Die EU-Regierungen stellen – unter deutscher Führung – damit den Konsens der Nachkriegszeit mit seinen sozialen Kompromissen endgültig zur Disposition. Als Kernelemente der vermeintlichen Anti-Krisen-Politik können festgehalten werden:

· Die Politik ist vor allem auf Finanzinteressen ausgelegt. Es wird versucht, die bestehenden Strukturen des fiktiven Kapitals und der Verschuldung aufrecht zu erhalten – auch um den Preis einer weiteren Strangulierung der produktiven Sektoren (vgl. Toporowski 2010: 34 f., 60 f.). Diese Politik zeichnet sich durch eine Verbindung von Liquiditätsversorgung und deflationär ausgerichteter Fiskal- und Lohnpolitik, vor allem in der europäischen Peripherie, aus. Die Austeritätspolitik der EU-Peripherie wird allerdings auch Wirkungen auf die neo-merkantilistischen Zentrumsökonomien haben. Die sich abzeichnenden Stagnations- und Rezessionstendenzen in weiten Teilen der EU werden die Verschuldungsprobleme verschärfen. Das dürfte Rückwirkungen auf die Finanzkreisläufe und die Preise des fiktiven Kapitals haben. Den westlichen Regierungen ist es bislang gelungen, die Strukturen des fiktiven Kapitals und der Verschuldung vorübergehend zu stabilisieren. In wichtigen Teilbereichen ist nach dem Preiseinbruch 2008/2009 wieder ein Anstieg der Preise von Finanzaktiva (z.B. Aktien, Rohstoffe, weniger Immobilien) festzustellen. Damit entwickeln sich die Kreisläufe des fiktiven und produktiven Kapitals erneut auseinander. Der Weg in eine weitere Krisenphase und anhaltende wirtschaftliche Instabilität scheinen vorgezeichnet.

· Die Hauptlasten der Austeritätspolitik werden den Lohnabhängigen, Arbeitslosen und RentnerIinnen aufgebürdet. Besonders stark ist der Öffentlichen Dienst mit seinem hohen weiblichen Beschäftigungsanteil betroffen. Der öffentliche Dienst ist eine der wenigen verbliebenen gewerkschaftlichen Bastionen. Eine Schwächung der Standards und Gewerkschaften im öffentlichen Dienst hätte auch negative Konsequenzen für die Beschäftigten und Gewerkschaften im privaten Sektor.

· Die dominante Politik der EU ist auf Vertiefung neo-liberaler Politikmuster angelegt. Hierbei geben die Peripherieländer das Muster für die Zentrumsländer ab.

· Die deutsche Bundesregierung hat sich als dominante Kraft in der EU-Politik gezeigt. Dies ist auch Ausdruck der zentralen Position der deutschen Ökonomie im produktiven Gefüge der EU. Die deutsche Bundesregierung hat sich hierbei in wichtigen Fragen gegen die französische Regierung mit ihren wirtschaftspolitisch stärker etatistisch angehauchten Traditionen und einer stärker auf äußere Autonomie gegenüber den USA orientierten Position durchgesetzt. Die Achse Berlin-Paris erscheint geschwächt. Stattdessen gibt es Anzeichen für eine Intensivierung der Beziehungen Berlin-London. Dies würde die Kooperation der führenden Länder des neo-merkantilistischen und des hochgradig finanziarisierten Lagers bedeuten.

· Die Anti-Krisen-Politik führt in Teilbereichen zu einer Europäisierung der Wirtschaftspolitik in einer sozial regressiven Form. Ausdruck hiervon ist die Schaffung von Stützungsmechanismen für Krisenfälle, die mit drastischen wirtschaftspolitischen Auflagen verbunden sind.

· Die Stützungsmechanismen dürften mit steigenden Kosten verbunden sein. Das hat in Ländern des Zentrums bereits zu verstärkter Kritik an Transferzahlungen nach Südeuropa geführt. Eine Radikalisierung dieser Kritik ist – analog zu den Erfahrungen in der jugoslawischen Krise der 1980er Jahre – zu erwarten.

· Die Spaltungslinien zwischen Zentrum und Peripherie werden durch die Krise und die Art der Krisenbekämpfung verstärkt. Desintegrative Tendenzen dürften – ausgehend von den neo-merkantilistischen Kernländern – zunehmen.

Die Widerstände hiergegen sind bislang nationalstaatlich und sozial fragmentiert. Am aktivsten zeigen sich die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst. Linke Parteien spielen nur in Teilen der EU überhaupt noch eine relevante Rolle. Ihre parlamentarischen Möglichkeiten sind aufgrund der starken Exekutivlastigkeit der EU-Entscheidungsprozesse sehr eingeschränkt. Eine Politik aus linkskeynesianischen und ökologischen Komponenten – Stärkung der Massennachfrage der unteren Einkommen, Ausbau der sozialen Dienste und ökologisch sinnvoller produktiver Sektoren im Rahmen einer wirtschaftlichen Restrukturierung, Stärkung der produktiven Sektoren in der EU-Peripherie, Schaffung eines strategischen öffentlichen Finanzsektors und dessen Neuausrichtung, starke Regulierung des Finanzbereichs und Einführung von Kapitalverkehrskontrollen – erscheint aufgrund der politischen Kräfteverhältnisse und des institutionellen Gefüges der EU, deren institutionellen und vertraglichen Grundlagen in einem solchen Fall drastisch verändert werden müssten, als sehr schwer durchsetzbar. Etwas größer scheinen die Chancen, dass dem Desintegrationsprozess in manchen Peripherieländern (eher im Süden) eine emanzipatorische Wendung gegeben werden könnte.

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