Heute, drei Dekaden nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, leben einige Millionen (Exil-)Ostdeutsche in einem verfestigten Kulturkonflikt und mit den Konsequenzen ihrer gesellschaftlich ausgelöschten Herkunft. Ich konzeptualisierte die Kohorte der (Exil-)Ostdeutschen[1], um deutlich zu machen, dass die Mehrheit der zwischen 1945 und 1975 in der DDR geborenen Menschen mit der „Wiedervereinigung“ in ein soziokulturelles Exil verschoben wurden, da sie heute letztlich fremd im eigenen, nun verwestlichen Land sind. Es wird behauptet, dass DDR-sozialisierte „Ostdeutsche“ nie eine eigene Identität hatten (und wenn, dann eine minderwertige), nie als eigene Werte- und Mentalitätsgemeinschaften existierten, kein progressives kulturelles Erbe aus ihrer Herkunft mitbringen (und wenn, dann ein belastetes). Mit anderen Worten, den (Exil-)Ostdeutschen wird kulturelles, soziales, ökonomisches und symbolisches Kapital abgesprochen bei gleichzeitiger Kriminalisierung ihrer Herkunft aus der „zweiten deutschen Diktatur“, was einer massiven kollektiven Kränkung gleichkommt. Dieser Kulturkonflikt ist traumatisch und betrifft verschiedene Kohorten in verschiedenen Generationen. Die Methoden, derartige Kränkungen in Teilgesellschaften durchzusetzen, sind Methoden der politischen Psychologie, auch als Assimilationspolitik bekannt.
Soziale Entkopplung und erinnerungskulturelle Exilierung
Während Anfang der 1990er noch der „Ossiwitz“[2] regierte, verging allen das Lachen, als ab Ende der 1990er ein neues Zeitalter aufzog: das Zeitalter des Diktaturenvergleichs, in dem alle unter den Verdacht auf Mitläufer- und/oder Täterschaft gerieten, die bis dahin nicht ihre Biografien gründlich umgeschrieben hatten und von der Herkunft abkoppelten. Wer sich spätestens bis zur Gründung der Zentralen Behörden der Gesellschaftsselektion[3] nicht als Dissident, wenigstens Last-Minute-Dissident der Massenfluchten kurz vor Maueröffnung, als kirchennah oder Opfer des SED-Regimes outete, kam zu Schaden. Es war die Mehrheit der ehemaligen DDR-Bevölkerung, der zwischen 1945 und 1975 Geborenen, der Werktätigen im so genannten Arbeiter- und Bauern-Staat, jene Kohorte, die im Band Exil ausführlich einer empirischen Untersuchung und Analyse unterzogen und als die der (Exil-)Ostdeutschen konzeptualisiert wird. Das Ausmaß dessen wird bis heute aus den öffentlichen Debatten ausgeschlossen: 4,5 Millionen Arbeitslose quasi „über Nacht“; 2,8 Millionen Wendekinder, deren psychosoziale Prekarisierung ausführlich durch Tanja Bürgel, Sabine Rennefanz, Jana Hensel oder Christoph Seidler[4] besprochen wurde; Aberkennung von Arbeitsleistung und Titeln; Ausschluss von Rentenansprüchen für Akademiker, Intelligenzler und im öffentlichen Dienst Arbeitende sowie die konkrete Aussicht auf Einstufung als Bedarfsgemeinschaft von Hartz IV für viele, deren Berufsabschlüsse keine Anerkennung fanden; mehrere Millionen, die mit den Konsequenzen der radikalen Deindustrialisierung der 15 Industriebezirke konfrontiert wurden und mit Abwanderung oder Krankheit reagieren. Dieses soziologische Experiment ab 1989/90 ist beispiellos und auch nicht mit den Folgen der Demokratisierung in den anderen Ostblockländern vergleichbar.
Die Politische Psychologie der Amnestie und Amnesie war die Vorbedingung für eine demografische Neuordnung und schließlich für das Verschwinden der „Ostdeutschen“ mit Herkunft aus der DDR. Hierbei wird der Begriff der Diktaturaufarbeitung, der nach 1990 in erster Hinsicht der Aufarbeitung der „SED-Diktatur“ gilt und den Auftrag zur Demokratieerziehung[5] beinhaltet, zum manifesten Konzept einer Assimilationspolitik nach 1990 und somit zum manifesten Konzept des Gesellschaftsumbau-Ost. Diktaturaufarbeitung („SED-Diktatur“) und Demokratieerziehung werden als gesamtdeutscher Auftrag in Kultur und Medien, Vermittlung und Bildung (politische Bildung, Erwachsenenbildung, Schulbildung), Archiv- und Gedenkstättenarbeit, Forschung und Fachwissenschaft subventioniert und etabliert. Das Recht auf das Andere in Denken und Reden ist damit ausgeschlossen, d.h. DDR-sozialisierte Meinungs- und Wertebildungen sind tabu.
Expliziten Integrations- und Förderbonus erhalten ab 1990 Dissidenten und Opfer der DDR-Diktatur. Dabei sind die Opfer des DDR-Unrechts nur „Spielfiguren politischer Ideologen“[6], die sich mit dem DoppelaxiomderDiktaturaufarbeitung und der Demokratieerziehung gegen ernsthafte Kritik immunisieren und ihre TINA[7]-Politik vorbeugend[8] abdichten. Damit geschieht paradoxerweise den Ausgeschlossenen, den (Exil-)Ostdeutschen, statistisch der Mehrheit der „Ostdeutschen“ von 1989/90, die zu „Täter-Staat-Mitläufern“ deklassiert wurden, erneutes Unrecht. Es ist das Unrecht der „veröffentlichten Meinung“. Paradox daran ist, dass die Geschichtsabwehr im Diktaturenvergleich und im Unrechtsstaat zwar die Geschichte der einen deutschen Nachkriegsgesellschaft abdunkelt, während die Geschichte der anderen deutschen Nachkriegsgesellschaft, der christlich-demokratischen, im Schlaglicht der öffentlichen Meinung steht. Jedoch ist das Schlaglicht der öffentlichen und veröffentlichten Meinung ein Objekt der politischen Psychologie. Diese auf Bundesbehördenebene hergestellte Schieflage ist nicht zu übersehen – und für Viele der (Exil-)Ostdeutschen beginnt hier erst eine Unrechtsstaatsgeschichte. „In Medien der öffentlichen Meinung können aufgrund der paradoxen Verfassung der Demokratie unterschiedliche Schemata realisiert werden. Paradox ist die Demokratie, da die liberale und die demokratische Anrufung in ihr gleichzeitig passieren. Dieses Paradox wird mit Hilfe von Schemata für einzelne Themen oder Zeitpunkte entparadoxiert. Mit einem Schema ist eine feste Kopplung der Elemente des Mediums gemeint, die dazu führt, dass bestimmte Begriffe, Meinungen und Argumente als feststehende Wahrheiten auf Zeit entstehen können.“[9] Solche Begriffe sind Begriffe der politischen Psychologie, die im Doppelaxiom der Diktaturaufarbeitung und Demokratieerziehungkonkret während des Gesellschaftsumbaus in den Neuländern Anwendung finden.
Die DDR wird in Sprach- und Behördenregelungen und durch die öffentliche Meinung gesellschaftlich als „zweite deutsche Diktatur“ und als „Unrechtsstaat“ konventionalisiert. „Die öffentliche Meinung wird durch das öffentliche Sprechen hergestellt und ist zugleich dasjenige, das bei all diesen kommunikativen Handlungen sowohl der Adressat ist wie auch die Instanz, die es hervorzubringen und zu beeinflussen gilt. Öffentliches Sprechen findet im Medium der öffentlichen Meinung statt und formt hierin bestimmte Aussagen zu Meinungen, die dann Zustimmung oder Ablehnung erfahren. Die Bildung von erkennbaren Formen im Medium der öffentlichen Meinung führt dann zur Kritik genau solcher Formbildungen als Manipulation […].“[10] Ein Großteil von (Exil-)Ostdeutschen, jenen, die zwischen 1945 und 1975 in der DDR geboren und sozialisiert sind, nehmen die bei Stegemann so beschriebene manipulative Formbildung durch die öffentliche Meinung, Medienmeinung oder Konventionen, wahr.
Das Doppelaxiom der Diktaturaufarbeitung undDemokratieerziehungist den aktuellen Zeitdiagnosen zufolge ebenso der jüngeren Zeitgeschichte seit 1989/90 verpflichtet und auf ein drittes Diktaturen-Phänomen zu erweitern. Dies setzt natürlich den Demokratiebegriff der freien oder sozialen Marktwirtschaft auf den Prüfstand. Denn eine kritische Geschichte der DDR ist nicht zu erzählen, ohne eine kritische Geschichte der Bundesrepublik als einer Geschichte zweier deutscher Nachkriegsgesellschaften. Die Zweistaatlichkeit ist das zentrale Motiv der rückwirkenden Delegitimierung der DDR als Unrechtsstaat mit dem Ziel der restlosen Beseitigung der europäischen Nachkriegsordnung und damit des deutschen Angriffs- und Vernichtungskrieges aus dem kollektiven Bewusstsein, den „der bundesdeutsche Biedermann hinter seiner geblümten Tischdecken-Gemütlichkeit so gerne versteckt hätte: die Jahrtausendverbrechen des Nationalsozialismus und die kollektive Schuld der meisten Deutschen, die man den Kommunisten nun wirklich nicht in die Schuhe schieben kann“.[11]
Assimilationsschock: Die Entwertung der DDR-Sozialisation
Dieter Simon, der damalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte, hat den Assimilationsschock, dem Ostdeutsche ausgeliefert waren, und deren Reaktionen wie folgt beschrieben: „Überanpassung des ehemals auf Solidarität getrimmten Ostmenschen an die westliche Ellenbogengesellschaft; Rückzug in die DDR-selige Innerlichkeit; bockige und/oder weinerliche Verweigerung; Dolchstoßlegenden; Ausbeutungs- und Versklavungsphantasien; resignative, depressive, suizidgefährdete Kümmerexistenzen; Wut – alles Reaktionen von Menschen, deren Lebensziel und Kampfgeist entwertet, deren Selbstwertgefühl zu einem Irrtum, deren Freuden für kindisch, deren Freundschaften für naiv und deren Produkte für miserabel erklärt wurden.“[12] Dieser Abstieg der (Exil-)Ostdeutschen ist ein anderer als der Abstieg, den Oliver Nachtwey in der „Abstiegsgesellschaft“[13] für den Westen diagnostiziert. Der Abstieg im Westen bewegt sich aus dem verheißungsvollen, kreditgestützten alliierten Nachkriegswirtschaftswunder sukzessive in die Niederungen der Armut, während der Abstieg im Osten in einem einmaligen Valuta-Sturz in die freien Abgründe der „Dollar-Abhängigkeit“[14] fiel sowie in die Niederungen der herabgesetzten Minderheitenbevölkerung, die sich als inferiore Einwanderer und Fremde im eigenen Land neu definieren musste. Radikale Entwertung des Bisherigen, Sinnzusammenbrüche und die Aussicht auf eine Migrationsbiografie waren die Perspektiven für (Exil-)Ostdeutsche.
„Dieses Herangehen hatte direkte Auswirkungen auf diskursiv-symbolische Sprechweisen über das Soziale und mündete in einer Missbrauchsdebatte, die Parallelen zum zeitgleich ablaufenden Asyl- und Migrationsdiskurs aufwies: ‚Wildwuchs‘, ‚Sozial-Schwindler‘, ‚Müßiggänger‘, gar ‚asoziale‘ oder ‚parasitäre‘ und somit die Produktivität hemmende Verhaltensweisen waren häufig genutzte Charakterisierungen in jenen Jahren, die auf sozialstaatliche Defizite deuten sollten und frühere (Un-)Gleichheitsnarrative aufgriffen. Jenes Sprechen (und implizites Erinnern) war wiederum stark gegenwartsorientiert und zweifach strukturiert: einerseits durch die Rede vom ‚Marktwert‘ der Arbeitslosen, andererseits durch ’Ossis‘ als neue, ‚fremde‘ Gruppe auf dem Arbeitsmarkt, die eine Gefährdung des errungenen Wohlstands symbolisierten. Entsprechende Exotisierungen reproduzierten die vermeintliche Andersartigkeit ‚des Ostens‘ als ein vom Normalfall abweichendes, industriegesellschaftlich gewissermaßen vormodernes Phänomen und zementierten die diskurssemantische Grundfigur ostdeutsch/westdeutsch. Noch heute sprechen einzelne Forscher mit Blick auf jene paternalistisch-sozialdisziplinierenden Normativformeln gar von einer ‚Kolonialisierung des Ostens‘.“[15]
Veröffentlichte Meinungen wurden vor allem von Medien hergestellt und in Umlauf gebracht. Die Bevölkerungen wurden auf Meinungslinie gebracht und erlernten über die Medien, wie sie die Wende und die Ostdeutschen zu bewerten hatten. Das hatte den Effekt einer Meinungskonformität, die mit einer Assimilationspolitik in Ostdeutschland durchgesetzt wurde. Gleichzeitig wurden Ostdeutsche gekränkt, entwertet und herabgesetzt. Die im Begriff der „geistig-moralischen Wende“ lancierten Strategien der strukturellen und institutionellen Diskriminierung bis hin zu offen ausgetragenem Rassismus gegen DDR-sozialisierte Ostdeutsche sind Strategien der „psychologischen Kriegsführung“ der Bundesregierung im Beitrittsgebiet. Die Konsequenzen davon waren massenweise Selbstverleugnung, kollektive Scham und Desorientierung – kollektive Traumatisierungen und Traumafolgestörungen, über die bis heute öffentlich geschwiegen wird.
Der koloniale Blick gen Osten:
„Ethnisierung“ der DDR-sozialisierten „Ostdeutschen“
Der Begriff Dominanzkultur wurde von Birgit Rommelspacher 1995 zur Beschreibung struktureller Diskriminierungen[16] entwickelt.
Strukturelle Diskriminierung findet häufig versteckt statt und ist zu unterscheiden von der interaktionellen wie auch der institutionellen Diskriminierung, Marginalisierung, auch Exklusion. Strukturelle und institutionelle Diskriminierung führen zur Aufgabe der eigenen Kultur, was auch als eine kulturelle oder ethnische Entwurzelung bezeichnet werden kann.
Der Historiker und Sozialwissenschaftler Christoph Kienemann untersucht in seiner Dissertation „Der koloniale Blick gen Osten: Osteuropa im Diskurs des Deutschen Kaiserreiches von 1871“[17] die ungebrochene Wirkmacht deutscher Osteuropawahrnehmungen und kolonialer Osteuropavorstellungen bis heute. „Um die Kolonisierung des osteuropäischen Raumes diskursiv zu legitimieren, wurde die völkerrechtliche Konstruktion des ‚leeren Raumes‘ (terra nullius) – wenn auch unter anderen Vorzeichen als in afrikanischen Gebieten – ebenso bemüht, wie die Anwesenheit deutscher Minderheiten in Ost- und Südosteuropa seit dem Mittelalter.“[18] Kienemanns dezidierte Analyse beschreibt die Selbstermächtigung des Deutschen Menschen über die östlichen Nullgebiete (terra nullius) als Zivilisationsbringer. Häfner schreibt dazu: „Die Idee jener deutschen Siedler/innen als ’Kulturdünger‘ deutet Kienemann mit Blaut als Spielart eines ’eurozentrischen Diffusionismus‘. Die Siedler/innen, verstanden als Exponenten des kulturell und politisch überlegenen westeuropäischen ‚Zentrums’, erfüllten in ihrer diskursiven Rolle die Funktion der Bringer/innen der ‘Zivilisation’ in die nicht nur geographisch, sondern auch zivilisatorisch vermeintlich weit entfernte osteuropäische ‚Peripherie’.“[19] Zur Rechtfertigung seiner gutgedüngten Haltung verfemt der Deutsche gleichzeitig den Osten als „eigen-fremd“ und „zivilisiert-barbarisch“. Nach Carl Schmitt ist die „zone beyond the line“ dem entsprechend gegen Osten ausgerichtet: beyond the line beginnt der rechtsfreie Raum, in dem alles vorfallen darf unter Aussetzung von Vergeltung als juristisches Prinzip. So lässt sich die deutsche Kontinuität in ihrer ungebrochenen Wirkmacht kolonialer Osteuropavorstellungen von Ludendorff bis Hitler – von Adenauer bis Kohl fortschreiben. „Ludendorff und Hitler hätten – freilich auf sehr unterschiedliche Weise – nichts anderes getan als versucht, ein lange tradiertes Imaginäres in eine koloniale Praxis zu übersetzen, indem sie den osteuropäischen ‚Möglichkeitsraum’ in einen ‚konkreten politischen Betätigungsraum’ (S. 247) verwandelten. So zutreffend das für Ludendorffs Plan im Einzelnen noch sein mag – spätestens mit Blick auf den Krieg gegen die Sowjetunion ab 1941 drängen sich Zweifel auf, ob hier das Kontinuitätsnarrativ nicht doch an seine Grenzen stößt.“[20] Ebenfalls waren es die westdeutschen Demokratiebringer, die dem ostdeutschen Beitrittsgebiet in der Art der terra nullius Zivilität und Kulturdünger brachten. Die Protagonisten der ersten Stunde wurden mit der Buschzulage gelockt und vergütet, war doch die Domestizierung des barbarischen Unrechtsstaats und seiner Insassen nicht genug zu würdigen. Der Busch, der barbarische Unrechtsstaat, begann östlich der Elbe.
Vor dieser Folie der deutschen Kontinuität in ihrer ungebrochenen Wirkmacht kolonialer Osteuropavorstellungen lässt sich die Herabsetzung DDR-sozialisierter Ostdeutscher seit 1989/90 besser verstehen:
1) Ostdeutsche sind gesamtgesellschaftlich grundlegend „anders“ sozialisiert, was hier auszuarbeiten ist, so dass sie als „Anders“, gewissermaßen auch als „Fremd“ in der dominanten Kultur wahrgenommen werden.
2) Ostdeutsche sind gesamtgesellschaftlich grundlegend „anders“ sozialisiert, so dass sie als „Anders“ und als „Fremd“ stigmatisiert und aus Aufstiegschancen und demokratischer Partizipation im Herrschaftssystem ausgeschlossen werden.
3) Ostdeutsche sind gesamtgesellschaftlich grundlegend „anders“ sozialisiert, so dass sie als „Anders“ und als „Fremd“ stigmatisiert werden und in Kulturkonflikte[21] dramatisch involviert sind. Zu solchen gehören besonders hohe Anpassungsleistungen (Überadaption, Selbstverleugnung, Herkunftsverleugnung) und Krankheit. Diese Beobachtung wird in der vorliegenden Auseinandersetzung als Mehrfach-Beschädigung bezeichnet.
Der Neurologe, Psychiater und Psychotherapeut Christoph Seidler definiert den komplexen Vorgang der Orientalisierung, Inferiorisierung, Rassisierung und Migrantisierung DDR-sozialisierter „Ostdeutscher“ als „nachträgliche Ethnisierung“. „Der Gegenstand der Ethnopsychoanalyse ist das Unbewusste in den Kulturen. Der Ausdruck ‚Ethnisierung’ (von altgriechisch ethnos = fremdes Volk) bezeichnet im Rahmen der gesellschaftlichen Diskursanalyse einen Vorgang, bei dem Personen wegen ihrer Herkunft, ihrem Aussehen oder ihrer Lebensgewohnheiten einer vermeintlich homogenen sozialen Gruppe zugeordnet werden, vor allem im Zusammenhang mit Migration. Mit ‚nachträglich’ meine ich, dass nach der Wende darüber debattiert wurde, ob Ost- und Westdeutsche verschiedenen Ethnien angehören.“[22] Noch heute fühlen sich viele DDR-sozialisierte „Ostdeutsche“ als „Bürger zweiter Klasse“[23], was Erhebungen neuerer Studien wie der Allensbach-Studie von 2019 oder der Studie der Otto-Brenner-Stiftung von 2019[24] bestätigen. Der Westen rätselt, woran es liegen könnte, da doch der materielle Wohlstand wohl gestiegen sei. Alleine schon der Titel der Studie „It’s not economy, stupid“[25] definiert die große „ostdeutsche“ Konstante, vor der sich die Demokratiebringer des Westens ratlos zeigen, wenn materieller (Dumping-)Wohlstand nicht zur gewünschten kollektiven Dankbarkeit führt, sondern auch noch ins Widerständige „abdriftet“.
Die deutsche Kontinuität in ihrer ungebrochenen Wirkmacht kolonialer Osteuropavorstellungen, die sich nach Kienemann von Ludendorff bis Hitler durchzog und sich der Autorin zufolge selbstverständlich von Adenauer bis Kohl und weiter nachzeichnen lässt, entspricht einer kulturellen DNA, die sich nach der „Wiedervereinigung“ im ostdeutschen Beitrittsgebiet etablierte. Mehr oder minder Apologeten, die in dieser alarmierenden Kultur-DNA öffentlich wirksam wurden, waren u.a. ganze Historikergilden der Bielefelder Schule um Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka, Christoph Kleßmann, deren akademische Schüler wie Ute Frevert, Jens Giesecke oder Ilko-Sascha Kowalczuk, der Historiker Hubertus Knabe, der Sozialwissenschaftler Klaus Schröder, weiterhin die Historiker Heiner Timmermann oder Martin Sabrow als Vertreter des Potsdamer Historikerkreises (ZZF) und viele andere, die im Beitrittsgebiet akademische oder politische Elitepositionen einnahmen. Parallel dazu ist bei vielen Protagonisten ein christlich-theologischer Hintergrund festzustellen. Die im Forschungsband „Exil“ als (Quoten-)
Ostdeutsche konzeptualisierte Bevölkerungsgruppe übernahm restlos die Kultur-DNA der deutschen Kontinuität in ihrer ungebrochenen Wirkmacht kolonialer Ost(europa)vorstellungen. Sie hat sich mit offensiven Dissidenz-Bekenntnissen auf die „andere Seite“ geschlagen und stand nun der Bevölkerung ihrer Herkunft (DDR) mit Befremden und Ablehnung gegenüber.
Darüber hinaus ergibt sich für die deutsch-deutsche Betrachtung ein besonders paradoxes Phänomen, denn das „Andere“ und „Fremde“, das die DDR-sozialisierten „Ostdeutschen“ verkörpern und für das es keine Passung im Herrschaftssystem gibt, fällt zunächst nicht auf. DDR-sozialisierte „Ostdeutsche“ fallen unter Westdeutschen nur marginal auf oder mittlerweile gar nicht mehr. DDR-sozialisierte „Ostdeutsche“ leben in westdeutschen Städten in „Ostdeutschland“. Westdeutsche leben in „ostdeutschen“ Städten, die in ihren Innenstädten größtenteils gentrifiziert und regelrecht von DDR-„Ostdeutschen“ gereinigt sind, und bezeichnen sich selbst als „Ostdeutsche“. Diese Paradoxie macht es um Vieles schwieriger, einen interkulturellen Konflikt, eine Problematik von Migration, Vertreibung, Flucht und Exil DDR-sozialisierter „Ostdeutscher“ im vereinigten Deutschland zu vermuten und wahrzunehmen.
Die Rassisierung einer DDR-Identität
Dagegen konstruierte der Sozialwissenschaftler Rolf Reißig schon vor Jahren die DDR-sozialisierten „Ostdeutschen“ als „Mentalitäts- und Wertegemeinschaften“[26]. Die unterschiedlichen Mentalitäts- und Werteorientierungen bei „Ostdeutschen“ im Gegensatz zu Westdeutschen können nach Reißig zwischen individueller und gesellschaftlicher Werteorientierung verortet werden. Im Vergleich mit den individuellen Werteorientierungen der Bürger in den alten Bundesländern sind eine ganze Reihe Übereinstimmungen feststellbar. Dennoch sind bei den „Ostdeutschen die Präferenzen von Geld, Gewinn, Karriere und Aufstieg viel weniger ausgeprägt als bei Westdeutschen“.[27]
Deutlichere Unterschiede hingegen zeichnen sich entsprechend der Messungen von Reißig im gesellschaftlichen Wertehaushalt zwischen Ost und West ab. Dieser sei, so Reißig, eher sozial-demokratisch geprägt, und zwar im klassischen, nicht im parteipolitischen Sinne. „An vorderster Stelle stehen die Werte Arbeit, Leistung, wirtschaftliches Wachstum, Technikoptimismus, gefolgt von den Werten Gerechtigkeit und Gleichheit. Höhere Erwartungen stellen die Ostdeutschen an den Staat, das schließt für sie Regulierung des Marktes und Wohlfahrtspolitik ein. Schließlich haben in der ostdeutschen Bevölkerung Frieden und friedliche Konfliktregelung einen hohen Wert sowie Demokratie als Verwirklichung freiheitlicher Prinzipien und als Rechtsstaatlichkeit, aber in spezifischer Verbindung mit sozialen Grundrechten, direkten Demokratieformen und Bürgerbeteiligung.“[28]
In diesem Sinne wäre eher ein Wertehaushalt, der mit dem Attribut klassischer „dritter Weg“ charakterisiert werden könnte, für Ostdeutsche nach 1989/90 wünschenswert gewesen.
Jedoch muss davon ausgegangen werden, analysiert man die einschlägigen neuen Behörden – die nach der Wende für Politische Correctness, politische Erwachsenenbildung, politische Bildung, Gedenken und Erinnerung, Schulbildung sowie für die Definierung und Verbreitung von „Unrecht“ und „Minderwertigkeit“ zuständig wurden – auf ihre gesellschaftlich-demokratische Funktion hin, dass genau von diesen Behörden eine deutliche Spaltung zwischen Ost und West forciert wurde und noch wird. Nach 1989/90 wurden politisch und medienpolitisch explizit liberale und neoliberale Interessen im „vereinten“ Deutschland durchgesetzt, die keinerlei Rücksicht auf eine „ostdeutsche“ Kondition nahmen und nehmen.
Zum anderen kann festgestellt werden, dass die Rücksichtslosigkeit den DDR-sozialisierten „Ostdeutschen“ und der DDR-Geschichte gegenüber, in altlastigen westdeutschen Eliteinteressen der Wirtschaft, des Rechts, des Militärs und der Politik verwurzelt sind, die, wenngleich auch in gewendetem Format, in der „Einheit“ nichts anderes als eine Revanche für die politische Nachkriegsordnung in Europa sehen, die in Folge des Zweiten Weltkrieges 1945 international eingefordert wurde. Demgemäß ist die Geschichte „Ostdeutschlands“, der SBZ/DDR, wie auch die Entwicklung ihrer Werte- und Mentalitätsgemeinschaft eher ein minderwertiger Schandfleck, den es auszutilgen gilt, als eine akzeptierte und anerkannte gesellschaftliche Tatsache. Aus dieser Interessenlage kann das „Ossibashing“[29] in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung, welches nicht nur kulturkolonialen Charakter, sondern politisch-rassistischen Diskriminierungscharakter hat, ebenfalls erklärt werden. Genau in diesem Interessengemenge der „Siegereliten“ nach 1989/90, die in der SBZ/DDR den langen und unerträglichen Schatten einer – obzwar aus den Angriffs-, Rassen- und Vernichtungskriegen der deutschen Wehrmacht vor allem in der Sowjetunion selbstverschuldeten – politischen und wirtschaftlichen Niederlage sehen (mit den aus der Stunde Null resultierenden internationalen Forderungen nach einer sowjetischen Besatzungszone im Osten Deutschlands, in der eine antifaschistisch-demokratische Gesellschaftsordnung wirksam wird), ist der Nivellierungsauftrag, wenn nicht sogar Löschungsauftrag an den „Osten“ ausgerichtet und zu verstehen. Die geteilte deutsche Nachkriegsgeschichte, im Speziellen die Existenz einer SBZ/DDR, verwies nachhaltig auf die deutsche Kriegsniederlage und markiert einen historischen „Schandfleck“ des deutschen Liberalismus, den es umgehend zu tilgen galt. Die „Wende“ war hauptsächlich diesem Tilgungsprojekt verpflichtet. Demnach durfte auch keine DDR-Geschichte überleben. So wurde die DDR in allen ihren gesellschaftlichen Bereichen mitsamt Bevölkerung und Alltagskultur einer Totallöschung und Delegitimierung ausgesetzt.
Die aus der Geschichte des Zweiten Weltkrieges hervorgegangene Teilung Europas ist mit der Wende aufgehoben. Darin war auch die gesellschaftliche Erwartung an eine Demokratie begründet, die eine konstruktive Auseinandersetzung mit der gewachsenen Werte- und Mentalitätsgemeinschaft im Osten Deutschlands fördert, und keine Dämonisierung derselben als SED-Gesellschaftsdiktatur oder gar ihre Herabsetzung in vielfältiger Auslegung einer mental-charakterlichen Inferiorität vorantreibt. Denn in einer solchen bewusst verkürzten Sichtweise wird das Engagement der Mehrheit der DDR-Bevölkerung von 1989/90, auch der Werktätigen und nicht nur der Opposition, für eine demokratische Staatsreform und für eine Emanzipation vom sowjetischen Modell ausgeblendet und ignoriert. Jedoch scheint eben auch die gesellschaftliche Reformbereitschaft, wenn nicht sogar die Reformfähigkeit der Ostdeutschen aus den Jahren 1989 und 1990 im Raum des neoliberalen Establishments nicht von Interesse zu sein, wie die Wahrnehmung vieler Ostdeutscher bestätigt. Denn dazu würde vor allem die Akzeptanz der „anderen“ Werte- und Mentalitätsgemeinschaft gehören und nicht ihre Verdrängung.
[1] Siehe ausführlich Yana Milev, Wer sind die (Exil-)Ostdeutschen? In: Dies., Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90. Band 3: Exil, Berlin 2020. Der vorliegende Artikel stützt sich auf diese Band.
[2] Siehe Brigitte Rauschenbach, Deutsche Zusammenhänge. Zeitdiagnose als politische Psychologie, Zürich 1995.
[3] Gemeint sind die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik und die Treuhandanstalt. Ausführlich habe ich das beschrieben in: Yana Milev, Der doppelte Preis der „Einheit“. Das exekutive Wirken der Stiftung Aufarbeitung und der BStU als Schwesternbehörden der Treuhand AG. In: Stefan Bollinger/Reiner Zilkenat (Hrsg.), „Zweimal Deutschland“. Soziale Politik in zwei deutschen Staaten – Herausforderungen, Gemeinsamkeiten, getrennte Wege, Berlin 2020, S. 257ff.
[4] Siehe u.a. Tanja Bürgel (Hg.), Generationen in den Umbrüchen postkommunistischer Gesellschaften. Erfahrungstransfers und Differenzen vor dem Generationenwechsel in Russland und Ostdeutschland. SFB-580-Mitteilungen, Jena, H. 20 (2006); Sabine Rennefanz, Eisenkinder. Die stille Wut der Wendegeneration, München 2014, erw. Neuausg.; Jana Hensel, Zonenkinder. Reinbek bei Hamburg 2002, 3. A.; Christoph Seidler, Psychoanalyse & Gesellschaft. Ein Lehr- und Erfahrungsbuch aus Deutschlands Osten, Berlin 2015.
[5] Siehe [Martin Sabrow] Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes „Aufarbeitung der SED-Diktatur“. 15. Mai 2006 - https://zeitgeschichte-online.de/sites/default/files/documents/expkom_votum_0.pdf (Stand: 24.06.2020).
[6] Siehe Andreas Strippel, Deutschland – zwischen Rechts- und Unrechtsstaat. In: Publikative.org, 07.11.2014 - publikative.org/2014/11/07/deutschland-zwischen-rechts-und-unrechtsstaat/ (Stand: 13.02.2018). Das Blog „publivative.org“ (https://deacademic.com/dic.nsf/dewiki/2517989 ) wurde 2019 vom Netz genommen. Nachdem das Blog mehrmals in der Vergangenheit Hackingangriffen ausgesetzt war, wurde es schließlich vom Provider ganz abgeschaltet. Die Redaktion von Publikative.org bestand aus Patrick Gensing, Andrej Reisin und Andreas Strippel.
[7] TINA - There Is No Alternative.
[8] Die Doktrin der „Preemtive Self-Defense“, also die vorbeugende Selbstverteidigung, stammt aus dem Arsenal des NATO-Vokabulars und hat eine unverkennbare Verwandtschaft zur militärischen Doktrin der Prävention, des Präventivschlags oder des Präventionskrieges.
[9] Bernd Stegemann, Das Gespenst des Populismus. Ein Essay zur politischen Dramaturgie, Theater der Zeit, Berlin 2017, S. 19.
[10] Ebd., S. 18.
[11] Andreas Strippel, Deutschland – zwischen Rechts- und Unrechtsstaat, a.a.O.
[12] Dieter Simon, Festschrift für Renate Nickel (2018), in: mops-block. Notizen aus der Rechtswelt [Blog von Dieter Simon] - http://mops-block.de/images/abschied.pdf (Stand: 24.06.2020).
[13] Siehe Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Berlin 2017.
[14] 1973 brach das Bretton-Woods-System zusammen und der Dollar-Kurs wurde freigegeben, das heißt, er ging zum Floating (= sich frei bewegend) über. „Freigeben heißt, die Notenbanken wurden von ihrer Interventionspflicht entbunden und der Dollar-Kurs richtete sich fortan nach dem jeweiligen Verhältnis von Angebot und Nachfrage auf den Devisenmärkten.“ Hermann Adam, Wirtschaftspolitik und Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1992, S. 221.
[15] Siehe Christoph Lorke, Gleichstellungsversprechen und ihr Erinnern im geteilten und vereinten Deutschland. Arbeitspapier aus der Kommission „Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie“. Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2019, S. 35.
[16] Siehe Birgit Rommelspacher, Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht, Berlin 1995.
[17] Vgl. Christoph Kienemann, Der koloniale Blick gen Osten: Osteuropa im Diskurs des Deutschen Kaiserreiches von 1871, München 2018.
[18] So die Zusammenfassung bei Johannes Häfner, Rezension zu: Christoph Kienemann, Der koloniale Blick gen Osten. Osteuropa im Diskurs des Deutschen Kaiserreiches von 1871, Paderborn 2018. In: H-Soz-Kult, 07.02.2019 - www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27245 (Stand: 24.06.2020).
[19] Ebd.
[20] Ebd.
[21] Vgl. Emanuela M. Leyer, Migration, Kulturkonflikt und Krankheit, Opladen 1991.
[22] Christoph Seidler, Psychoanalyse & Gesellschaft, a.a.O., S. 170.
[23] Siehe Viele Ostdeutsche fühlen sich weiterhin als Bürger 2. Klasse. In: Deutschlandfunk, vom 07.03.2018 - www.deutschlandfunk.de/abgehaengt-und-vergessen-viele-ostdeutsche-fuehlen-sich.1771.de.html?dram:article_id=412346 (Stand: 24.06.2020).
[24] Siehe stellvertretend Rainer Faus/Simon Storks, Im vereinten Deutschland geboren – in den Einstellungen gespalten? OBS-Studie zur ersten Nachwendegeneration. Otto Brenner Stiftung, Frankfurt/M. 2019.
[25] Hanna Schwander/Philip Manow, It’s not economy, stupid! Explaining the electoral success of the German right-wing populist AfD, Center for Comparative and International Studies (CIS). CIS Working Paper No. 94, ETH Zürich. September 2012 - https://ethz.ch/content /dam/ethz/special-interest/gess/cis/cis-dam/CIS_DAM_2017/WP94_A4.pdf (Stand: 24.06.2020).
[26] Rolf Reißig, Die Ostdeutschen – zehn Jahre nach der Wende. Einstellungen, Wertemuster, Identitätsbildung, In: Fritz Vilmar (Hg.), Zehn Jahre Vereinigungspolitik. Kritische Bilanz und humane Alternativen. Berlin 2000, S. 61ff.
[27] Ebd.
[28] Ebd., S. 63.
[29] Siehe u.a. Henry Bernhard, Volkssport „Ostdeutschland-Bashing“. In: Deutschlandfunk, vom 10.11.2016 – www.deutschlandfunk.de/berichterstattung-volkssport-ostdeutschland-bashing.862. de.html?dram:article_id=371100 (Stand: 24.06.2020).