Editorial

Juni 2012

Finanzkrise und Austeritätspolitik haben seit dem letzten Jahr Regierungen –
sozialdemokratische wie konservative – in acht europäischen Ländern stürzen
lassen. Die politische Destabilisierung in Europa ist unübersehbar. Sie ist in ers-
ter Linie eine Folge des vom europäischen Zentrum ausgeübten Wirtschafts-
und Finanzdiktats, dessen Austeritätspolitik die peripheren Länder ökonomisch
und politisch nur noch tiefer in die Krise getrieben hat. Der Fiskalpakt soll den
Sparkurs in Europa festschreiben. Er ist Teil bei dem Bemühen, das Regime der
autoritären Regulierung auf europäischer Ebene weiter auszubauen.
Die Wahlen in Frankreich und in Griechenland haben das Verlangen nach ei-
nem Kurswechsel zum Ausdruck gebracht. Erstmals zeigte sich, dass die Linke
nicht ohne Einfluss auf den Gang der Dinge bleiben muss. In Frankreich ist sie
deutlich gestärkt aus den Wahlen hervorgegangen – dies gilt für Sozialisten
ebenso wie für die radikale Linke. Die Übernahme der Präsidentschaft durch
den Sozialisten Hollande gibt zumindest die Möglichkeit, Druck für eine Neu-
verhandlung des Fiskalpakts und der Richtung der europäischen Integration zu
entwickeln. In Griechenland ist die Linke zur zahlenmäßig stärksten Kraft ge-
worden – aber sie bleibt politisch tief gespalten und damit vorerst weitgehend
handlungsunfähig. Die Kehrseite: In beiden Ländern hat unter dem Eindruck der
Krise die extreme und neofaschistische Rechte massiv an Rückhalt gewonnen.
Für die Linke in der Bundesrepublik ist das Abschneiden der Linksfront in Frank-
reich von besonderem Interesse. Ihr Wahlergebnis muss, so Nico Biver, vor dem
Hintergrund des langfristigen Niedergangs der französischen Linken als bedeut-
sam gewertet werden. Seit 1981 hat kein Kandidat links der Sozialisten eine derar-
tige Zustimmung gefunden. Der Trend der Rechtswende bei den französischen
Arbeitern, Angestellten und unteren Mittelschichten ist jedoch nach wie vor un-
gebrochen. Die extreme Rechte (Front National) hat ihren Einfluss weiter auswei-
ten können. Ob es bei den Parlamentswahlen im Juni d. J zu einer linken Mehrheit
kommt, ist derzeit fraglich. Vor welche Probleme sich die Linksfront gestellt
sieht, zeigt auch eine Debatte französischer Gewerkschafter und Wissenschaftler
(Canon, Collovald, Wolikow), die wir ergänzend dokumentieren.


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Im ersten Schwerpunkt des vorliegenden Heftes geht es um den unter Moder-
nisierungsdruck stehenden Konservatismus in der Bundesrepublik. Diese
Thematik wird im Vorfeld der Bundestagswahlen 2013 an Bedeutung gewin-
nen. Die expliziten „Konservativen“ scheinen in der CDU momentan an Ein-
fluss verloren zu haben. Konservative Leitbilder sind unter dem Eindruck der
Umbrüche in Sozialstruktur, Lebensweise und Wertorientierungen reihenwei-
se erodiert. Empirische Untersuchungen zu Ungleichheitsideologien und
„gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ arbeitet Guido Speckmann auf:
Konservative Einstellungen in der Bevölkerung, so die These, haben sich
zwar verändert – an Bedeutung verloren haben sie indes nicht. Wo ehemals
insbesondere wertkonservative Vorstellungen im Vordergrund standen, haben
sich inzwischen neoliberale Deutungsmuster durchgesetzt, in denen die Ab-
lehnung des Egalitarismus in erster Linie ökonomisch begründet wird: Mit
den vermeintlichen Notwendigkeiten des Konkurrenzkampfs um einen Platz
in der Gesellschaft. Thomas Wagner untersucht, wie Bürgerbeteiligung und
direktdemokratische Elemente zunehmend in liberalkonservative Modernisie-
rungsprojekte integriert werden. Ihre Aufnahme wird als Mittel interpretiert,
möglichen gesellschaftlichen Konflikten etwa um Großprojekte frühzeitig den
Wind aus den Segeln zu nehmen. Das Ergebnis sei somit eine zynische Partizi-
pation, die keine Form zur Austragung von Konflikten, sondern im Gegenteil
ein spezifisches Herrschaftsinstrument sei. Sebastian Friedrich fragt, welche
Motive der vermeintlichen Hinwendung von Konservativen zu linken Positio-
nen zu Grunde liegen. Er untersucht dies am Beispiel des FAZ-Feuilletons. Sei-
ne These: Die hegemoniale Schwäche der Linken lässt konservativen Autoren
Raum, linkes Denken als diskursives Ersatzteillager zur Polemik gegen Aus-
wüchse des Systems zu nutzen. Dass es im Zuge der Modernisierung des Kon-
servatismus – insbesondere im Umfeld der Unionsparteien – stiller geworden ist
um traditionelle rechte Positionen und warum das so ist, ist Thema der Beiträge
von David Begrich (Beispiel des „Instituts für Staatspolitik“) und Albrecht
Maurer (Beispiel des „Berliner Kreises“ der CDU).


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Um Ideologie-Theorie geht es im zweiten Schwerpunkt. Kein anderer Begriff
des marxistischen Denkens, so Thomas Metscher, ist so umstritten wie der
Begriff der Ideologie. Die mit dem Begriff zu fassenden Sachverhalte „rei-
chen von Inhalten und Formen des Bewusstseins bis zu sozialen Institutionen,
Vergesellschaftungsformen, psychischen Dispositionen und Sachverhalten all-
täglicher Lebenspraxis“. Metscher spricht von einem „Komplex Ideologie“.
Seine Überlegungen stellen den Versuch dar, Aspekte vorhandener Ideologie-
begriffe in ein „integratives Konzept“ einzubinden. Werner Seppmann unter-
streicht, dass von einem Konsens über das ‚Problemfeld Ideologie“ „gerade
unter Marxistinnen und Marxisten“ keine Rede sein könne. Es geht ihm in
seiner Problemskizze in erster Linie um ideologiekritische Denkmittel, ohne
die nicht begriffen werden könne, wie der gegenwärtige Kapitalismus seine
Macht stabilisiert. Er plädiert – u.a. in Auseinandersetzung mit dem „Projekt
Ideologietheorie“ – für eine Analyse des ideologischen Bewusstseins „inner-
halb konkreter Praxisverhältnisse“ des Alltagslebens der Menschen, in denen
sich zugleich Bewusstes und Unbewusstes, die Wirkung ideologischer Appa-
rate und kulturelle Traditionen geltend machen. David Salomon geht dem Zu-
sammenhang von Ideologie und Herrschaft nach. In Anknüpfung an ideolo-
gietheoretische Überlegungen Antonio Gramscis fragt er dabei nach dem Ver-
hältnis von Ideologie und kritischer Philosophie. Seine These: Progressive Ideo-
logie, also jener Aspekt der Kopfarbeit, der Gedanken politisch wirksam wer-
den lässt, darf sich nicht weltanschaulich abschließen, sondern ist stets auf kri-
tische Metatheorien angewiesen, die politisches Denken an die Wahrheitsfra-
ge rückkoppeln und gegebenenfalls Korrekturen verlangen.


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Werner Rufs Bilanz der Revolten in der arabischen Welt fällt ernüchternd aus.
Waren die Hoffnungen angesichts der Umstürze in Tunesien und Ägypten (vgl.
Z 86, Juni 2011) groß, so wurden die Karten mit dem Aufstand und schließlich
der Intervention in Libyen neu gemischt. Die Gegenrevolution ist heute auf dem
Vormarsch. Seine Schlussfolgerung: „Die Völker, die die Diktatoren vertrieben,
haben die Revolution noch vor sich.“ Zu den spektakulären globalen Machtver-
schiebungen der letzten 30 Jahre gehört der wirtschaftliche und politische Auf-
stieg der VR China (vgl. Z 89). Helmut Peters betrachtet diese Entwicklung un-
ter dem Aspekt der internationalen Strategie der chinesischen KP. Im zweiten
Teil seines Übersichtsbeitrags behandelt er die Zeit von der Normalisierung der
Beziehungen zu den USA und dem Kampf gegen deren Hegemonismus unter
Deng Xiaoping (1978) über das Konzept der „gemeinsamen Entwicklung“ und
des Zugangs zum kapitalistischen Weltmarkt unter Jiang Zemin bis zur „Ära“
Hu Jintaos und der Idee der „harmonischen Welt“ als einem Reformkonzept zur
„friedlichen Befreiung“ der kapitalistischen Welt von der Hegemonie- und
Machtpolitik der USA und ihrer Verbündeten.


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„Implex“ haben Barbara Kirchner und Dietmar Dath ihren voluminösen Essay
von 800 Druckseiten genannt, in dem es um Begriff und Geschichte von Fort-
schritt geht und um die Frage, wie die Zukunft, die in der Gegenwart steckt,
durch die Subjekte aus ihr entbunden werden kann. „Ein großer Text“, befin-
det Georg Fülberth. Die im Sommer 2012 stattfindende Nachfolgekonferenz
von Rio wird die globalen Umweltkrisen in den Mittelpunkt der Aufmerk-
samkeit rücken. Karl Unger diskutiert eine Reihe jüngst erschienener Studien
über den Wachstumszwang kapitalistischer Gesellschaften, über Möglichkei-
ten der Wachstumsbegrenzung und auf „Nachhaltigkeit“ abstellende Politik-
vorschläge. Zu den Faktoren, die für das Scheitern des Sozialismus in der
DDR verantwortlich waren, gehören auch die im Vergleich zu Westdeutsch-
land spezifischen Belastungen der DDR-Wirtschaft, die sich u.a. aus einseiti-
gen Reparationslasten, den Besonderheiten der Energie- und Rohstoffbasis der
DDR und den Nachteilen in den Außenhandelsbeziehungen zur UdSSR erga-
ben. Karl Mai summiert die sich daraus ergebenden volkswirtschaftlichen Be-
lastungen; ein „Einholen“ der Bundesrepublik war aus seiner Sicht nicht mög-
lich. Am 19. Mai jährte sich der Geburtstag J. G. Fichtes zum 250. Mal.
„Fichtes Denken“, schreibt Wolfgang Förster im zweiten Teil seines Gedenk-
artikels, „vereint jakobinisch geprägten Egalitarismus mit der von der klassi-
schen deutschen Philosophie begründeten Konzeption der Herstellung des
Vernunftzustandes der Menschheit.“


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Für Z 91 (September 2012) sind weitere Beiträge zur Linken in Europa und
Deutschland, zum Fiskalpakt, zu Gewerkschaften und betrieblichen Bewegungen
2012, zur Tagung Rio 20 und zu Fragen marxistischer Philosophie geplant. Dis-
kussionsangebote sind erwünscht und willkommen.