Finanzkrise und Austeritätspolitik haben seit dem letzten
Jahr Regierungen –
sozialdemokratische wie konservative – in acht
europäischen Ländern stürzen
lassen. Die politische Destabilisierung in Europa ist
unübersehbar. Sie ist in ers-
ter Linie eine Folge des vom europäischen Zentrum
ausgeübten Wirtschafts-
und Finanzdiktats, dessen Austeritätspolitik die peripheren
Länder ökonomisch
und politisch nur noch tiefer in die Krise getrieben hat. Der
Fiskalpakt soll den
Sparkurs in Europa festschreiben. Er ist Teil bei dem Bemühen,
das Regime der
autoritären Regulierung auf europäischer Ebene weiter
auszubauen.
Die Wahlen in Frankreich und in Griechenland haben das Verlangen
nach ei-
nem Kurswechsel zum Ausdruck gebracht. Erstmals zeigte sich, dass
die Linke
nicht ohne Einfluss auf den Gang der Dinge bleiben muss. In
Frankreich ist sie
deutlich gestärkt aus den Wahlen hervorgegangen – dies
gilt für Sozialisten
ebenso wie für die radikale Linke. Die Übernahme der
Präsidentschaft durch
den Sozialisten Hollande gibt zumindest die Möglichkeit, Druck
für eine Neu-
verhandlung des Fiskalpakts und der Richtung der europäischen
Integration zu
entwickeln. In Griechenland ist die Linke zur
zahlenmäßig stärksten Kraft ge-
worden – aber sie bleibt politisch tief gespalten und damit
vorerst weitgehend
handlungsunfähig. Die Kehrseite: In beiden Ländern hat
unter dem Eindruck der
Krise die extreme und neofaschistische Rechte massiv an
Rückhalt gewonnen.
Für die Linke in der Bundesrepublik ist das Abschneiden der
Linksfront in Frank-
reich von besonderem Interesse. Ihr Wahlergebnis muss, so Nico
Biver, vor dem
Hintergrund des langfristigen Niedergangs der französischen
Linken als bedeut-
sam gewertet werden. Seit 1981 hat kein Kandidat links der
Sozialisten eine derar-
tige Zustimmung gefunden. Der Trend der Rechtswende bei den
französischen
Arbeitern, Angestellten und unteren Mittelschichten ist jedoch nach
wie vor un-
gebrochen. Die extreme Rechte (Front National) hat ihren Einfluss
weiter auswei-
ten können. Ob es bei den Parlamentswahlen im Juni d. J zu
einer linken Mehrheit
kommt, ist derzeit fraglich. Vor welche Probleme sich die
Linksfront gestellt
sieht, zeigt auch eine Debatte französischer Gewerkschafter
und Wissenschaftler
(Canon, Collovald, Wolikow), die wir ergänzend
dokumentieren.
***
Im ersten Schwerpunkt des vorliegenden Heftes geht es um den unter
Moder-
nisierungsdruck stehenden Konservatismus in der Bundesrepublik.
Diese
Thematik wird im Vorfeld der Bundestagswahlen 2013 an Bedeutung
gewin-
nen. Die expliziten „Konservativen“ scheinen in der CDU
momentan an Ein-
fluss verloren zu haben. Konservative Leitbilder sind unter dem
Eindruck der
Umbrüche in Sozialstruktur, Lebensweise und Wertorientierungen
reihenwei-
se erodiert. Empirische Untersuchungen zu Ungleichheitsideologien
und
„gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ arbeitet Guido
Speckmann auf:
Konservative Einstellungen in der Bevölkerung, so die These,
haben sich
zwar verändert – an Bedeutung verloren haben sie indes
nicht. Wo ehemals
insbesondere wertkonservative Vorstellungen im Vordergrund standen,
haben
sich inzwischen neoliberale Deutungsmuster durchgesetzt, in denen
die Ab-
lehnung des Egalitarismus in erster Linie ökonomisch
begründet wird: Mit
den vermeintlichen Notwendigkeiten des Konkurrenzkampfs um einen
Platz
in der Gesellschaft. Thomas Wagner untersucht, wie
Bürgerbeteiligung und
direktdemokratische Elemente zunehmend in liberalkonservative
Modernisie-
rungsprojekte integriert werden. Ihre Aufnahme wird als Mittel
interpretiert,
möglichen gesellschaftlichen Konflikten etwa um
Großprojekte frühzeitig den
Wind aus den Segeln zu nehmen. Das Ergebnis sei somit eine zynische
Partizi-
pation, die keine Form zur Austragung von Konflikten, sondern im
Gegenteil
ein spezifisches Herrschaftsinstrument sei. Sebastian Friedrich
fragt, welche
Motive der vermeintlichen Hinwendung von Konservativen zu linken
Positio-
nen zu Grunde liegen. Er untersucht dies am Beispiel des
FAZ-Feuilletons. Sei-
ne These: Die hegemoniale Schwäche der Linken lässt
konservativen Autoren
Raum, linkes Denken als diskursives Ersatzteillager zur Polemik
gegen Aus-
wüchse des Systems zu nutzen. Dass es im Zuge der
Modernisierung des Kon-
servatismus – insbesondere im Umfeld der Unionsparteien
– stiller geworden ist
um traditionelle rechte Positionen und warum das so ist, ist Thema
der Beiträge
von David Begrich (Beispiel des „Instituts für
Staatspolitik“) und Albrecht
Maurer (Beispiel des „Berliner Kreises“ der CDU).
***
Um Ideologie-Theorie geht es im zweiten Schwerpunkt. Kein anderer
Begriff
des marxistischen Denkens, so Thomas Metscher, ist so umstritten
wie der
Begriff der Ideologie. Die mit dem Begriff zu fassenden
Sachverhalte „rei-
chen von Inhalten und Formen des Bewusstseins bis zu sozialen
Institutionen,
Vergesellschaftungsformen, psychischen Dispositionen und
Sachverhalten all-
täglicher Lebenspraxis“. Metscher spricht von einem
„Komplex Ideologie“.
Seine Überlegungen stellen den Versuch dar, Aspekte
vorhandener Ideologie-
begriffe in ein „integratives Konzept“ einzubinden.
Werner Seppmann unter-
streicht, dass von einem Konsens über das ‚Problemfeld
Ideologie“ „gerade
unter Marxistinnen und Marxisten“ keine Rede sein könne.
Es geht ihm in
seiner Problemskizze in erster Linie um ideologiekritische
Denkmittel, ohne
die nicht begriffen werden könne, wie der gegenwärtige
Kapitalismus seine
Macht stabilisiert. Er plädiert – u.a. in
Auseinandersetzung mit dem „Projekt
Ideologietheorie“ – für eine Analyse des
ideologischen Bewusstseins „inner-
halb konkreter Praxisverhältnisse“ des Alltagslebens der
Menschen, in denen
sich zugleich Bewusstes und Unbewusstes, die Wirkung ideologischer
Appa-
rate und kulturelle Traditionen geltend machen. David Salomon geht
dem Zu-
sammenhang von Ideologie und Herrschaft nach. In Anknüpfung an
ideolo-
gietheoretische Überlegungen Antonio Gramscis fragt er dabei
nach dem Ver-
hältnis von Ideologie und kritischer Philosophie. Seine These:
Progressive Ideo-
logie, also jener Aspekt der Kopfarbeit, der Gedanken politisch
wirksam wer-
den lässt, darf sich nicht weltanschaulich abschließen,
sondern ist stets auf kri-
tische Metatheorien angewiesen, die politisches Denken an die
Wahrheitsfra-
ge rückkoppeln und gegebenenfalls Korrekturen verlangen.
***
Werner Rufs Bilanz der Revolten in der arabischen Welt fällt
ernüchternd aus.
Waren die Hoffnungen angesichts der Umstürze in Tunesien und
Ägypten (vgl.
Z 86, Juni 2011) groß, so wurden die Karten mit dem Aufstand
und schließlich
der Intervention in Libyen neu gemischt. Die Gegenrevolution ist
heute auf dem
Vormarsch. Seine Schlussfolgerung: „Die Völker, die die
Diktatoren vertrieben,
haben die Revolution noch vor sich.“ Zu den
spektakulären globalen Machtver-
schiebungen der letzten 30 Jahre gehört der wirtschaftliche
und politische Auf-
stieg der VR China (vgl. Z 89). Helmut Peters betrachtet diese
Entwicklung un-
ter dem Aspekt der internationalen Strategie der chinesischen KP.
Im zweiten
Teil seines Übersichtsbeitrags behandelt er die Zeit von der
Normalisierung der
Beziehungen zu den USA und dem Kampf gegen deren Hegemonismus
unter
Deng Xiaoping (1978) über das Konzept der „gemeinsamen
Entwicklung“ und
des Zugangs zum kapitalistischen Weltmarkt unter Jiang Zemin bis
zur „Ära“
Hu Jintaos und der Idee der „harmonischen Welt“ als
einem Reformkonzept zur
„friedlichen Befreiung“ der kapitalistischen Welt von
der Hegemonie- und
Machtpolitik der USA und ihrer Verbündeten.
***
„Implex“ haben Barbara Kirchner und Dietmar Dath ihren
voluminösen Essay
von 800 Druckseiten genannt, in dem es um Begriff und Geschichte
von Fort-
schritt geht und um die Frage, wie die Zukunft, die in der
Gegenwart steckt,
durch die Subjekte aus ihr entbunden werden kann. „Ein
großer Text“, befin-
det Georg Fülberth. Die im Sommer 2012 stattfindende
Nachfolgekonferenz
von Rio wird die globalen Umweltkrisen in den Mittelpunkt der
Aufmerk-
samkeit rücken. Karl Unger diskutiert eine Reihe jüngst
erschienener Studien
über den Wachstumszwang kapitalistischer Gesellschaften,
über Möglichkei-
ten der Wachstumsbegrenzung und auf „Nachhaltigkeit“
abstellende Politik-
vorschläge. Zu den Faktoren, die für das Scheitern des
Sozialismus in der
DDR verantwortlich waren, gehören auch die im Vergleich zu
Westdeutsch-
land spezifischen Belastungen der DDR-Wirtschaft, die sich u.a. aus
einseiti-
gen Reparationslasten, den Besonderheiten der Energie- und
Rohstoffbasis der
DDR und den Nachteilen in den Außenhandelsbeziehungen zur
UdSSR erga-
ben. Karl Mai summiert die sich daraus ergebenden
volkswirtschaftlichen Be-
lastungen; ein „Einholen“ der Bundesrepublik war aus
seiner Sicht nicht mög-
lich. Am 19. Mai jährte sich der Geburtstag J. G. Fichtes zum
250. Mal.
„Fichtes Denken“, schreibt Wolfgang Förster im
zweiten Teil seines Gedenk-
artikels, „vereint jakobinisch geprägten Egalitarismus
mit der von der klassi-
schen deutschen Philosophie begründeten Konzeption der
Herstellung des
Vernunftzustandes der Menschheit.“
***
Für Z 91 (September 2012) sind weitere Beiträge zur
Linken in Europa und
Deutschland, zum Fiskalpakt, zu Gewerkschaften und betrieblichen
Bewegungen
2012, zur Tagung Rio 20 und zu Fragen marxistischer Philosophie
geplant. Dis-
kussionsangebote sind erwünscht und willkommen.