Eine Diskussion im Vorfeld
Das vorliegende Gespräch wurde vor dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen in Frankreich geführt. Ausgangspunkt ist die überraschend große Resonanz, die die Linksfront (Front de Gauche) mit Jean-Luc Mélenchon als Kandidat im Wahlkampf gefunden hatte. In den Prognosen lag Mélenchon zeitweilig auf dem dritten Platz. Die „L’Humanité“ fasste die Stimmung Mitte April so zusammen: „‚Jean-Luc Mélenchon, die Frontwelle’, ‚Die neuen Ansprüche der Linksfront’, ‚PS (Sozialistische Partei; d.Ü.) durch den Durchbruch Mélenchons verwirrt’... Die Linksfront und ihr Präsidentschaftskandidat haben es auf die Titelseiten der Medien geschafft und erschüttern die politische Landschaft. Zu kleine Säle und nun zu kleine Plätze wie an der Bastille in Paris, wie am Kapitol in Toulouse, Kundgebungen auf den man immer mehr Frauen und Jugendliche sieht, Versammlungen bei denen man stolz seine Arbeitskleidung trägt, wo man keinen Namen ruft, sondern skandiert: ‚Wi-der-stand’. Die Kommentatoren bei Hofe tun sich schwer, das zu erklären und die Meinungsforscher mussten ihre Prognosen anpassen. Der Kandidat der Linksfront, der nun als ein möglicher ‚dritter Mann’ betrachtet wird, stellt das vorgefertigte Szenario, das einen geräuschlosen Wechsel gewährleisten und die neu gestylte FN (Nationale Front; d.Ü.) salonfähig machen soll, auf den Kopf. Und die Bürger, die in ihrem Umfeld für die Linksfront werben, haben nicht die Absicht, nach der Präsidentschaftswahl damit aufzuhören.“
Gesprächsteilnehmer: Jean-Marc Canon (JC), Generalsekretär der Allgemeinen Union der Beamtenverbände der CGT; Annie Collovald (AC), Soziologie-Professorin an der Universität Nantes; Serge Wolikow (SW), Professor für Zeitgeschichte an der Universität Burgund. (Anm. der Redaktion)
Was mit der Linksfront geschieht ist erstaunlich. Ist es völlig neu?
JC: Völlig neu, das kann ich nicht eindeutig beantworten. Sicher ist jedoch, dass es ziemlich lange her ist, dass politische Wahlen eine derart große Begeisterung unter den Menschen ausgelöst haben, die in Gewerkschaften und im weiteren Sinne in den sozialen Bewegungen engagiert sind. Darüber hinaus glaube ich sogar, dass man mit Fug und Recht sagen kann, dass die Linksfront und ihre Wahlkampagne einen starken Willen zur Partizipation erzeugen und wirkliche Hoffnung schaffen.
Eine solche im Alltag wahrnehmbare Bewegung ist ganz außergewöhnlich. Sie ist es umso mehr durch ihre Einheitsdynamik. Zahlreiche Tendenzen und politische Lebenswege sind in der Linksfront zusammengekommen. Dennoch ist sie weit davon entfernt, die bloße Summe unterschiedlicher Strömungen zu sein, die abgeschottet weiter existieren. Es ist offenkundig, dass die Linksfront starke Synergien entwickelt und dass diese Kombination von Unterschieden bereichernd ist.
AC: Niemand kann sagen, dass man auf die Linksfront gefasst war. In der Tat, nichts erlaubte vorherzusagen, dass es dem Parteienbündnis, das sie bildet, gelingen würde, sich im politischen Wettbewerb als attraktive politische Kraft durchzusetzen, die man fortan nicht mehr ignorieren kann. Davon zeugen u.a. die immer größeren Versammlungen und die Flut an Presseberichten, unabhängig von ihrer Tendenz. Man erlebt in gewisser Weise eine Mobilisierung, welche die Vorhersagen der Wahlforscher widerlegt, die von einer bereits gelaufenen Wahl zwischen der PS (Sozialistische Partei; d. Ü.), der UMP (Union für eine Volksbewegung, die Partei Sarkozys; d.Ü.) und einer möglichen dritten Person – im vorliegenden Fall eine Frau, Marine Le Pen – ausgingen. Die Überraschung ergibt sich auch aus der Diskursführung der Linksfront, die aus den bekannten rhetorischen Schemata ausbricht. Sie repolitisiert Fragen – wie die Teilung des Reichtums, Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheiten –, die lange Zeit nach dem Motto „Es gibt keine Alternative“ behandelt wurden; sie liefert eine soziale Erzählung, die die Ungerechtigkeiten und die Gegner benennt, indem sie Kapital und Arbeit gegenüberstellt und mit einer klassenkämpferischen Sprache für einen anderen Realismus als den der Herrschenden und der ökonomischen Zwänge plädiert. Kurz, dies sind Diskurse, die den linken Werten der Gleichheit, der Solidarität, der Toleranz wieder einen konkreten Sinn und dem vertretenen Programm eine emanzipatorische Orientierung geben. All das lässt den Glauben an die Wirksamkeit politischer Aktionen und die Veränderbarkeit der Welt wieder aufleben. Ist das neu? Sicherlich nicht, aber es ist lange her, dass ein solches politisches Angebot mit einer solch konsistenten Argumentation und Vielfalt gemacht wurde. Auch ist es sehr lange her, dass man sich so der großen Aufgabe gestellt hat, die Volkswählerschaft (électorat populaire) zurück zu gewinnen. Das wurde nicht nur laut und deutlich angekündigt – die PS hatte die Volksschichten (groupes populaires) aufgegeben, um das „Frankreich von morgen“ zu erobern –, sondern man stützt sich dabei auch auf politisch aktive und gewerkschaftliche Netze und respektiert die Arbeiterklasse auf andere Weise denn als „morbide Schönheit“. Ein solches Auftreten verdeutlicht die Aufmerksamkeit und Achtung, die selbst den Mittellosesten entgegen gebracht wird. Dabei ist es ja noch nicht lange her, dass diese Haltung als archaisch, rückwärtsgewandt, wenn nicht sogar als politisch gefährlich bezeichnet wurde – hat man uns nicht eingehämmert, dass die Volksstimmen (le vote populaire) ohnehin zur FN gingen? Dadurch können alle verunsichert werden, die meinen, dass die Volksschichten (groupes populaires) an ihrem Platz bleiben sollten, möglichst stillschweigend auf der falschen Seite des Kräfteverhältnisses.
SW: Die wachsende Resonanz Jean-Luc Mélenchons in den Wahlumfragen muss all jene überraschen, die sich an das Zerbröckeln der extremen Linken gewöhnt hatten. Diese hatte, vor allem verkörpert durch eine Kommunistische Partei, die lange Zeit die wichtigste politische Kraft der Linken gewesen war, im Verlauf der letzten dreißig Jahre einen Niedergang erfahren, der vom Rückgang des kommunistischen Stimmenanteils und vom Aufschwung von Bewegungen geprägt war, die sich als ihre Nachfolger präsentierten, aber nicht in der Lage waren, sie zu ersetzen. Das Verschwinden der Arbeiterbewegung erschien ebenso unabwendbar wie das der großen sozialen Forderungen, die von der Sozialistischen Partei nach ihrer erfolgreichen sozialdemokratischen Wendung fallen gelassen wurden. Der Aufstieg der Linksfront kann nicht nur mit der Tiefe der ökonomischen und sozialen Krise und auch nicht mit den Verwüstungen erklärt werden, die die Politik der Rechten hinterlassen hat. Der Grund liegt vielmehr in der politischen Initiative, die nach langem Zögern durch die Schaffung dieser politischen Vereinigung entstand. Ihr großer Verdienst liegt darin, den Erwartungen eines bedeutenden Teils der Welt der Arbeit zu entsprechen, während die sozialen Bewegungen ständig mit dem Fehlen politischer Perspektiven zu kämpfen hatten. Man kann das, was wir derzeit erleben, durchaus mit den Erfahrungen der Volksfront vergleichen. 1936 war es der Kommunistischen Partei, die auf der Linken damals in einer ausgesprochenen Minderheitsposition war, gelungen, ihren Stimmenanteil zu verdoppeln, nachdem sie die Initiative für dieses Bündnis ergriffen hatte. Ebenso 1969, als der kommunistische Kandidat Jacques Duclos enorm zulegte und mehr als 20 Prozent der Stimmen erzielte. Während die Sozialistische Partei die Einheit verweigerte, verkörperte er die soziale Kampfbereitschaft und die Hoffnung auf Einheit.
Marine Le Pen scheint, jedenfalls momentan, auf der Stelle zu treten. Stellen sie das in einen Zusammenhang mit der Kampagne und der Dynamik der Linksfront?
JC: Ja, es scheint so zu sein, dass die FN in der letzten Zeit weniger Rückenwind hat. Noch muss man allerdings sehr vorsichtig sein. Die Umfragen geben Marine Le Pen im Durchschnitt zwischen 14 und 16 Prozent der Stimmen. Das ist nicht sehr weit entfernt von den 17 Prozent ihres Vaters in 2002 und deutlich mehr als die 10,5 Prozent von 2007. Für alle, die wie ich der Meinung sind, dass Marine Le Pen nichts Grundsätzliches an den Orientierungen der FN geändert hat, bleibt die Bedrohung bestehen, die die extreme Rechte für die Demokratie und die Gesamtheit der sozialen Rechte bedeutet. Ich füge sogar hinzu, dass die Problematik von 2012 auch die von 2017 sein wird. Die notwendige Entmachtung Sarkozys sollte kein Selbstzweck sein. Wenn François Hollande Präsident der Republik werden sollte und eine Politik betreibt, die keinen Bruch mit der Politik darstellt, die wir bis jetzt ertragen mussten, wenn seine Politik also nicht auf der Höhe der progressiven Alternativen wäre, die wir dringend brauchen, dann wäre das ein breites Einfallstor für Marine Le Pen und die FN. Von diesem Gesichtspunkt aus bin ich überzeugt, dass das Gewicht der Linksfront absolut entscheidend ist. Um direkt zur Frage zurückzukommen: Die Kampagne der Linksfront muss man nach meinem Dafürhalten als Akt öffentlicher Hygiene verstehen: Indem sie laut und deutlich die sozialen Probleme benennt, jede Konzession bezüglich der Immigration zurückweist, ohne Einschränkung den Betrug der FN anprangert, erteilt die Linksfront der extremen Rechten bedeutende Schläge. Und darüber bin ich froh.
SW: Die Schwierigkeiten der französischen extremen Rechten, die heute den extremen Flügel der regierenden Rechten darstellt, bestehen darin, dass sie eine soziale und politische Kritik präsentiert, die die Ungleichheit, die Spaltung, das Ressentiment preist und dabei den Eindruck erweckt, beunruhigt über die nationale Zukunft und die Macht des Weltkapitalismus zu sein. Der Kampf der Linksfront hat sie – ohne das Anprangern des Rassismus und des faschistischen Miefs der extremen Rechten zu vergessen – in Schwierigkeiten gebracht, indem sie den zutiefst reaktionären und inhumanen Charakter einer Doktrin enthüllt hat, die die republikanischen Werte negiert. Es wäre, um sich Gehör zu verschaffen, auch erforderlich, jene ökonomischen und sozialen Mechanismen in Frage zu stellen, die eine tiefgreifende soziale Ungleichheit hervorgebracht haben. Aber der Niedergang der extremen Rechten, der schon beim Sieg von Sarkozy 2007 prognostiziert worden war, wäre nur scheinbar, wenn sie nicht genau auf dem Terrain bekämpft würde, wo sie floriert. Die Frage der Nation und ihre Berücksichtigung in der Vision eines tiefgreifend transformierten politischen Europas sind entscheidend. In dieser Hinsicht scheint mir die Aktivität der Linksfront viel versprechend.
AC: Ich weiß nicht, ob die FN bei den Wahlen auf der Stelle tritt. Die Umfragen interessieren nur die, die daran glauben und haben keinen großen Wert. Allerdings tritt die FN in den Kommentaren und in den Köpfen der Demoskopen auf der Stelle, die jetzt gezwungen sind, sich für die Linksfront zu interessieren (und sie in den Umfragen steigen lassen). Aber wenn es eine Veränderung gibt, so muss man sie, so scheint es mir, in der Reorganisation des politischen Spiels in seiner Gesamtheit suchen. Die Linksfront hat, wie jeder Neuankömmling, den Wettbewerb neu eröffnet und die anderen Parteien gezwungen, sie ernst zu nehmen. Sie hat der FN die Rolle des zentralen Gegners streitig gemacht, um den herum sich alles organisieren sollte, indem sie sich als ein anderer glaubhafter Herausforderer in Stellung gebracht hat. Prompt verschiebt sie das politische Spiel nach links, das seit mehreren Jahren nach rechts entglitten war. Vor allem polarisieren ihr offensives Auftreten gegen die FN und ihr Diskurs des Klassenkampfs die politischen Stellungnahmen und verändert das, was in der Politik gesagt oder getan werden darf. Einerseits macht sie jetzt offenkundig, dass Ideen oder Themen der FN, die man zuvor im Namen des gesunden Menschenverstands oder nach dem Schema „Das versteht sich von selbst“ übernommen hatte, Strategien einer extremen Rechten sind, die sich als „klassische Rechte“ verkleidet. Andererseits zwingt sie eine PS, die zuvor daran interessiert war, das Wohlwollen der herrschenden Klassen und derer, die das Sagen haben, zu gewinnen, entschiedener nach links zu schauen, um wahrzunehmen, dass es Frankreich auch jenseits der Ringautobahnen und der sozialen Barrieren gibt.
Glauben Sie, dass dieser Elan dauerhaft sein kann und wenn ja, unter welchen Bedingungen?
SG: Das, was folgt, ist nicht festgeschrieben und hängt von zahlreichen Faktoren ab, nicht nur von der Wählerschaft, sondern auch von den Protagonisten der Linksfront. Im Fall einer Niederlage der Rechten muss es die Linksfront vermeiden, im Schlepptau einer hegemonialen sozialdemokratischen Linken zu landen und sich auf den Aventin in die Rolle eines kritischen Beobachters zurückzuziehen.
Das erfordert politische Erfindungsgabe und die Fähigkeit zur Initiative. Letztendlich ist diese Frage auch die nach der Zukunft der Linksfront als politischer Kraft. Eine Zurück zum alten Zustand, was die Allianz und das Vorgehen betrifft, wäre verheerend. Das vorherige Jahrzehnt hat gezeigt, das man gegen einen Rückschritt nicht gefeit ist! Die Linksfront kann nicht dauerhaft ein Zusammenschluss von Organisationen bleiben. Das beinhaltet ein Hinauswachsen und vor allem die Möglichkeit, sich den sozialen Bewegungen und all jenen zu öffnen, die ihr in der Wahlkampagne entfaltetes Engagement fortsetzen wollen. Zuletzt möchte ich darauf hinweisen, dass die Möglichkeit einer breiten sozialen Bewegung wie 1936 und 1995 nicht auszuschließen ist; in einem solchen Falle wäre eine sich so verstehende Linksfront fähig, Antworten zu geben!
AC: Die Bedingungen für etwas Dauerhaftes sind andere als die der aktuellen Mobilisierung. Andere politische Aufgaben sind zu bewältigen: Kompromisse, neue Allianzen, Positionen, die zu besetzen sind, um die Mobilisierung weiterzuführen und längerfristige Bindungen zu schaffen. Man kann nicht wissen, ob die Linksfront von Dauer sein wird, noch welche Form sie haben wird. Eine Niederlage wie ein Erfolg sind Momente, die schwierig zu meistern sind. Wetten möchte ich allerdings, dass die Begeisterung, die in Gruppen und bei jenen Personen ausgelöst wurde, die „nicht mehr daran glaubten“, sich nicht so schnell verlieren wird. Es wird nicht leicht sein, damit umzugehen, aber auch nicht, die Hoffnung zu verlieren…
JC: Natürlich kann der aktuelle Elan sich als dauerhaft erweisen. Mir scheint, dass er sich sogar noch verstärken kann! Nichts könnte schädlicher sein, als wenn sich diese Dynamik letztlich nur als ein Sturm im Wasserglas erweisen würde. Aber die Dinge sind weder einfach noch linear. Man weiß auch, dass sich solche Erfolge als fragil erweisen können. Es war z.B. nicht so, dass der Erfolg von 2005 über den TCE (Volksabstimmung über den Europäischen Verfassungsvertrag, d. Ü.) zu weiteren politischen oder bürgerschaftlichen Erfolgen geführt hätte – weit gefehlt. Um sich weiter zu entwickeln und um eine beständige Kraft zu schaffen, wird die Linksfront weiterhin neue und eigenständige Antworten zu den wichtigen Themen der Gesellschaft, mit denen wir konfrontiert sind, geben müssen. Sie wird unermüdlich daran arbeiten müssen, sie populär und glaubwürdig zu machen. Ich glaube, dass sie aus der demokratischen Dimension – einer sich sorgenden, den Menschen nahe stehenden politischen Bewegung – ein wichtiges und stetes Anliegen machen muss. In meinen Augen muss die Linksfront, unter strikter Achtung der Unabhängigkeit der verschiedenen Akteure, sich noch besser und tiefgehender mit den Fragen der Bürgerrechte am Arbeitsplatz befassen und die Probleme der sozialen Demokratie in den Mittelpunkt ihres politischen Projekts rücken.
[1] Rundtischgespräch der L’Humanité v. 14./15. April 2012, S. 11/12; Gesprächsführung: Jacqueline Sellem. Übersetzung: Henning Köster.