Die Corona-Krise offenbart, wie dringend wir ein radikales Umdenken für unsere Gesundheitsversorgung brauchen. Angesichts der akuten Krise mag diese Forderung verfrüht erscheinen, ist sie aber nicht: Sogar Bundesarbeitsminister Heil hat jüngst eine Überprüfung des deutschen Gesundheitssystems für die Zeit nach der Corona-Krise gefordert. Diese Betrachtung darf jedoch nicht vertagt werden auf eine Zeit, in der die Versorgungslandschaft bereits geprägt sein wird von den Gewinnern der Krise. Auf eine Zeit, in der weitere Krankenhäuser insolvent und Praxen geschlossen sein werden, in der weitere Beschäftigte aufgrund der hohen Arbeitsbelastung und -verdichtung dem Gesundheitswesen den Rücken gekehrt haben werden. Anstatt den Krankenhäusern monatlich auf der Grundlage der Ausgaben des vergangenen Jahres ein Budget zuzüglich eines Krisenzuschlags zuzuweisen, hat die Bundesregierung das Fallpauschalen-System lediglich modifiziert und setzt weiterhin auf Markt und Wettbewerb. Fatales Ergebnis ist, dass ein Teil der Krankenhäuser, die Betten frei gemacht haben, nun in Kurzarbeit gehen müssen, weil es in ihrer Region bislang nur wenige Corona-Fälle gibt. Dieses Beispiel beweist, dass die Grundsatzdebatte um die Ausrichtung unserer Gesundheitsversorgung bereits jetzt in der Krise geführt werden muss.
Auch die Erkenntnis, dass gering entlohnte Berufsgruppen, wie die immer noch überwiegend weiblichen Pflegekräfte in den Krankenhäusern und auch in der Altenpflege oder den Pflegediensten, die Kassiererinnen an der Supermarktkasse oder Reinigungs- und Servicekräfte, „systemrelevant“ sind und ihre Arbeit keinesfalls selbstverständlich ist, muss dazu führen, unser Gesundheitssystem grundlegend zu verändern. Denn bislang sind es vor allem Angehörige, die unsichtbare Arbeit leisten und die Ausfälle unseres Versorgungssystems notwendigerweise mit unbezahlter Arbeit kompensieren, Kinderbetreuung und Pflege- oder Sorgearbeit meist ohne Gegenleistung übernehmen. Wir wissen seit langem, dass die sogenannte „gesteuerte Wettbewerbsordnung“ gescheitert ist, da diese Ordnung die Realisierung von Profitinteressen und Gewinnstreben befeuert und somit einer am Menschen und dem tatsächlichen Bedarf orientierten Gesundheitsversorgung entgegensteht. In den letzten Jahrzehnten wurden durch Kommerzialisierung und Ökonomisierung immer weitere Teile des Gesundheitswesens privatisiert und der Marktlogik unterworfen. Diese Prozesse müssen nicht nur rückgängig gemacht, sondern ganz aufgehoben werden. Dafür muss an der Finanzierung angesetzt werden. Das deutsche Krankenversicherungssystem ist aufgeteilt in privat und gesetzlich. Diese Zweiteilung produziert beständig Ungerechtigkeiten, den meisten Menschen bekannt durch ihre eigenen Erfahrungen und den Begriff „Zwei-Klassen-Medizin“. Die private Krankenversicherung ermöglicht Besserverdienenden, ihre ohnehin geringeren Krankheitsrisiken privat abzusichern und sich so der Solidargemeinschaft zu entziehen. Der gesetzlichen Krankenversicherung bleiben deshalb vor allem die unteren Einkommensschichten und Versicherte mit höheren Krankheitsrisiken. Die Klassenzugehörigkeit der Menschen reproduziert sich so anhand des an Einkommen und Vermögen orientierten unterschiedlichen Zugangs zu gesundheitlicher Versorgung.
Eine mögliche Antwort auf diese unerträgliche Schieflage ist ein einheitliches Krankenversicherungssystem im Sinne einer solidarischen Gesundheits- und Pflegeversicherung, wie sie die gewerkschaftliche und politische Linke fordert. Sie würde das traditionelle Geschäftsmodell der privaten Krankenversicherung beenden, denn sie erweitert das Solidarprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung auf die gesamte Bevölkerung, finanziert über ein beitragspflichtiges Einkommen aus allen Einkommensarten, also auch Miet-, Pacht- und Kapitalerträgen. Bisher zahlen hohe Einkommen prozentual weniger Beitrag als niedrige und mittlere Einkommen.
Neben der Einführung eines sozial gerechten Krankenversicherungssystems muss die gesamte Infrastruktur unserer Gesundheitsversorgung flächendeckend solidarisch und bedarfsgerecht, im Sinne einer öffentlichen Daseinsvorsorge aufgestellt werden. Dazu muss auch die Eigentumsfrage gestellt, über Vergesellschaftung und Enteignung geredet werden. In der Krise sind all diejenigen verstummt, die die Schließung von bis zu 60 Prozent der Krankenhäuser und die Verringerung der Bettenzahl gefordert haben. Im Gegenteil, neuerdings nennt Gesundheitsminister Spahn die überdurchschnittliche Bettenzahl gar als wichtige Voraussetzung für die Bewältigung der Krise. Wir sollten aus dieser Erkenntnis Nägel mit Köpfen machen und auf dieser Grundlage den Pflegenotstand beenden: Durch Krankenhäuser in öffentlicher Trägerschaft, die selbstkostendeckend finanziert werden. Grundlage dafür muss auch eine neue, transparente Bedarfsplanung sein, damit die Menschen nachvollziehen können, welche Krankenhäuser erhalten oder möglicherweise auch geschlossen werden. Die stationäre Versorgung muss sinnvoll mit der ambulanten verzahnt werden. Anstatt dem Ausverkauf der Arztsitze an Private-Equity-Heuschrecken tatenlos zuzuschauen, muss den Kommunen Geld zur Gründung von Medizinischen Versorgungszentren zur Verfügung gestellt werden. So kann in Kooperation mit Krankenhäusern und ergänzenden Angeboten, wie zum Beispiel Medibussen, die ambulante Versorgung insbesondere auf dem Land gesichert werden, wenn Arztsitze nicht mehr besetzt werden können.
Natürlich ist mit der Forderung, das Gesundheitssystem in die öffentliche Hand zu überführen, nicht jedes Problem gelöst. Eine bloße Verstaatlichung wird nicht die Lösung sein, denn es geht vor allem darum, die bedarfsgerechte Versorgung der Menschen ins Zentrum zu stellen. Dafür braucht es neue betriebliche Strukturen der Mitbestimmung und Demokratisierung für die Beschäftigten im Gesundheitswesen, endlich eine dauerhaft bessere Vergütung und die gesellschaftliche Aufwertung aller Pflege- und Sorgearbeit.
Achim Kessler