Die Politik der Europäischen Union in der Corona-Krise belegt die alte Weisheit, dass Krisen zumeist wie Katalysatoren wirken. Sie beschleunigen Prozesse und Entwicklungen, die in der Luft liegen oder schon begonnen haben. Die schwelenden Konflikte in der EU werden in der Krise in aller Vehemenz sichtbar: hier und heute als Konflikt um die Unterstützung der besonders vom Coronavirus betroffenen Länder, nämlich in Italien, Spanien und Frankreich. Gestritten wird um das liebe Geld. Am Gründonnerstag einigen sich die Finanzminister mitten in der Nacht, Kredithilfen aus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) bis zu 2 Prozent des BIP eines Landes und 200 Milliarden durch die Europäische Investitionsbank (EIB) zur Verfügung zu stellen.1 Die genaue Summe, mit welcher der ESM einspringen soll, wird im Beschluss nicht angegeben, in den Berichten schwanken die Angaben um die 200 Mrd. Euro.
Der ESM konnte bei seiner Gründung 2012 bis zu 790 Mrd. Euro mobilisieren, um günstigere Kredite an die EU-Länder zu gewähren, die wegen ihrer Schulden und der Spekulationen gegen ihre Währung auf dem „freien Markt“ nur noch Kredite zu für den Haushalt inakzeptablen Bedingungen aufnehmen konnten. Für die Geberländer war das allerdings ein gutes Geschäft, weil diese sich auf dem Kapitalmarkt günstigere Kredite verschaffen konnten, als der ESM an die Schuldner weitergab. Die Rückzahlungen sind nicht abgeschlossen, sondern fangen zum Teil gerade erst an. Folglich kann der ESM zurzeit nicht mehr 790 Mrd. Euro, sondern ca. 400 Mrd. Euro mobilisieren. Anders gesagt: beschlossen wurde ein Kreditrahmen, der sowieso zur Verfügung stand.
Gestritten wurde um die „Konditionalität“ dieser Kredite. Darunter verstand man beispielsweise in der Griechenland-Krise, dass Kredite nur gegen strenge politische Auflagen vergeben werden, Konditionen halt, die von der Troika (welche später einen im Orwellschen Sinne wohlklingenden Namen erhielt) überwacht wurden und ausschließlich als radikale Kürzungsprogramme konzipiert waren. Gekürzt sollte überall werden, auch dort, wo die EU gar nicht zuständig ist, also etwa im Gesundheitsbereich. Nicht nur, aber sicher auch deshalb ist die Zahl der Intensivbetten in den Südländern (Italien 8,6 pro 100.000 Einwohner; Spanien 9,7; Frankreich 16,3) deutlich niedriger als etwa in Deutschland (ca. 34, allerdings ohne ausreichendes Pflegepersonal). Die EU hat eine Gesundheitskrise mitverursacht, die ihr jetzt auf die Füße fällt.
Zurück zur Konditionalität: Sie wurde im Beschluss der Finanzminister etwas abgemildert. Zunächst sind die Kredite nur mit der Auflage verbunden, dass sie allein für das Gesundheitswesen ausgegeben werden. Das allerdings gilt nur bis zum Ende der Corona-Krise, wann immer das auch sein mag. Geht es später darum, die ökonomischen Folgen der Corona-Krise abzumildern, wird man, so der Beschluss der Finanzminister ausdrücklich, wieder zur strengen Konditionalität zurückkehren. Die EU-Kommission hat vorher schon beschlossen, dass die verschiedenen Struktur- und Kohäsionsfonds nun zur Bewältigung der Krise eingesetzt und Ausgaben vorgezogen werden können – ähnliches hatte sie schon 2012 als Investitionsprogramm der EU verkauft, obwohl der Etat der Union um keinen Cent vergrößert wird und der Finanzrahmen 2021-27 noch nicht steht.
Wirklich neu ist das Programm SURE mit 100 Mrd. Euro, das die Mitgliedstaaten bei der Finanzierung von Arbeitslosenunterstützungen in Folge von Corona, also z.B. beim Kurzarbeitergeld, entlasten soll. Das könnte ein sinnvoller Schritt in Richtung einer europäischen Arbeitslosenversicherung sein, allerdings dementiert der Beschluss der Finanzminister dies ausdrücklich. Der Umfang ist zudem eher mickrig. Im deutschen Bundeshaushalt sollen allein 353,3 Mrd. Euro an direkten Maßnahmen bereitgestellt werden und der Umfang der Garantien soll insgesamt 819,7 Mrd. Euro ausmachen. Da sind 100 Mrd. Euro SURE-Programm eher als Symbolpolitik zu deuten.
Auch hat die Kommission erklärt, dass sie während der Corona-Krise nicht auf die Einhaltung der Maastricht-Kriterien pocht, der Kreditrahmen der Mitgliedstaaten bei der Neuverschuldung also höher als 3 Prozent des BIP bzw. die Gesamtverschuldung höher als 60 Prozent des BIP liegen kann. Mit der Einforderung der Maastricht-Regeln bei diesem externen Schock hätte sich die Kommission auch nur blamiert. Das war keine politische Entscheidung, sondern eine Anerkennung der ökonomischen Realität.
Das Schauspiel, das dem Publikum mit Nachtsitzungen der Finanzminister und Direktschaltungen der Regierungschefs vor Ostern geboten wurde, drehte sich wesentlich um einen Punkt, der auch beschlossen wurde, nämlich um die geschilderte Abmilderung der Konditionalitäten. Man kann es auch drastischer interpretieren: Holland wurde von den Eurobond-Gegnern vorgeschickt, um den harten Hund zu markieren. So konnte man scheinbar einen Kompromiss erzielen oder vorspielen, nämlich sich auf der Mitte zwischen Eurobond-Befürwortern, also Italien, Spanien und Frankreich, und den Eurobond-Gegnern, an der Spitze die deutsche Regierung, einigen. Die Bundesregierung lehnt Eurobonds als Vergemeinschaftung von Schulden nach wie vor strikt ab. Eurobonds würden bewirken, dass alle EU-Länder Staatsanleihen zu gleichen Zinssätzen bekommen. In Deutschland könnten also die Zinsen für Staatsanleihen, die einstmals als Bundesschatzbriefe ausgegeben wurden, steigen, während sie beispielsweise in Italien sinken könnten. So sieht sie aus, die verteufelte Vergemeinschaftung von Schulden. Auf den ersten Blick erstaunlich scheint es, dass die CDU inzwischen – als einzige ernst zu nehmende Kraft – mit ihrer Position allein dasteht. Die SPD ist – bis auf ihre Minister – umgeschwenkt und selbst in den Unternehmerverbänden sowie dem Institut der Deutschen Wirtschaft werden Stimmen laut, die für Eurobonds plädieren.
Auf den zweiten Blick wird das Umschwenken auch wichtiger Teile „der Wirtschaft“ verständlich. Die Krise ist Katalysator für schon beginnende Prozesse. Einer dieser Prozesse lässt sich als zentrifugale Tendenz in der EU beschreiben, der mit Tendenzen zu einer autoritären Renationalisierung nicht nur in der EU verbunden ist. Letztere müssen hier nicht erläutert werden, es reichen die Stichworte Trump, Bolsonaro, PiS, Orban und Kurz. Der Kern ihrer Politik ist die Mobilisierung antiliberaler Ressentiments nach innen und die Entrechtlichung der internationalen Beziehungen nach außen. Die Zerfallstendenzen der EU wurden vor dem Hintergrund des Brexits schlaglichtartig sichtbar, liegen aber tiefer. Die Spaltung verläuft zwischen Nord und Süd, wie in der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 deutlich wurde und zwischen Ost und West, wie die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 zeigte.
Es wird spannend zu sehen, ob die Verurteilung von Polen, Tschechien und Ungarn durch den EuGH, weil diese sich geweigert hatten, beschlossene Flüchtlingskontingente aufzunehmen, irgendwelche Folgen zeitigt. Wahrscheinlicher ist, dass die West-EU um der vordergründigen Einheit Willen auf weitere, ähnliche Beschlüsse verzichtet.
Auf dem Grund des Auseinanderdriftens findet man ökonomische Ungleichgewichte und eine wachsende Auseinanderentwicklung der Ökonomien, die insbesondere bei einer einheitlichen Währung, aber getrennter volkswirtschaftlicher Rechnungslegung zu unterschiedlichen Interessen führen müssen. Hinzu kommen unterschiedliche politische und ökonomische Kulturen, nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen Nord und Süd. Der rheinisch-ordoliberale Kapitalismus ist eben ein rheinischer bzw. ordoliberaler und kein ostelbischer und er ist auch nicht um den Evros angesiedelt.
Das Umschwenken weitsichtiger Vertreter „der Wirtschaft“ dürfte der Wahrnehmung dieser zentrifugalen Tendenzen geschuldet sein. In einer solchen Situation gilt es, Kosten in Kauf zu nehmen, um die EU zusammen zu halten. Die Alternative wäre die anglo-amerikanische: „Der Starke ist am stärksten allein!“ – was bei den Briten offenkundig auf einer Fehleinschätzung beruht, die dem Empire hinterher trauert. Nimmt man die globalen Kräfteverhältnisse realistisch zur Kenntnis, dann deutet vieles auf eine neue Bipolarität hin, nur dass sich ein neuer Gegenpol zu den USA herausschält – gemeint ist natürlich China.
Das Interesse wichtiger Teile der deutschen Unternehmen dürfte erstens darin liegen, die EU als weiterhin wesentlichen Markt für den Export deutscher Produkte zu erhalten und zweitens auch auf internationaler Ebene berechenbare Marktbedingungen zu finden, also verrechtlichte. Das wiederum setzt eine funktionierende EU voraus, die zwischen den beiden Polen nicht völlig untergehen darf und solche Interessen mit einigem Gewicht in die Waagschale internationaler Politik werfen kann. Die zentrifugalen Tendenzen müssen aus dieser Perspektive unbedingt aufgehalten werden. „Die Wirtschaft“ kann auch deshalb für Eurobonds plädieren, weil die möglichen Kosten im Zweifel keineswegs von den Unternehmen allein geschultert, sondern vermutlich über Steuern verallgemeinert werden. Es ist nicht anzunehmen, dass die deutsche Regierung den so formulierten allgemeinen Interessen ein höheres Gewicht zumisst als den Interessen „der Wirtschaft“. Sie verharrt eher im ordoliberalen Ideologiegebäude, insbesondere nachdem Altmaier ganz schlechte Erfahrungen damit gemacht hat, dieses zu verlassen, nämlich als er das Papier „Industriestrategie 2030“ veröffentlichte. Zurückgepfiffen wurde er von den Interessenvertretern „der Wirtschaft“, die nun mit dem Plädoyer für Eurobonds selbst einen Schritt aus dem Gebäude herauswagen.
Die gesellschaftliche Linke plädiert aus Gründen der Solidarität für Eurobonds. Strategische Erwägungen, wie man diese nutzen kann, um aus dem stahlharten neoliberalen Gehäuse der EU ausbrechen zu können, ohne in einen autoritären Nationalismus abzurutschen, sind ebenso rar wie Überlegungen zu einer realistischen Perspektive und Strategie in der neuen bipolaren Weltordnung. Auch hier wäre es schön, wenn die Corona Krise als Katalysator wirken könnte.
1 https://www.consilium.europa.eu/de/press/ press-releases/2020/04/09/report-on-the-comprehensive-economic-policy-response-to-the-covid-19-pandemic/ (12-04.2020).