Im bürgerlichen Lager dominierte lange Zeit ein
Politikverständnis, das Demokratie vor allem als eine Form der
Legitimation von staatlicher Herrschaft begriff: In dieser
Sichtweise sind es durch Wahlen legitimierte Angehörige der
Eliten, denen die Aufgabe zufällt, die für die
Verwertungsinteressen ver-schiedener Kapitalfraktionen als
notwendig erachteten Entscheidungen zu fällen, sie breiten
Schichten der Bevölkerung als dem Allgemeinwohl
zuträglich zu vermitteln, sie notfalls aber auch gegen den
Widerstand von engagierten Minderheiten durchzusetzen. Dieses
Modell geht von einem weitgehend unaufgeklärten oder zumindest
passiven Bürger aus, der in der überwiegenden Mehrheit
dazu bereit ist, die von anderen gefällten Entscheidungen
über sich ergehen zu lassen. In Zeiten zunehmender
Parteienverdrossenheit, abnehmenden Vertrauens in die
herkömmlichen Formen politischer Repräsentation und
angesichts von Bürgerprotesten, deren Aktivisten sich
mittlerweile auch aus der von den Unionsparteien als
Wählerreservoir beanspruchten ‚Mitte’ der
Gesellschaft rekrutieren, erscheinen neue Beteiligungsformen nun
vermehrt auch gestandenen Konservativen als geeignetes Mittel
‚guten Regierens’.
Die Gründe sind durchaus verschieden. Manche Vertreter von
kleinen und mittelständischen Unternehmen wollen ihresgleichen
einfach mehr Möglichkeiten verschaffen, auch jenseits
aufwändiger Lobbyarbeit direkt in das politische Geschehen
einzugreifen. So glaubt Patrick Adenauer, der ehemalige Sprecher
des Verbands der Familienunternehmer, dass gerade
mittelständische Unternehmer durch die Erweiterung
direktdemokratischer Verfahren mehr Einflusschancen bekämen
als durch das parlamentarische System allein. Sie könnten sich
in einzelnen Volksinitiativen mit einem
verhältnismäßig geringen Zeitaufwand zum Beispiel
gegen zu viel Steuern engagieren.
Der zweite Grund für das Interesse an der direkten Demokratie
in diesem Lager liegt in einem strategischen Kalkül, das
mittel- und langfristig auf die Entmachtung von Parteien zielt, die
soziale Interessen vertreten. Bürgerliche Parteienkritiker wie
Hans Herbert von Arnim oder Hans-Olaf Henkel wollen den Einfluss
der abhängig Beschäftigten und ihrer Organisationen auf
die Ge-sellschaft so weit als möglich
zurückdrängen.
Im vorliegenden Aufsatz befasse ich mich mit einem dritten Grund
für die neue konservative Affinität zur Forderung nach
mehr Bürgerbeteiligung. In dem Maße, in dem
Großorganisationen wie Parteien, Gewerkschaften und
Großkirchen an Bindekraft verlieren, die Fragmentierung der
Gesellschaft fortschreitet und ein „neuer Geist des
Kapitalismus“ (Boltanski/Chiapello) die Fähigkeit zur
Selbstorganisation von Erwerbstätigen fordert und
begünstigt, kann das rebellische Potenzial der zunehmend
individualisierten Massen in abnehmenden Maße durch
„sozialpartnerschaftliche“ Betriebsräte,
Gewerkschaftsführungen, Kirchenleitungen und Politiker
vereinnahmt und neutralisiert werden. Je mehr das Unbehagen der
Bürger sich auf informelle, von oben schwer zu kontrollierende
Weise äußert, desto notwendiger erscheint es, auch mit
neuen Formen der Befriedung bzw. der Vereinnahmung dieses
Widerstandspotenzials zu experimentieren. Während
Protestierende in früheren Jahren vornehmlich ausgegrenzt, als
Chaoten diffamiert und kriminalisiert wurden, um die
kapitalistischen Macht- und Eigentumsverhältnisse zu
schützen, will man sie nun vermehrt durch neue Dialog- und
Mediationsverfahren aktiv einbinden.
Die Vorschläge dazu bewegen sich zwischen zwei Polen: Der eine
sieht Betei-ligungsformen vor, die den Bürgern zwar mehr
Mitsprache ermöglichen, bei denen die Politiker aber nach wie
vor das Steuer fest in der Hand behalten. Typisch ist die Haltung
eines Redakteurs der von der Konrad-Adenauer-Stiftung
herausgegebenen Monatszeitschrift Die Politische Meinung, der
für „neue und zumeist innovative Formen der
Partizipation und Mediation“ (Borchard 2011, S. 14) wirbt,
aber davor warnt, auf der Bundesebene Plebiszite einzuführen.
Der andere verlangt tatsächlich mehr Möglichkeiten der
Mitentscheidung für die Bürger. Nur dadurch, meint
beispielsweise Heiner Geißler, lässt sich das Vertrauen
in eine durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln
bestimmte Gesellschaftsordnung der „sozialen
Marktwirtschaft“ auf Dauer erhalten. Seit langem erweist sich
der Jesuitenschüler als schlauer Vordenker jenes Teils der
herrschenden Klasse, der den sozialen und politischen
Missständen abzuhelfen wünscht, „um den Bestand der
bürgerlichen Gesellschaft zu sichern“ (MEW 4, S. 488).
Zwischen diesen beiden Polen, der politischen Scheinbeteiligung und
der direktdemokratischen Neuauflage des von Marx und Engels schon
im Manifest der Kommunistischen Partei be-schriebenen konservativen
oder Bourgeoissozialismus (ebd.), bewegen sich die
beteiligungspolitischen Diskussionen und Experimente im
liberalkonservativen Lager – und darüber hinaus. In
beiden Fällen geht es nicht um eine umfassende Emanzipation,
sondern um neue Formen der Herstellung von dem, was der Psychologe
Peter Brückner einst mit dem Begriff der Massenloyalität
zu fassen versuchte: die gewaltlose Steuerung und Kontrolle der
Be-völkerungsmassen. Die Kunst besteht darin, die
widerständige Energie unzufriedener Bürger im Rahmen
einer im Sinne von Antonio Gramsci heterogen und antagonistisch
zusammengesetzten Zivilgesellschaft in Konsens umzuwandeln. Was es
bedeuten kann, stattdessen auf Konfrontationskurs zu gehen, musste
zuletzt Baden-Württembergs Ministerpräsident Stefan
Mappus (CDU) erfahren. Sein Versuch, das Bahnprojekt Stuttgart 21
statt im Dialog mit Gewalt durchzusetzen, verhalf Winfried
Kretschmann zu dem Triumph, der erste grüne
Ministerpräsident zu werden. Schon als Vorsitzender der
Grünen im Landtag von Baden-Württemberg hatte er
angekündigt, anders als Mappus den Bürgerprotest ernst
nehmen zu wollen. Er versprach einen entsprechenden Stilwechsel der
Politik. Als Ministerpräsident wolle er eine ‚Politik
des Gehörtwerdens’ voranbringen.
Kommunikation als Akzeptanzmanagement
Die konservativen Vorschläge zur Institutionalisierung von
mehr Bürgerbetei-ligung stützen sich auf eine
Krisendiagnose, die Interessenkonflikte zwischen Konzernen, ihren
politischen Helfern und den von ihren Maßnahmen Betroffenen
vor allem als Kommunikationsprobleme sehen will. Bemängelt
wird ein politischer Stil, der die Bürger deshalb in Rage
versetze, weil sie sich nicht ernst genommen fühlten (vgl.
Borchard 2011, S. 18). Norbert Lammert (CDU) kritisiert, dass
Parlamente und Regierungen dazu neigten, „die Kommunikation
mit den Bürgern unter Hinweis auf ihre Zuständigkeit und
möglicherweise auch auf die Überprüfung der
getroffenen Entscheidungen durch ordentliche Gerichte zu
versäumen oder gar zu verweigern.“ (Tagesspiegel,
31.10.2010) Tamara Zieschang, Staatssekretärin im Ministerium
für Wissenschaft, Wirtschaft und Verkehr des Landes
Schleswig-Holstein verlangt von ihren Parteifreunden in der CDU
daher, diese sollten mit den Bürgerinitiativen einen
sachlichen Dialog auf Augenhöhe führen: „Es geht um
den offenen und transparenten Austausch der Argumente. (...) An
einer wechselseitigen Sprachlosigkeit zwischen Politik auf der
einen und Bürgerinitiativen auf der anderen Seite, wie sie bei
Stuttgart 21 zutage trat, kann nämlich gerade die CDU kein
Interesse haben. Schließlich wirft eine solche
Sprachlosigkeit (im Gegensatz zur Uneinigkeit in der Sache)
unweigerlich die Frage auf, ob die CDU den Bezug zu den
Bürgerinnen und Bürgern verloren hat.“ (Zieschang
2011, S. 19) Durch „bürgeraktivierende
Kommunikation“, das heißt: verständliche
Vermittlung von professionalisiertem Spezialwissen, die
Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch neue
Formen der Beteiligung sowie das „Mittel der erweiterten
Anhörung“ (Süssmuth 2011, S. 5), will Rita
Süssmuth (CDU) die Kommunikationsprobleme beheben. „Das
politische Kunststück für die Zukunft besteht darin,
einerseits mehr Bürgerbeteiligung zu institutio-nalisieren,
andererseits Planungs- und sonstige Verfahren dennoch zu
verkür-zen sowie konsensfähige Entscheidungsverfahren
irgendwo zwischen Volksabstimmung und Parlamentsentscheiden zu
entwickeln, deren Legitimation ausreichend dafür ist, dass
getroffene Entscheidungen dann auch in die Tat umgesetzt
werden“ (Frick 2011, S. 23), schreibt Lothar Frick, der
für die Zeit der Stuttgart-21-Moderation das Büro des
Schlichters Heiner Geißler leitete. Der ehemalige
CDU-Generalsekretär und Bundesminister hatte das
Schlich-tungsverfahren als Demokratie-Experiment vorgestellt und
die Zeit einer autoritären ‚Basta-Politik’
für vorbei erklärt. Ziel der Stuttgarter Schlichtung, so
Geißler, sei es gewesen, „durch den Faktencheck als
einer neuen Form unmittelbarer Demokratie wieder ein Stück
Glaubwürdigkeit und verloren gegange-nes Vertrauen in die
Demokratie zurückzugewinnen.“ (Geißler 2012, S.
133) Nur durch mehr Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung
sei die Durchführung von Großprojekten in Zukunft noch
zu erreichen. „Die Behauptung, eine stärkere
Bürgerbeteiligung gefährde die Realisierung von
Großprojekten, ist vollkommen falsch. Eine Fortsetzung der
bisherigen obrigkeitlichen Verfahren verbunden mit der Verweigerung
echter bürgerschaftlicher Mitwirkungsrechte führt, wie
viele Vorgänge der letzten Jahre beweisen, zu massiven
Protesten und Auseinandersetzungen, zu erheblichen politischen
Verwicklungen und jahrelanger Lähmung der
Entscheidungsprozesse.“ (ebd., S. 130f) Die Bürger
rechtzeitig zu beteiligen, sei „unbedingt notwendig, um eine
Destabilisierung der politischen Instanzen zu vermeiden.“
(ebd., S. 137) In dieser Sichtweise erscheint
Bürgerbeteiligung in erster Linie als Akzeptanzmanagement, als
Versuch, einerseits politisch schwer kalkulierbare Konfrontationen
zwischen Bürgern und Staatsgewalt zu vermeiden und
andererseits die betroffenen Bür-ger samt ihrem
Widerstandspotential staatlich einzubinden. Protest soll in
Diskussion verwandelt und auf diese Weise neutralisiert werden.
Die SPD als Vorreiter
Die Erprobung solcher Befriedungstechniken reicht bis in die
siebziger Jahre zurück. Damals war die Regierungspartei SPD
darauf abonniert. Als Bundes-kanzler Willy Brandt im Oktober 1969
in seiner Regierungserklärung die viel zitierten Worte
„mehr Demokratie wagen“ aussprach, hatten nur wenige
Wochen zuvor 140.000 Stahlarbeiter in spontanen Streiks ihren
Kampfwillen und ihre Organisationsstärke gezeigt. „Das
Versprechen, mehr Demokratie zu wa-gen, war in dieser Situation das
Gebot der Stunde, um die gewerkschaftlichen und studentischen
Proteste im Zaum zu halten.“ (Mattern/Wehrle 2012, S. 4) Als
die Proteste gegen die Atomkraft nicht mehr zu ignorieren waren,
setzte die damalige Bundesregierung auf Bürgerdialoge, in
denen sich der Unmut der Umweltbewegung zwar artikulieren sollte,
aber für die Entscheidung letztlich unverbindlich blieb. Man
hoffte darauf, einen Keil zwischen gesprächsbereite
Gegenexperten und jene AKW-Gegner zu treiben, die ihren Widerstand
mit einer radikalen Kritik am kapitalistischen System verbanden.
Das strategische Kalkül wurde später beim Einsatz des
Mediationsverfahrens zur Befriedung der Auseinandersetzungen um den
Ausbau des Flughafens in Frankfurt am Main noch deutlicher: Nachdem
die SPD-geführte Regierung Hessens durch den Konflikt um die
Startbahn-West in arge Bedrängnis geraten war, setzte
Ministerpräsident Hans Eichel in den neunziger Jahren auf neue
Formen der politischen Beteiligung. Der Streit sollte sich vom
politischen Kern auf weniger brisante Sach- und Verfahrensfragen
verlagern. Der Widerstand wurde durch die Einbindung einer Reihe
von Organisationen der „Zivilgesellschaft“ in seiner
Legitimation geschwächt und dadurch deutlich eingedämmt.
„Was sich aus der Perspektive starrer, klassischer
Verwaltungstechnokraten geradezu ‚revolutionär’
ausnimmt, stellt sich bei kritischer Betrachtung als der Versuch
dar, einerseits Konfrontation zu vermeiden und andererseits die
betroffenen BürgerInnen und deren Widerstandspotenzial erneut
staatlich einzubinden“ (Wilk 1999, S. 118), schrieb Michael
Wilk schon Ende der neunziger Jahre. Der anarchistische Aktivist
ist seit den siebziger Jahren in den Kampf der
Bürgerinitiativen gegen den Ausbau des Flughafens Frankfurt
a.M. involviert und hat die Eindämmung der Proteste durch
Mediationsverfahren schon früh aus der Perspektive des
Widerstands analysiert. „Neben der Funktion, spe-zielle
Projekte (z.B. Flughafenerweiterung) möglichst konfliktarm
durchzusetzen, geht es auch immer um
‚Akzeptanzmanagement’ im Gesamtsystem.
Mediationsverfahren sind in diesem Sinne Teil einer
Befriedungsstrategie, die die Funktion hat, Konflikte zu entspannen
und entstandene Risse im Funktionssystem des Staates zu
kitten.“ (Wilk 1999, S. 118)
Kollaborative Demokratie-Forschung
Im Dienste
einer Befriedungsstrategie stehen auch jene Forschungsprojekte, in
denen die ursprünglich aus dem angloamerikanischen Raum
stammenden Me-diations- und Dialogverfahren für die
Herrschaftserfordernisse heutiger politischer Praxis
weiterentwickelt werden sollen. An der Ausarbeitung entsprechender
Konzepte arbeiten im Auftrag verschiedener einschlägiger
Stiftungen eine ganze Reihe von sozialwissenschaftlichen
Politikberatern. So sieht etwa die Bertelsmann-Stiftung in der
Implementierung von neuen Beteiligungsformen eine Chance, die
Politik zu Zeiten eines bröckelnden Konsenses für
neoliberale „Reformprojekte“ wieder
steuerungsfähiger zu machen (vgl. Wagner 2011).
„Bürger wollen mehr Mitsprache bei Energie-, Steuer- und
Verkehrspolitik“ heißt es am 6. Februar 2012 aber auch
in einer Pressemitteilung der Stiftung Zu-kunft Berlin. Sie gibt
das Ergebnis einer Studie vor, die von Infratest dimap
durchgeführt worden war. Demnach fühlten sich knapp zwei
Drittel der wahlberechtigten Bundesbürger über ihre
Beteiligungsmöglichkeiten bei Planungsvorhaben zu wenig (55
Prozent) oder gar nicht (7 Prozent) informiert. „Der Umfrage
zufolge erhoffen sich die Bürger durch die stärkere
Mitsprache bessere und gerechtere Entscheidungen.“ Der
Vorstandsvorsitzende der Stiftung ist der ehemalige CDU-Politiker
und Berliner Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz,
Volker Hassemer. Wie seine oben zitierten Parteifreunde
diagnostiziert er laut Pressemeldung „eine
Vertrauenslücke zwischen Bürgern und politischen
Repräsentanten“, die es mit Hilfe von mehr
Möglichkeiten zu „bürgerschaftlicher
Mitverantwortung“ zu schließen gelte. Dass es bei
dieser Form der Bürgerbeteiligung jedoch nicht um eine
größere Teilhabe an tatsächlichen Entscheidungen,
sondern lediglich um eine Einbindung potenzieller Störenfriede
geht, belegen die parallel zur genannten Presseerklärung in
Zusammenarbeit mit der Herbert Quandt-Stiftung veröffentlichen
zehn Grundsätze zur bürgerschaftlichen Mitverantwortung.
Darin heißt es: „Bürger sollen nicht selbst an die
Stelle von Entscheidern treten. Doch Bürger können
Mitverantwortung übernehmen. Dadurch können Planungen und
Entscheidungen schon im Vorfeld qualitativ verbessert werden, und
sie können mehr Transparenz, Verbindlichkeit und
Verlässlichkeit gewinnen. Bürgerschaftliche
Mitverantwortung erfordert eine neue Art der Zusammenarbeit
zwischen Bürgern und Entscheidern im Prozess der
Entscheidungsvorbereitung. Hier müssen Politik und Verwaltung
ein völlig neues, qualitativ höheres Maß an
Offenheit aufbringen. Hier ist partnerschaftliche,
gleichgewichtige, hier ist Zusammenarbeit ‚auf
Augenhöhe’ möglich und nötig.“
„Wer die Bürger früh einbindet, bekommt später
weniger Widerstand“, lautet die Devise eines von Maik Bohne
im Rahmen der Stiftung Neue Verantwortung durchgeführten
Forschungsprojekts dessen erklärtes Ziel es ist, frei nach
Niklas Luhmann „mehr Legitimation durch neue Verfahren“
zu erreichen. Jedenfalls ist das die Formel mit der Bohne seine
Tätigkeit am 28. November 2011 in einem Gastbeitrag für
das Handelsblatt selbst kurz und bündig zusammenfasste. Das
Projekt selbst trägt den Titel: Kollaborative Demokratie
21.
Bürgerbeteiligung bei
Großbauvorhaben
Als bloße Farce entpuppten sich auch jene Vorschläge zur
Erweiterung der Möglichkeiten zur Bürgerbeteiligung bei
der Planung von Großvorhaben im Verkehrssektor, die
Verkehrsminister Peter Ramsauer und Bundesinnenminister Hans-Peter
Friedrich (beide CSU) bei einer gemeinsamen Pressekonferenz am 28.
März 2012 in Berlin vorstellten. Im Mittelpunkt steht die
Absicht, den zunehmend in Frage stehenden Bau großer
Verkehrsprojekte durch die frühzeitige Einbindung und
Neutralisierung potenzieller Widerstandsakteure zu beschleunigen.
Man hofft, kostspieligen Protesten vorzubeugen, indem „aus
Betroffenen Beteiligte werden.“ Der von Friedrich
vorgestellte Entwurf eines Gesetzes zur „Verbesserung der
Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung von
Planfeststellungsverfahren“ (PlVereinhG) dient der
Konfliktvermeidung und soll die gerichtliche Anfechtung von
Behördenentscheidungen reduzieren helfen. Bei dem
außerdem präsentierten 80seitigen Entwurf für ein
„Handbuch für eine gute Bürgerbeteiligung“
handelt es sich nach Aussage von Ramsauer um einen
„Werkzeugkasten“, mit dem Behörden und
Bauträger für eine effektive Einbindung der Betroffenen
sorgen könnten. Als Konsequenz aus den Protesten gegen das
Bahnprojekt Stuttgart 21 hatte Merkels Kabinett bereits vier Wochen
zuvor beschlossen, die Bürger bei Großprojekten
umfassender und früher als bisher in die Planungen
einzubinden. Der Ende Februar 2012 beschlossene Gesetzentwurf sieht
allerdings keine Pflicht zur Bürgerbeteiligung vor, sondern
setzt auf Freiwilligkeit. Das Handbuch liefert für die
völlig unverbindlichen Empfehlungen konkrete
Umsetzungsvorschläge. Dazu gehören Runde Tische,
Bürgersprechstunden und die Nutzung des Internets.
Die Bürger sollen, wenn es für nötig erachtet wird,
besser über geplante Flughäfen, Bahnlinien und
Stromtrassen informiert werden können und gegebe-nenfalls
vermehrt die Möglichkeit erhalten, frühzeitig zu den
Bauvorhaben Stellung zu beziehen. Das Recht, tatsächlich mit
zu entscheiden, ist für sie dagegen nicht vorgesehen. Die
„grundsätzliche Bedarfsentscheidung für
Infrastrukturprojekte“ treffe das Parlament, heißt es
auf der Homepage des Bundes-verkehrsministeriums: „Dabei
findet, wie bei anderen parlamentarischen Entscheidungen der
repräsentativen Demokratie auch, keine Bürgerbeteiligung
statt.“ Eine Reihe von Funktionen machen die Ausweitung von
Beteili-gungsverfahren in den Augen der Regierung zu einem Zeit und
Kosten sparenden Mittel der Befriedung und Akzeptanzbeschaffung.
Erstens würden die Bürger frühzeitig integriert und
seien daher eher bereit, dem Vorhaben ihre Zustimmung zu geben.
(Integrationsfunktion). Zweitens könnten manche Konflikte
durch die rechtzeitige Information der Bürger schon im Vorfeld
des förmlichen Verfahrens gelöst werden
(Rechtsschutzfunktion). Drittens trügen die Bürger selbst
zur Optimierung der technischen Planung bei
(Rationalisierungsfunktion). Viertens könnten gerichtliche
Auseinandersetzungen, das heißt Verfahrensverzögerungen
und gegebenenfalls auch nachträgliche Änderungen, durch
entsprechende Plananpassungen vermieden oder zumindest verringert
werden (Effektivierungsfunktion). Fünftens werde die
Legitimation des Planungs- und Entscheidungsprozesses durch die
Berücksichtigung der Einwände der Bürger selbst dann
erhöht, wenn diese am Ende gegenüber an-deren Interessen
zurückstehen müssten (Legitimationsfunktion). Sechstens
ermögliche die erhöhte Transparenz die Möglichkeit,
den Planungs- und Entscheidungsprozess nachzuvollziehen
(Kontrollfunktion). Insgesamt sollen Elemente der
Bürgerbeteiligung dazu beitragen, das Vertrauen der
Bürger in Verwaltung und Politik zu steigern, denn der Konsens
für eine Entscheidung steige, wenn das zugrunde liegende
Verfahren als fair betrachtet werde.
Strategische Dialoge
Um den Versuch, das Vertrauen der Bürger in die Politik der
Regierung zu steigern, ging es im Frühjahr 2012 auch bei einer
Initiative des Kanzleramts. Unter der Überschrift
„Dialog über Deutschlands Zukunft“ sollten ganz
normale Bürger mittels Diskussionsbeitrag auf einer eigens
eingerichteten Inter-netseite und im Rahmen von insgesamt drei
Bürgergesprächen die Gelegenheit haben, der
Bundeskanzlerin Angela Merkel einmal die Meinung zu sagen und mit
eigenen Vorschlägen die Politik ihrer liberalkonservativen
Koalitionsregierung mitzubestimmen. Im Mittelpunkt standen dabei
drei Fragenkomplexe: Wie wollen wir zusammenleben und denen helfen,
die noch am Rande stehen? Wie sichern wir unseren Wohlstand? Wie
lernen wir als Gesellschaft? Merkel versuchte in dieser
Inszenierung den Eindruck zu erwecken, als ob sie den Rat der
Bürger auch anzunehmen bereit wäre: „Wir werden
gute Ideen auch an die zuständigen Ministerien
weiterleiten“, ließ sie sich dazu vernehmen. Im Stern
(02/2012) kommentierte Hans-Ulrich Jörges: Zum ersten Mal in
ihrer schon sechs Jahre dauernden Kanzlerschaft unternehme Angela
Merkel „den Versuch eigener Sinnstiftung“. Die
Kanzlerin habe damit ein Experiment begonnen, so spannend wie
riskant. In Wirklichkeit ging es aber nicht um eine wirkliche
Erweiterung der Partizipation, sondern vielmehr um deren
Simulation. Ausprobiert wurde eine an die Möglichkeiten des
digitalen Zeitalters angepasste klassische Machttechnik der von
oben gelenkten Demokratie, für die der italienische Philosoph
Domenico Losurdo den Ausdruck Soft-Bonapartismus prägte: Die
Spitze der Exekutive inszenierte sich als unmittelbarer
Ansprechpartner der Bürger, deren Interessen es gegen
unfähige Funk-tionäre aus Parteien und Gewerkschaften
durchzusetzen gilt. Die Kanzlerin gab sich den Anschein,
ausgesprochen pragmatisch und vor allem überparteilich zu
sein. Ihr zurückhaltender, selten auftrumpfender
Führungsstil unterstützt die bonapartistische Suggestion,
dass einzig und allein sie selbst gewährleisten könne,
dass die langfristigen Interessen der Mehrheit der Bevölkerung
über den Tag und die Legislaturperiode hinaus
berücksichtigt werden.
Zynische Bürgergesellschaft
Die zahlreichen Experten, die von Merkel mittels sechs
Arbeitsgruppen in das Dialogverfahren einbezogen worden waren,
erscheinen freilich wenig geeignet, diesem Anspruch zu
genügen. Ausgerechnet in jener Arbeitsgruppe, die neue Formen
der Partizipation diskutieren sollte, tummelten sich Politik- und
Unternehmensberater, die vor allem die strategische Wirkung
partizipatorischer Verfahren im Auge haben. Darunter war ein
Experte der Bertelsmann-Stiftung, deren 2009 verstorbener
Gründer Reinhard Mohn unter „demokratische
Bürgergesellschaft“ die Ausdehnung marktwirtschaftlicher
Wettbe-werbsprinzipien auf den gesamten politischen Bereich
verstand. Ein Vertreter der IFOK GmbH nahm die strategische
Bedeutung der Beteiligung für die Le-gitimationsbeschaffung
von Regierungsprojekten in den Blick. Die theoretische Grundlage
für die „Verzahnung von strategischer Steuerung und
moder-nen Beteiligungsformen“ hatte der IFOK-Mitarbeiter und
heutige Leiter der Abteilung Politische Planung, Programm und
Analyse der FDP Christopher Gohl mit seiner einschlägigen, von
der Bertelsmann Stiftung herausgegebenen Studie „Organisierte
Dialoge als Strategie“ (2010) gelegt. Die Freiheit der von
ihm propagierten „Bürgergesellschaft“ meint nicht
viel mehr als die selbst organisierte Kapitulation vor den
vermeintlich unabänderlichen Gesetzen des Kapitals.
Eine wichtige Aufgabe des unter maßgeblicher Beteiligung der
FDP-Führung ins Amt gebrachten konservativen
Bundespräsidenten Joachim Gauck könnte nun darin
bestehen, neue Formen der Bürgerbeteiligung auch jenen
Anhängern des liberalkonservativen Lagers schmackhaft zu
machen, die sich immer noch davor fürchten. Besonders dazu
eignen dürfte er sich vor allem deshalb, weil er zunächst
selbst „Einwände und Bedenken gegen allzu schnelle und
weitgehende Reformen im politischen Prozess“ (Gauck 2011, S.
11) deutlich formuliert hatte, angesichts des
Glaubwürdigkeitsproblems der Politik nun aber einer Debatte
über neue Beteiligungsformen für dringend notwendig
hält, denn: „Wir brauchen unbedingt aktivierende
Elemente in der Politik.“ (Tagesspiegel, 30.12.2010)
(für das Dokument inklusive der Fußnoten siehe die
pdf-Datei)
Literatur
Borchard, Michael: ’Volksdemokratie’ in Deutschland?
Eine kleine kritische Kulturge-schichte der direkten Demokratie,
in: Die Politische Meinung, Nr. 498, Mai 2011, S. 14-18
Brettschneider, Frank: Kommunikation und Meinungsbildung bei
Großprojekten, in: APuZ, 44-45/2011, S. 40-46
Frick, Lothar: Vorbild für eine neue Form des Dialogs? Die
Schlichtung zu Stuttgart 21: Eskalation und Deeskalation eines
Konflikts, in: Die Politische Meinung, Nr. 498, Mai 2011, S.
19-23
Gauck, Joachim: Vorwort, in: Giesa, Christoph: Bürger, Macht,
Politik, Franfurt/New York 2011
Geißler, Heiner: Sapere aude! Warum wir eine neue
Aufklärung brauchen, Berlin 2012
Gohl, Christopher: Organisierte Dialoge als Strategie,
Gütersloh 2010
Mattern, Philipp/Wehrle, Hermann: Mehr Demokratie wagen? Warum
Bürgerbeteili-gung kritisch zu betrachten ist, in: Mieterecho,
Nr. 354, März 2012, S. 4/5
Süssmuth, Rita: „Demokratie: Mangelt es an Offenheit und
Bürgerbeteiligung?“, in: APuZ, 44-45/2011, S. 3-7
Wagner, Thomas: Die Demokratie, die sie meinen, in: junge Welt, Nr.
294, 19.12.2011, S. 10/11
Wehrle, Hermann: Demokratie am Katzentisch. Neue Strategien der
Bürgerbeteiligung, in: Mieterecho, Nr. 354, März 2012, S.
8/9
Wilk, Michael: Macht, Herrschaft, Emanzipation. Aspekte
anarchistischer Staatskritik, Grafenau 1999
Zieschang, Tamara: Das Ganze im Blick haben, in: Die Politische
Meinung, Nr. 496, März 2011, S. 15-19