Wir werfen in diesem Heft einen Blick auf die Veränderungen in der Bundesrepublik in der Dekade seit der letzten großen Finanz- und Weltwirtschaftskrise 2008/2009. Welche Widerspruchs- und Konfliktfelder bestimmen die anstehenden „zwanziger Jahre“? Worauf hat sich eine marxistisch-sozialistische Linke einzustellen, der klar ist, dass der heutige Kapitalismus trotz – oder vielmehr: gerade wegen – seiner globalen Dynamik ein überholtes, die heutigen Existenzbedingungen der Bewohner dieses Planeten zunehmend gefährdendes Gesellschaftssystem ist? Wie kann der Tageskampf gegen seine sozialen und ökologischen Verheerungen mit der Perspektive seiner Überwindung verbunden werden? Das sollte die zentrale Frage der anstehenden Strategiedebatten sein, die auf der Linken geführt werden.
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Wir beginnen mit zwei Beiträgen, die sich im Rahmen der Strategiedebatte der Linken als eine Art „Terrainaufklärung“ vor anstehenden neuen sozialen und politischen Auseinandersetzungen verstehen. Der einleitende redaktionelle Beitrag konstatiert, dass große Teile der Bevölkerung das Vertrauen in die Regelungskompetenz der ‚Eliten‘ verloren haben. Dieser als „Kontrollverlust“ empfundenen Entwicklung liegt die neoliberale Wende der 1980er Jahre zugrunde, die u.a. mit einem veränderten Politikverständnis verbunden war: Staaten sollten wie Unternehmen gemanagt werden. Vor diesem Hintergrund wirken Entwicklungen wie die Finanzmarktkrise 2008ff, die soziale Polarisierung, die Migrationskrise von 2015/16, die Zuspitzung der Klimakrise usw. umso verstörender: Auf keinem der Krisenfelder können die politischen Manager glaubwürdige Lösungen anbieten. Die Linke konnte diese Situation bislang trotz breiter Protestbewegungen nicht zur Veränderung der Kräfteverhältnisse nutzen. Jürgen Reusch bilanziert in seinem Beitrag die Entwicklung der wichtigsten sozialen und Protestbewegungen in der vergangenen Dekade und fragt nach deren Verfasstheit, politischen Orientierung und ihrem Zusammenspiel. Dies betrifft insbesondere gewerkschaftliche, demokratische und ökologische Bewegungen. Der Autor konstatiert, dass außerparlamentarische Bewegungen und Gewerkschaften sich nach wie vor in voneinander separierten politisch-kulturellen Welten bewegen. Die parlamentarische Ebene wird als eine abhängige Variable betrachtet. Reusch geht davon aus, dass der Eigentumsfrage in den unterschiedlichen Bewegungen eine Schlüsselfunktion zukommt, wenn nach Ansatzpunkten für die Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten gesucht wird.
In den folgenden Beiträgen werden Klassenkonstellationen und aktuelle strategische Vorstellungen sowohl der Herrschenden wie der Linken auf verschiedenen Feldern vorgestellt. Frank Deppe untersucht die Niederlage der britischen Labour-Partei in den jüngsten Unterhauswahlen. Dass es den Konservativen gelungen ist, den „Red Wall“ der britischen Arbeiterklasse zu durchbrechen, wird nicht allein auf subjektive Faktoren der Wählerschaft (Illusionen über den Brexit etc.), sondern auch auf objektive Widersprüche in der transnationalen Vergesellschaftung des Kapitals zurückgeführt. Der Brexit löst die Probleme der britischen Lohnabhängigen nicht. Wird es im nächsten Gang, wie im Labour-Programm angelegt, gelingen, den Bruch mit dem Neoliberalismus zu vollziehen und „eine neue geschichtliche Periode von Klassenkämpfen mit einer sozialistischen Perspektive“ zu eröffnen? Dieter Klein konstatiert, dass die neoliberale Diskurshoheit brüchig geworden und das Fenster für sozialistische Alternativen wieder geöffnet ist. Er gibt hierzu einen Überblick über verschiedene Diskurs-Stränge. Bisher sei die plurale Linke, die Linkspartei eingeschlossen, in den öffentlichen Debatten nur schwach wahrnehmbar. Es geht um einen sozial-ökologischen Richtungswechsel. Klein plädiert dafür, die Endlichkeit des Kapitalismus konkret zu Ende zu denken. Eine linke Offensivstrategie habe konkrete Schritte zu diesem Ende hin zu markieren und Machtoptionen für diese Schritte zu schaffen. Jörg Goldberg setzt sich mit dem neuen Buch von Thomas Piketty auseinander, das an „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ von 2013 anschließt. Eine Überwindung des Kapitalismus hält Piketty nur für möglich, wenn die Eigentumsrechte der kleinen Gruppe von Vermögensreichen drastisch eingeschränkt werden.
Forderungen nach einem „Green New Deal“ stehen im Mittelpunkt der politischen Antworten auf die Klimakrise. Katharina Schramm stellt aus den USA und Großbritannien stammende GND-Konzepte vor, die ökologische mit gesellschaftsverändernden Elementen verbinden. Dagegen stehen Ansätze wie der EU-Green Deal, die das Kapital mit höheren Renditen für klimaneutrale Produktionsformen gewinnen wollen. Obwohl linke wie konservative Ansätze im Rahmen der kapitalistischen Verwertungslogik blieben, könnten diese doch eine mobilisierende Funktion haben. Robert Sadowski berichtet über Beschlüsse und Konzepte der IG Metall für eine demokratische, soziale und ökologische Transformationsstrategie und erörtert, in welche Richtung sie weiterzuentwickeln wären. Er sieht im Konzept der Wirtschaftsdemokratie einen Schlüssel zur Öffnung des Weges zu einer solidarischen, sozialen und ökologischen Gesellschaft.
Die Strategiedebatte in der Linkspartei ist für die bundesrepublikanische Linke von besonderem Belang, da es sich bei ihr um die größte organisierte Formation handelt, die sich selbst explizit der sozialistischen Linken zuordnet (was ja für die SPD mit ihrem „Volkspartei“-Verständnis seit langem nicht mehr gilt). Die Kommentierung dieser Debatte hatten wir in Z119 mit einem Beitrag von Eckart Lieberam begonnen; inzwischen liegen, so Janis Ehling in seinem Kommentar, hierzu zahlreiche Beiträge vor. Über entsprechende Dokumente und regionale Tagungen wird demnächst zu berichten sein. Dies gilt auch für Strategie- oder Programmdebatten anderer linker Gruppierungen wie der DKP, die dazu auf einem Parteitag Ende Februar verhandeln will. Christina Kaindl, bei der Linkspartei Bereichsleiterin für Strategie und Grundsatzfragen, wirft zuerst einen Blick auf die jüngere Geschichte ihrer Partei, die sie als „neue Art linker Partei, plural, gespeist aus unterschiedlichen Traditionen und Strömungen“ vorstellt und der sie die Funktion einer „verbindenden“ Partei zuweist, die sowohl „Sprachrohr“ von Bewegungen sei wie „selbst organisierend“ wirke. Als aktuelle Hauptprobleme für die Linke sieht sie den Aufstieg der Rechten, die den Alltag politisiere und die Regierungsparteien vor sich her treibe. Und zum Zweiten den Aufstieg der Bewegungen und Proteste für Klimaschutz. Hier sei die Entwicklung eines Umbauprogramms, einer „sozialen und ökologischen Revolution“ angesagt, die auch den Beschäftigten in Kernbereichen der Exportindustrien eine Perspektive böte.
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Lateinamerika: In vielen Ländern Lateinamerikas ist es in der jüngeren Vergangenheit zu sozialen Unruhen und Umstürzen gekommen, mit gegensätzlichen politischen Inhalten. Dieter Boris fragt, ob es jenseits von Länderspezifika Elemente gibt, die den Entwicklungen gemeinsam sind. Der Beitrag untersucht speziell Bolivien und Chile. In Argentinien ist das politische Pendel gerade wieder nach links ausgeschlagen. Andrés Musacchio zeigt, warum es der neoliberalen Macri-Regierung zunächst gelungen war, Teile der argentinischen Mittelklasse für einen sozialreaktionären Kurs zu gewinnen, der in eine tiefe Krise geführt hat. Die neue peronistische Fernandez/ Kirchner-Regierung muss zunächst Notlösungen für drängende Probleme finden. Eine langfristige Perspektive sei bisher nicht erkennbar.
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Marx-Engels-Forschung: Carl-Erich Vollgraf gibt einen Überblick zu den in MEGA Bd. IV/18 neu edierten Marx-Dokumenten aus den Jahren 1864 bis 1872, darunter ausführliche Exzerpte zur Agrikultur, die das gesellschaftliche Naturverhältnis in verschiedenen kapitalistischen Ländern (England, Japan) behandeln. Georg Quaas zeigt, dass Marx im „Kapital“ die Methode der linearen materialen Abschreibung verwendet, die der Bestimmung des Wertverlustes zugrunde liegt. Diese Methode wird nach wie vor in Teilen der Input-Output-Analyse, aber auch in der neoricardianischen Schule verwendet.
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Weitere Beiträge: Florence Hervé legt eine biografische Skizze zu der frühen feministischen Sozialistin Flora Tristan (1803-1844) vor. Sie kam mit der frühsozialistischen Bewegung in Verbindung, interessierte sich für die soziale Situation der Arbeitenden und engagierte sich für die politische Aufklärung und Organisation. Hervé zeigt, dass sie als weitgereiste Sozialistin etliche Thesen von Engels und Marx (Lage der arbeitenden Klasse; Kommunistisches Manifest) vorwegnahm. Ronald Friedmann arbeitet wesentliche Züge des Kapp-Lüttwitz-Putsches von 1920 und der Formierung des Widerstandes gegen ihn heraus: Der einzige und im Grundsatz erfolgreiche Generalstreik der deutschen Arbeiterklasse gegen diesen reaktionären Putschversuch durch Militärs und konservative Politiker jährt sich im März zum 100. Mal.
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Aus der Redaktion: Die Marxistische Studienwoche 2020 vom 9.-13. März in Frankfurt/M. wird „Klimakrise und Ökosozialismus“ zum Thema haben. Wir verweisen auf die Beilage in diesem Heft. Als Nachdruckeaus „Z“ erschienen die Beiträge von Jörg Roesler in Z 119 in „Nuestra Bandera. Revista de Debate Teórico y Político“ No. 245 (Hrsg. PCE, Madrid 2019) und von Frank Deppe aus Z 120 in „Marxistische Blätter“ (Essen), H. 1/2020.
2020 ist „Engels-Jahr“. Im November wird aus Anlass seines 200. Geburtstages eine Tagung in Wuppertal stattfinden, die u.a. von der Marx-Engels- und der Heinz Jung-Stiftung vorbereitet wird. Im Vorfeld widmen wir Z 122 (Juni 2020) dem zweihundertste Geburtstag von Friedrich Engels.