Mit Trauer und Betroffenheit müssen wir den Tod unseres Freundes, Genossen und Redaktionskollegen Reinhard Schweicher mitteilen. 1937 geboren, ist er im Januar 2011 verstorben.
Reinhard gehörte zu jenem damals noch nicht sehr großen, aber wachsenden Kreis junger Intellektueller, die sich unter dem Eindruck der faschistischen Vergangenheit und des Konservatismus und Neofaschismus in der Bundesrepublik Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre sozialistischen Ideen und dem Marxismus zuwandten. Aus einem preußisch-konservativen Elternhaus stammend, wandte er sich bald von dieser Tradition ab. Er studierte Philosophie, Geschichte und Pädagogik in München und in Bonn, in der damaligen Hauptstadt des CDU-Staats. Die aufkommende Studentenbewegung und der Bonner SDS waren auch der Ort seiner Politisierung – in der Zeit der Nazi-Skandale und des Auschwitzprozesses, der beginnenden Auseinandersetzungen um die Notstandsgesetze, der Trennung der SPD vom SDS, des Vietnamkriegs und der Anti-Schah-Demonstrationen.
In Bonn studierte Reinhard u.a. bei dem Rothacker-Schüler Wilhelm Perpeet (Kultur- und Kunstphilosophie) und dem Pädagogen Josef Derbolav. Hier konnte man Bildung erwerben, aber sicher kein marxistisches Denken. Das war auch damals eine weitgehend außeruniversitäre Angelegenheit im Rahmen des SDS. Für seinen Zugang zum Marxismus spielte die Auseinandersetzung mit der Frankfurter Schule, insbesondere die Kritik Max Horkheimers, eine wichtige Rolle, ein Gegenstand, dem er sich auch später immer wieder zuwandte.[1]
Sein starkes Interesse an Frankreich – er hatte schon auf dem Hannoveraner Gymnasium Französisch gelernt – betraf vornehmlich Milieu, Kultur und Denken der französischen Linksintellektuellen, Literatur und Film, insbesondere das marxistische Denken und, seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre, Louis Althusser, über dessen in den 60er und 70er Jahren erschienene Arbeiten er später in Bremen bei Hans Jörg Sandkühler promovierte.[2] Reinhard war ein ausgezeichneter Kenner der französischen Marxismus-Diskussion und der durch Althusser ausgelösten Debatten um den „epistemologischen Bruch“ im Marxschen Denken, um Kapital-Lektüre und die marxistische Bewältigung der „Krise des Marxismus“. Gerade das prädestinierte ihn als umsichtigen Übersetzer ihrer Texte (u.a. von Lucien Sève) und Berichterstatter über philosophische Literatur und Diskussionen in Frankreich, die auch in „Z“ nachzulesen sind. Seine Übersetzertätigkeit brachte ihn Anfang der 70er Jahre auch in Arbeitsbeziehungen zum Frankfurter „Institut für Marxistische Studien und Forschungen“ (Übersetzungen für den „Marxismus Digest“, das IMSF-Jahrbuch „Marxistische Studien“, bei Tagungen). Reinhard war an verschiedenen Diskussions- und Arbeitskreisen des IMSF, aber auch der Marx-Engels-Stiftung in Wuppertal beteiligt; u.a. brachte er seine stadt- und regionalsoziologischen Kenntnisse in eine Studie über die Protestbewegung gegen den Ausbau des Frankfurter Flughafens 1980/81 ein.[3]
Seit 1967 freier Mitarbeiter in der außerschulischen politischen Bildung, u.a. auch bei der Bildungsstätte „Jugendhof Steinkimmen“ in der Nähe Oldenburgs, war er später, Ende der 70er Jahre, in einem sozialpädagogischen Projekt beim Hessischen Jugendministerium tätig. Jedoch lief die politische Konjunktur in der Zeit der Berufsverbote gegen Reinhard. Er arbeitete danach bis 2004 als Lehrbeauftragter in den Bereichen Pädagogik und Sozialpädagogik an Hochschulen und Universitäten u.a. in Wiesbaden, Frankfurt/M., Lüneburg.
Reinhard gehörte von Anfang an zu den Autoren von Z und seit 1993 zu unserer Redaktion. Ein wichtiger Ort war für ihn die Frankfurter KunstGesellschaft. Für sie hielt er Vorträge und führte Gespräche bei Ausstellungen und Galeriebesuchen. Einer der letzten war ein Vortrag über „Das Vermächtnis des Felix Nussbaum“, des in Auschwitz ermordeten Malers.[4]
2004 wurde Reinhard Schweicher durch einen schweren Verkehrsunfall aus dem normalen Leben herausgerissen. Er hat den Kampf um die Wiedergewinnung seiner Persönlichkeit, der Sprache und Kommunikationsfähigkeit in bewunderungswürdiger Weise geführt und gewonnen. Auch darin zeigte sich seine Widerständigkeit. Aber es war ein mühsamer und letztlich verzehrender Kampf. Wir haben mit ihm einen klugen und streitbaren Genossen verloren.
Z-Redaktion
[1] Vgl. Reinhard Schweicher, Max Horkheimers Konzeption einer kritischen Theorie der Gesellschaft, in: Protokolle. Halbjahresschrift für Literatur, bildende Kunst und Musik, Wien 1973, H.2, S. 26ff.; ders., Zur Liquidation des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, in: Dialektik 7, Köln 1983, S. 208ff.
[2] Reinhard Schweicher, Philosophie und Wissenschaft bei Louis Althusser. Elemente einer materialistischen Althusser-Lektüre, Köln 1980. Vgl. auch: ders., Epistemologie bei Althusser. Einige Bemerkungen zu Althussers Versuch einer „Theorie der Ideologie“, in: H.J. Sandkühler (Hrg.), Betr.:Althusser. Kontroversen über den „Klassenkampf in der Theorie“, Köln 1977.
[3] IMSF, „Keine Startbahn West!“ Protestbewegung in einem überlasteten Ballungsraum, Frankfurt/M. 1981.
[4] Reinhard Schweicher, Das Vermächtnis des Felix Nussbaum, in: Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945 e.V., Informationen Nr. 57, Mai 2003, S. 17 ff.