1. Brennpunkte
Wie lange nicht mehr rückte Lateinamerika in den vergangenen Monaten in die Schlagzeilen. In vielen Ländern des Subkontinents ist es zu großen Protestbewegungen, heftigen Zusammenstößen (mit den „Ordnungskräften“), Interventionen des Militärs nach Erklärung des Ausnahmezustands, zu Putschen bzw. Putschversuchen, aber auch relativ friedlichen Regierungswechseln gekommen. Häufig entzündeten sich diese Massenbewegungen an begrenzten Konfliktpunkten (z.B. geringe Fahrpreiserhöhungen, Benzinpreisanstieg etc.), aber auch an umstrittenen Wahlausgängen. Neben Haiti, Honduras, Guatemala, Peru, Venezuela traten zuletzt vor allem Ekuador, Chile, Bolivien und Kolumbien ins Blickfeld, während der im Dezember 2019 vollzogene Regierungswechsel in Argentinien „normal“ und geräuschlos verlief.[1] Die Verselbständigung und Abgehobenheit der herrschenden politischen, teilweise wirtschaftlichen „Eliten“ in Verbindung mit Dauerkorruption seitens dieser, die wachsende soziale Ungleichheit und Armutsverschärfung – im Kontext einer seit einigen Jahren wieder eingetretenen ökonomischen Schwächeperiode in vielen Ländern – bilden in fast allen Fällen den tiefer liegenden Hintergrund für die eskalierenden Wut- und Protestäußerungen. Gleichwohl waren diese Prozesse in ihrer Intensität, Dauer und relativen Gleichzeitigkeit von kaum jemandem erwartet worden. Dennoch sind sie nicht als völlig zufällig anzusehen oder sozusagen „aus heiterem Himmel“ herabgefallen.
2. Erklärungsprobleme
Wie kann man diese – zum Teil gegenläufigen – Vorgänge ansatzweise erklären, einordnen, eventuell ähnliche Hintergründe und Muster ausmachen? Dies ist sicher angesichts der Vielzahl der Länder, in denen in den letzten Wochen und Monaten diese Ereignisse stattgefunden haben, und ihrer jeweils singulären Bedingungen sicher nicht zu leisten. Aber selbst wenn man sich auf nur zwei Fälle, wo die am weitesten reichenden Bewegungen auftraten (Chile, Bolivien) beschränkt, ist eine zufrieden stellende Interpretation, die auch eventuell ähnliche Wurzeln und Mechanismen aufdecken möchte, nicht einfach. Nicht nur, weil es sich bei den genannten zwei Beispielländern um gegenläufige Bewegungen/Tendenzen handelt (Chile: Linksproteste; Bolivien: den Putsch tragende Rechtsbewegungen). Auch weil wohlfeile übliche Erklärungsansätze, wie ökonomischer Rückfall/Stagnation oder besonders intensive externe Beeinflussung/Intervention etc. entweder nicht zutreffen oder für sich genommen noch nicht als überzeugende Ursache anzusehen sind. Aber auch umgekehrt: Eine gewisse bloße Armutsreduktion (im statistischen Sinne) und eine deutliche Pro-Kopf-Einkommenserhöhung sowie eine daraus folgende gewisse Konsumsteigerung scheinen kein genereller Grund für gesellschaftliche Zufriedenheit und politische Stabilität zu sein.
In Bolivien ist der (zumindest zeitweise) aktuelle Aufschwung der rechten Protestbewegung kaum auf gravierende ökonomische Schwächen oder einen nicht vorhandenen „sozialen Ausgleich“[2] während der über 13 Jahre währenden Regierungszeit von Evo Morales zurückzuführen. Das Land konnte in den letzten 15 Jahren mit durchschnittlichen Wachstumsraten von 4-5 Prozent, einer entsprechend hohen Steigerung der Pro-Kopf-Einkommen, geringer Inflation und erheblicher Konsumausweitung aufwarten, was mit Reallohnsteigerungen und nicht zuletzt verschiedenen Sozialtransfers (gegen Armut, für Alte, Kinder etc.) zusammenhängt. So z.B. konnte die extreme Armut (weniger als zwei US-Dollar zur Verfügung pro Tag) in diesem Zeitraum von 38 auf 18 Prozent gesenkt werden (in Städten auf 10 Prozent).[3] Auch die notorischen Hinweise auf die Eingriffsmacht äußerer Kräfte und Interessenten (vor allem der USA, aber auch anderer Länder) in die inneren Konfliktlagen jeweiliger Länder Lateinamerikas sowie auf die einheimischen herrschenden Klassen, die natürlich stets – nach gewissem Einflussverlust durch das Aufkommen der Linksregierungen – bereit sind, verloren gegangenes Terrain auf allen möglichen Wegen wieder zurück zu gewinnen, können als entscheidende oder gar ausschließliche Erklärungsfaktoren für Umstürze, grundlegende Veränderungen oder gar die beständigen Pendelausschläge zwischen „rechts“ und „links“ während der letzten 60 Jahre in Lateinamerika nicht wirklich überzeugen. Denn diese beiden Faktoren waren gewiss auch in der Aufstiegsphase und Regierungszeit der Linksregierungen präsent, ohne eine Ausschlag gebende Rolle spielen zu können.
Es müssen also andere, wesentlich interne Dimensionen und Veränderungen zumindest mit herangezogen werden, um solche Umschwünge, die auf veränderte Kräfteverhältnisse verweisen, besser erklären zu können; auf einen Stimmungswandel, eventuell relevante Sozialstrukturveränderungen in bestimmten Segmenten, schließlich Diskurs- und Hegemonieverschiebungen, die eine neue gesellschaftlich-politische Konstellation hervorgebracht haben, wäre dabei besonders das Augenmerk zu richten.
Ein derartige Herangehensweise ist zwar komplexer und schwieriger als jene angedeuteten „üblichen“ Erklärungsmuster, scheint aber der einzige Weg für realitätsgerechte Analysen der Situation, für Selbstkritik und wirkliche Lernprozesse für die Zukunft zu bieten.
Im „progressiven Lager“ stehen sich in Kommentaren zu aktuellen Ereignissen in Lateinamerika gelegentlich konträre Lesarten gegenüber, die m.E. beide in dieser Form unzureichend sind. Während die eine davor warnt z.B. die Vorgänge in Bolivien als „Putsch“ und Evo Morales als „Märtyrer“ oder „Opfer“ zu betrachten[4] und den Regierungswechsel quasi als „selbstverschuldet“ und halbwegs legitim hinstellen (davon zeugt auch die sehr einseitige Auswahl von erwähnten Ereignissen in diesem Artikel), ist die entgegengesetzte Lesart, die eindeutig den Putschcharakter unterstreicht (was m.E. völlig zutreffend ist), insofern auch unzureichend, als sie allzu sehr und ausschließlich auf externe Einflussfaktoren und Interventionsvorgänge verweist, ohne die Verschiebung der internen Kräfteverhältnisse und ihre Ursachen in den Blick zu nehmen.[5]
3. Beispiel Bolivien – Aufstieg von Rechtsbewegungen
und
erfolgreicher Rechtsputsch
Wie schon angedeutet: Das relativ sang- und klanglose Abdanken der Regierung Evo Morales nach fast 14-jähriger durchaus erfolgreicher Tätigkeit im Interesse der Campesinos, Indigenas, Arbeiter, informell Beschäftigten und der urbanen unteren Mittelschichten, die teilweise durch soziale Aufstiegsprozesse während dieser Periode sich vergrößert und konsolidiert haben, scheint kaum verständlich zu sein; zumal wenn man sich daran erinnert, dass diese Regierung mehrfach durch große Wiederwahlerfolge mit 64 und 60 Prozent aller Stimmen bestätigt wurde.
Es sind eine Reihe von Faktoren zu nennen (sie können hier nicht im Einzelnen analysiert werden), die eine Rolle bei diesem erstaunlichen und jähen Machtverlust gespielt haben. Zunächst ist das Referendum von 2016 zu erwähnen, das darüber entscheiden sollte, ob Morales – entgegen dem Verfassungstext – ein drittes Mal zur Präsidentschaftswahl antreten dürfe. Nachdem er diese Volksabstimmung knapp verlor (51 Prozent waren dagegen), wurde dieses Ergebnis „korrigiert“ bzw. in sein Gegenteil verkehrt – durch ein Urteil des Obersten Gerichts, demzufolge es ein „Menschenrecht“ sei nochmals an einer solchen Wahl teilnehmen zu können. Beide Ereignisse haben Morales zumindest bei einem Teil seiner Wählerschaft erheblich geschadet und bei diesem zu einem deutlichen Legitimitätsverlust geführt. Zweitens haben sich im Laufe der Jahre die Regierung und erhebliche Teile der Regierungspartei MAS („Bewegung für den Sozialismus“) von ihrer Basis entfernt. Zum einen, weil diese und der gesamte Regierungsapparat zu einer Wahlmaschine (von Zeit zu Zeit) und einer Postenverteilungsanstalt degenerierte. Wichtige Aktivisten der sozialen Bewegungen waren mittlerweile in auskömmlichen Stellen untergekommen, auf die die Regierung maßgeblichen Einfluss hatte. Zum anderen drückte sich dieser Prozess der Entfernung von der eigenen Basis auch darin aus, dass sich bei bestimmten Konflikten die Regierung schließlich ihren Willen autoritär durchsetzte und damit die Reste von Autonomie, Selbsttätigkeit und Politisierung weiter zurück drängte.
Vielfach haben auch Konflikte um Infrastrukturprojekte und im Bergbaukomplex angesiedelte Auseinandersetzungen das Ansehen der Regierung geschwächt. Der Straßenbau durch das Naturschutzgebiet TIPNIS (2011) z.B. hat Teile der dort lebenden Indigenen aufgebracht; andere Angriffspunkte bildeten ein unternehmerfreundliches Bergbaugesetz, die Lizenzvergabe für Bergbauvorhaben ohne Abstimmung mit der betroffenen Bevölkerung und ohne ausreichende Beachtung der ökologischen Folgen (Quecksilber, Wasserverschmutzung bzw. Entzug von knapper werdendem Wasser für die Landwirtschaft und als Trinkwasser etc.).[6] Auch die Spaltung und Entgegensetzung von Bergarbeitern in „normaler“ Lohnarbeit in großen Unternehmen und Bergwerkskooperativen, die in Genossenschaften organisiert sind, und ihrerseits Arbeiter beschäftigen, die deutlich schlechtere Arbeitsbedingungen aufweisen, hat zu ständigen Konflikten geführt, deren Schlichtung der Regierung früher gewährte Zustimmung von dieser Seite entzog. Aber vor allem der um sich greifende Klientelismus, die sehr häufige Gleichsetzung von Partei, Regierung und Staat haben zum Legitimationsverlust der MAS und schließlich auch von Morales geführt. „Die Schwächung staatlicher Institutionalität und die Überhöhung der Figur des Präsidenten entfernt das Land immer weiter von dem in der Verfassung angelegten dezentralen und auf kommunitäre Strukturen setzenden Staatsmodell.“[7] Noch vor einem Jahr bemerkte ein langjähriger Landeskenner resümierend: Es „stellt sich die Frage, ob zunehmender Autoritarismus, die Manipulation und die willkürliche Anwendung der Gesetze durch einen von der Regierung abhängigen Justizapparat, politisch motivierte Prozesse …, der permanente Missbrauch des Staatsapparats sowie öffentlicher Gelder und der staatseigenen Medien für Wahlkampfzwecke, auch diesmal wieder einen gegenteiligen Effekt hat, nämlich die Stärkung der Rechten rein aus Protest.“[8]
All das hat auch dazu geführt, dass die Präsenz der – im Übrigen wohl heterogener gewordenen – MAS auf kommunaler Ebene rückläufig war. Nicht nur in der Hauptstadt La Paz, sondern auch in Cochabamba und den Provinzen des Ostens und Südostens (allen voran Santa Cruz) gingen Bürgermeisterämter in die Hände der Opposition über, sogar in El Alto, der rasch gewachsenen Nachbarstadt von La Paz und lange als Hochburg der MAS geltend, ist eine aus der Opposition kommende Kandidatin Bürgermeisterin geworden.
Das wiederum verweist auf ein weiteres wichtiges sozialstrukturelles Moment zur Erklärung der veränderten gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Es scheint, dass ein gewisses Segment der indigenen Bevölkerung, das in die großen Städte (La Paz, El Alto, Cochabamba, Santa Cruz u.a.) gezogen ist und dort im Handel, im Bau- und Transportgewerbe, in der Gastronomie und anderen Dienstleistungen als Familienunternehmen begann, es mittlerweile zur Erweiterung und zur Einstellung weiterer lohnabhängiger Beschäftigten gebracht hat, so dass eine Klassifikation als „städtisches Kleinbürgertum“ in vielen Fällen nicht mehr ausreichend ist und man stattdessen von einer „indigenen Bourgeoisie“ sprechen muss. Dies schlägt sich nicht nur in einer mittlerweile veränderten Architektur z.B. in El Alto nieder, sondern auch in der sonstigen Lebensweise und im Bewusstsein. Je größer der Wohlstand, desto größer die Tendenz zum Konservatismus und zum Konsumismus seitens der neuen Mittelschicht und der neuen Bourgeoisie. Diese wichtigen Elemente und Akteure im dynamischen bolivianischen Binnenmarkt (sowohl auf der Angebots- wie Nachfrageseite) setzen zunehmend auf mehr Marktwirtschaft und weniger auf staatliche Lenkung und Umverteilung im sozio-ökonomischen Bereich; die Solidarität mit den immer noch erheblichen Teilen von Armen und Extremarmen, Prekären und unter elenden Bedingungen arbeitenden informell Tätigen hält sich wohl in Grenzen. So scheint eine zunehmende Entfernung von der Regierung Morales, soweit sie ihre ursprünglichen Zielsetzungen und programmatischen Punkte noch nicht völlig verloren hat, keineswegs überraschend. „Ist es“, so fragt Maelle Mariette, „das Schicksal linker Regierungen, dass sie ausgerechnet von den Menschen, die von ihrer Politik am meisten profitiert haben, schließlich aus dem Amt gejagt werden? Bringt diese Politik ihre eigenen Totengräber hervor?“[9]
Das scheinen einige Faktoren zu sein, die erklären helfen, warum Evo Morales trotz ehemals relativ guter Politik und über 60 Prozent Wählerzustimmung auf nun ca. 40 Prozent (und etwas mehr) abgerutscht ist. Es hilft vielleicht auch besser zu verstehen, warum der Putsch in dieser Form ablaufen konnte: Völlige Defensive der Regierung und ihres Anhangs und sehr radikale, mit teilweise faschistoiden Methoden vorgehende rechte Offensive. Auch das scheint die Zurückhaltung und Desorientierung der noch verbliebenen sozialen Basis der Morales-Regierung auszudrücken; diese begann erst mit Verzögerung und relativ vereinzelt zu reagieren. Dies ermutigte zweifellos die von „Klassen-Rassismus“ (E. Balibar) getragene Rechte und ließ ihren radikalen „Durchmarsch“ zu. Die MAS, die Abgeordneten, die Wähler, der gesamte Regierungsapparat schienen in den ersten Tagen abwesend zu sein. Morales und sein Vizepräsident und weitere Minister mussten sich verstecken und in Botschaften befreundeter Regierungen flüchten. Die wenigen, lokalen Protestversuche der Morales-Unterstützer wurden von Polizei/Militär und faschistoiden Truppen brutal niedergeschlagen. Dabei sind bis Anfang Dezember mindestens 33 Personen getötet worden.[10]
Zu diesen in der Politik und der Art ihrer Umsetzung angelegten Defiziten bzw. Ambivalenzen scheinen auch strategische Fehler, wie die offensichtlich geringen internen Veränderungen im Polizeiapparat und im Militär während der gesamten 14 Jahre der Morales Regierung, hinzu zu kommen. Dies überrascht teilweise insofern, als E. Morales das Militär – gegenüber den Vorgängerregierungen – deutlich aufwertete und es vielfach in seine fortschrittliche Politik erfolgreich einbezog; allerdings zeigten sich auch Grenzen des „revolutionären Nationalismus“, der seit den 30er Jahren im bolivianischen Militär eine gewisse Tradition hat: Morales’ Wunsch, dass auch indigene Militärs in die höchsten militärischen Positionen (Offiziere, Generale) gelangen können sollten, wurde dagegen – wahrscheinlich aus machtpolitischen Erwägungen – nicht ernsthaft angegangen.[11] Möglicherweise wirkte sich auch in Bolivien – trotz neuer Akzente der Politik gegenüber dem Militär seitens der Linksregierung – eine fast die gesamte Region in den letzten beiden Jahrzehnten erfassende Tendenz der diskreten, aber deutlichen, allmählichen Rückkehr des Militärs auf die politische Bühne aus; ein Phänomen, das teilweise aus dem Legitimitätsverlust der politischen Instanzen (Parteien, Parlamente, Justiz etc.) zu erklären ist.[12]
Vor allem aber sind es Elemente der politischen Kultur des Landes gewesen, die nach Erreichen eines gewissen Ausmaßes einen Stimmungsumschwung mit bewirkt haben: Autoritarismus, Personalismus, Klientelismus, Korruption, mangelnde Transparenz sowie mehr oder minder deutliche Allianzen – auf ökonomischer Ebene – mit den herrschenden Kräften des Landes. Wobei zu beachten ist, dass diese „alltäglichen“ und quasi „normalen“ Verhaltensweisen, wenn sie ein gewisses Maß überschreiten, bei der Linken mehr geahndet und „bestraft“ werden als bei der Rechten.[13] Diese Schwachpunkte erkennt die stets angriffsbereite Rechte sofort, um den vermeintlichen Verlust von Privilegien, z.B. im sozio-kulturellen Bereich (etwa: Anerkennung der indigenen Kultur und Religion etc.) wieder rückgängig zu machen. Dies schließt die strikte Ablehnung des verfassungsmäßig festgelegten Konzepts eines „pluri-nationalen“ und säkularisierten Staates, wo alle Religionen gleichberechtigt artikuliert werden können, ein. Daher war es mehr als symbolträchtig, dass die Anführer des rechten Putsches ständig von der „Rückkehr der Bibel“ in den Präsidentenpalast und ähnlichem schwadronierten und dies in zahlreichen öffentlichen Auftritten dokumentierten.[14]
Es ist offensichtlich, dass die uneingeschränkte Dominanz der Politik der Rechten auf allen Feldern – trotz zeitweisen erzwungenen Stillhaltens – absolutes Desiderat dieser Seite bleibt. Der pessimistischen, aber realistischen Gesamtbeurteilung des Verhaltens der Linken in manchen Ländern, wo sie die Regierung trugen, lässt sich kaum widersprechen: „Das Dramatische an der Lage ist, dass der Widerstand von rechts die Anpassung der Linken beschleunigt. Um im Konflikt zu bestehen, haben die Linksregierungen in den vergangenen Jahren versucht, Teile der alten Eliten in ihr Projekt einzubinden… In Bolivien schloss Präsident Evo Morales einen Pakt mit den Großgrundbesitzern im Osten des Landes, der die Erschließung der Urwaldgebiete erleichterte. Das hat den Hass der alten Eliten nur vorübergehend besänftigt, die Linksregierungen aber von ihrer eigenen Basis entfremdet. Frustriert stellen heute viele Linke fest, dass die neuen Strukturen den alten erschreckend ähnlich sind, der Protest dagegen aber der extremen Rechten den Weg ebnet.“[15]
4. Beispiel Chile – Massenproteste gegen ein Jahrzehnte altes neoliberales Regime
Die zentralen Fakten, Ereignisse und Hintergründe sind weitgehend bekannt: Einige Tage nachdem der konservative Präsident des Landes Sebastián Piñera (mit Blick auf verschiedene Nachbarländer) Chile als „Oase der Stabilität und Ruhe“ gepriesen hatte, entzündete sich Mitte Oktober der bis heute anhaltende heftigste und breiteste Konflikt an der Fahrpreiserhöhung der U-Bahn um einige Cents. Nach dem „Schwarzfahren“ vor allem junger Leute wurde massiv Polizei eingesetzt, worauf es zu Zerstörungen von Stationen, Plünderungen von Supermärkten, Barrikadenbau kam und schließlich das Militär als zusätzliche „Ordnungskraft“ mobilisiert wurde; die Verhängung des Ausnahmezustands und die Ausgangssperre waren ebenso wie das Militär auf der Straße die erstmaligen Einsätze dieser Art seit Ende der Militärdiktatur (1989/90). Der Präsident begründete dieses Vorgehen damit, dass es um „einen Krieg gegen einen mächtigen Gegner“ ginge. Im Laufe der weiteren Eskalation in den nachfolgenden Tagen und Wochen kam es zur Steigerung, flächenmäßigen Verbreitung und Verstetigung der Massenproteste, die mittlerweile das ganze Land erfasst und über eine Million Menschen in Bewegung gesetzt hatten; die Forderungen bezogen sich auf viele Aspekte des neoliberalen Regimes (extreme Ungleichheit, niedriges durchschnittliches Einkommensniveau, hohe Prekariatsquote, sehr niedrige Renten, daher extrem hoher Verschuldungsgrad der Mehrheit der Bevölkerung; und in gesellschaftspolitischer Hinsicht: sehr konservative Gesetzeslage in Bezug auf Frauen – striktes (fast absolutes) Abtreibungsverbot, Ausschluss von Ehescheidungen etc.). Mit einiger Verzögerung trat Piñera den Rückzug an, bat um Entschuldigung dafür, dass er die erbärmliche Lebenslage eines großen Teils der Bevölkerung nicht ausreichend erkannt habe, bildete sein Kabinett um und versprach einige Reformen: Erhöhung der Mindestlöhne und Renten, Rücknahme der Preiserhöhungen und weitere kleine Korrekturen. Aber es war wie häufig: zu spät und zu wenig. Denn mittlerweile ging es der Masse der Demonstranten nicht mehr um diese oder jene kleine „Reform“, sondern um die Infragestellung des ökonomischen Systems und Entwicklungsmodells sowie um die Architektur des politischen Systems. Also um nicht weniger als die vollständige Beseitigung des seit fast fünfzig Jahren etablierten neoliberalen Regimes, das die radikalste und weitestgehende Merkantilisierung und Privatisierung aller Lebens-, Produktions- und Reproduktionsbereiche aufweist. (Selbst das Regenwasser und die Gefängnisse sind privatisiert). Dies ist nur möglich, wenn die bestehende Verfassung von 1980, die durch die Pinochet-Diktatur quasi aufoktroyiert wurde, gründlich verändert wird. Diese Forderung wurde zunächst vehement zurückgewiesen, bis nach wochenlangem Hin- und Her ein Abkommen über die Verfassungsänderung verkündet wurde. Dies allerdings wird wohl kaum akzeptiert werden, da Teile der Opposition (z.B. die PC Chile, die linke Frente Amplio [„Breite Front“] sowie die sozialen Bewegungen) nicht bei den Verhandlungen zugegen waren, zweitens die „verfassungsgebende Versammlung“ sich zur Hälfte aus den bisherigen Parlamentariern zusammensetzen und ein anderer Teil neu gewählt werden soll und schließlich die Annahme einer neuen Verfassung mit einer Zwei Drittel Mehrheit erfolgen müsse. Die fast täglichen Zusammenstöße haben bislang zwischen 25 und 30 Tote, mehr als 15.000 Verhaftete, über 11.000 Verletzte (davon nicht wenige mit schweren Augenschäden bis hin zur Erblindung infolge von Gummigeschossen und Tränengas) als Saldo hinterlassen; über 400 Klagen sind von durch die „Ordnungskräfte“ Geschädigten, Geschlagenen und Vergewaltigten bislang eingereicht worden.[16]
Das nun von den protestierenden Massen erstmals in dieser Breite und Wucht abgelehnte neoliberale Regime galt lange Zeit als besonders dynamisch und trug für Lateinamerika (und darüber hinaus) Modellcharakter. Dieses seit Mitte der 70er Jahre von Pinochet und seinen sog. „Chicago-Boys“ (Absolventen der Universität von Chicago, die – unter Milton Friedman – als Hochburg des marktradikalen und monetaristischen Denkens galt) schockartig und brutal durchgesetzte markt- und privatkapitalistische „Entwicklungsmodell“ hatte in den ersten Jahren die Wirtschaft des Landes total umgekrempelt, die Arbeitslosigkeits- und Armutsrate auf vorher nie gekannte Werte hochschnellen lassen. 1981 stürzte das Land in eine tiefe Krise, die fast mit dem Staatsbankrott endete und nur durch wichtige Korrekturen der marktradikalen Wirtschaftspolitik gerettet werden konnte. Da Chile seit dieser Zeit hohe Wachstumsraten verzeichnete, die Armutsquote verringert werde konnte, wurde diese konstitutionell festgeschriebene Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auch von den Regierungen nach dem Übergang zur „Demokratie“ übernommen. Die christdemokratisch-sozialdemokratischen Regierungen (Concertación) identifizierten sich immer mehr mit dem neoliberalen Regime und setzten die Privatisierungswelle weiter fort, während sich die von ihnen eingebrachten sozialpolitischen Abfederungen in sehr engen Grenzen hielten. Aber es war immer deutlich erkennbar, dass hohes Wachstum und die Verringerung der Armutsquote mit einer Steigerung der sozialen Ungleichheit einhergingen. Der informelle Sektor blieb groß und die angeblich neu aufgestiegenen urbanen Mittelschichten hatten nur einen äußerst prekären sozialen Status, der durch Krankheit, Verschuldung, oder andere Wechselfälle sofort vom Absturz bedroht war. „Laut Armutsforscher Thomas Piketty besitzt ein Prozent der Chilen*innen 35 Prozent des gesamten Reichtums. Gleichzeitig leben 14 Prozent der Bevölkerung an der Armutsgrenze. Der Mindestlohn in Chile beträgt umgerechnet 330 Euro. Die Hälfte der Chilen*innen verdienen 400.000 Pesos (ca. 500 Euro) oder weniger. Es ist ein konstanter Anstieg der Preise zu beobachten, etwa von Strom mit knapp 20 Prozent im letzten Jahr, bei gleichzeitiger Stagnation der Gehälter… Und das alles bei Lebenshaltungskosten, die durchaus das westeuropäische Niveau erreichen.“[17]
Trotz hoher Wachstumsraten und des scheinbaren „Modellcharakters“ Chiles blieben soziale Protestbewegungen verschiedener Provenienz keineswegs abwesend und untätig. Nachdem sie schon zur Schwächung der Diktatur beigetragen hatten (vor allem die Menschrechtsbewegung, die Frauen- und Arbeiterbewegung) waren es in der post-diktatorischen Periode zunächst Schüler, später auch Studierende, die 2006 („Aufstand der Pinguine“ – so genannt wegen ihrer blau-weißen Schuluniformen) und 2011 zu Zehntausenden bzw. Hunderttausenden wochenlang auf die Straße gingen, um das Schul- und Bildungssystem grundlegend zu verändern, d.h. zu dekommodifizieren, also dem starken privatwirtschaftlichen Profitsystem zu entreißen: „Bildung ist ein Menschenrecht, keine Ware“ – hieß die Losung. Auch die Bewegung der Rentner, deren ökonomische Lage angedeutet worden ist, verstärkte sich bedeutend in den letzten Jahren, da die menschenfeindliche Rentenpolitik – mit katastrophalen Folgen für viele Familien und Arbeitnehmer – immer deutlicher wurde! Im März dieses Jahres wurden in ganz Chile ca. eine Million Demonstranten geschätzt. Gleichfalls haben die Bewegungen gegen die Privatisierung von Wasser und Naturressourcen schon seit Jahren – vor allem in landwirtschaftlich geprägten Regionen – an Bedeutung gewonnen. Diese sozial-ökologischen Konflikte überschneiden sich mit den Auseinandersetzungen um die Rechte indigener Völker und deren Enteignung und Zurückdrängung durch große Forst- und Landwirtschaftskonzerne. Der Kampf der Mapuche im Süden Chiles bildet seit Jahrzehnten bereits eine Zone von teilweise blutig ausgehenden Dauerkonflikten mit der Zentralgewalt des Landes.[18] Auch die Frauenbewegungen haben sich seit etwa zwei Jahren – im Kontext der „Me too“-Bewegung – neu entfaltet und nahmen ihren Ausgang von den Universitäten und den dort seit langem vorherrschenden patriarchalen Praktiken sexueller Belästigung; teilweise kam es zu Überschneidungen mit bereits erwähnten Bewegungen gegen die Grundstrukturen des Bildungssystems im Allgemeinen.[19]
Die Frage, warum sich die Proteste in den letzten dreißig Jahren vergleichsweise themenspezifisch ausrichteten und letztlich nur sehr begrenzte Erfolge verzeichneten, kann nur annäherungsweise beantwortetet werden, da diese post-diktatorische wirtschaftliche und politische Stabilität offensichtlich mehrere Dimensionen aufweist.
Nach den weitgehenden Repressionserfahrungen während der Diktaturzeit (über 3.000 Getötete, tausende „Verschwundene“, Gefangene und Gefolterte sowie eine große Anzahl aus dem Lande Geflüchteter) war es auch nach ihrem Ende – unter Berücksichtigung zahlreicher Kontinuitäten – keineswegs einfach sich zu organisieren und grundlegende Veränderungen zu fordern. Immer schwang die Furcht vor einer „autoritären Regression“ mit, womit nicht selten die konservativen bzw. faschistoiden Nachfolgeparteien der Pinochet-Diktatur drohten. Man darf nicht vergessen, dass mit der Volksabstimmung (1988) darüber, ob Pinochet weiter regieren oder abtreten solle, 55 Prozent für das Ende der Diktatur und immerhin noch 45 Prozent für deren Fortsetzung gestimmt haben!
Zweitens hielt das relativ hohe und stabile Wachstumstempo der chilenischen Ökonomie auch in den 90er Jahren und darüber hinaus an, so dass die Hoffnung auf allmähliche Besserstellung auch bei Armen, Marginalisierten und Niedrigverdienern nicht ganz aufgegeben wurde. Die Basis der hohen Wachstumsraten lag in der Überausbeutung der Arbeitskräfte und der günstigen Absatzsituation auf dem Weltmarkt für Kupfer, Agrar- und Forstprodukte sowie aus Fischfang und Fischzucht (zusammen über 80 Prozent der chilenischen Exporte).
Drittens bestand das „Erbe“ der Diktatur und des neoliberalen Radikalismus auch darin, dass sich die Sozialstrukturen sowie die Bewusstseinsinhalte und Mentalitäten in vielen Segmenten/Milieus deutlich verändert hatten.[20] Mit der Privatisierung oder Zerschlagung der großen Staatsbetriebe und der mit der Öffnung der Ökonomie einhergehenden Desindustrialisierung schmolz die städtisch-industrielle Arbeiterklasse zusammen; die sehr eingeschränkten Möglichkeiten zur gewerkschaftlichen Organisierung schwächten diesen potentiellen Oppositionsfaktor weiter. Im Übrigen war die Vereinzelung und Individualisierung auf allen Ebenen ein wichtiger Begleitfaktor des neoliberalen Regimes. Wechselseitige Konkurrenz in allen Sektoren der abhängig Beschäftigten war die Devise, kollektive Organisierung war verpönt. Dies alles sowie die massive „Umerziehung“ aller Chilenen zu allzeit bereiten Konsumenten (auch um den Preis hoher Verschuldung) führten zur – schon in der Militärdiktaturzeit betriebenen – Entpolitisierung der Gesellschaft. Politik und politisches Engagement wurden Synonyme für Korruption, für Böses, Sündhaftes in der Sprache der öffentlichen Propaganda. Damit, so folgert hieraus Jorge Rojas, war der Weg frei für die nahezu uneingeschränkte Macht kleiner wirtschaftlicher Gruppen.[21]
Damit ist, viertens, die Problematik des politischen Systems in Chile angesprochen, womit auch der besondere Charakter der herrschenden Klasse Chiles berührt wird. Das postdiktatorische politische System weist, wie angedeutet, eine Reihe wichtiger Kontinuitätsmomente mit der Pinochet-Zeit auf. Nicht nur die aus der Diktatur stammende Verfassung und das Wahlsystem, das die zweitplatzierte Partei bzw. Parteienkoalition besonders begünstigt, wurden übernommen, sondern z.B. die noch lange gültige Wahl von „Senatoren auf Lebenszeit“ (manche noch aus der Diktaturperiode!) sowie die hohe Autonomie von Militär, Zentralbank etc. Obwohl seit 1990 am häufigsten Koalitionen der christdemokratischen, sozialistischen und demokratischen Partei („Concertación“) regierten, habe diese sich von vornherein mit den genannten Kontinuitäten einverstanden gezeigt und auch die scheinbar erfolgreiche neoliberale Grundordnung akzeptiert. Diese Identifizierung mit dem herrschenden System drückt sich auch im relativ breiten Aktienbesitz der PS (Sozialistische Partei) und einzelner sozialistischer Politiker aus sowie in der Tatsache, dass nicht wenige führende Politiker der „Concertación“ offenbar am durchprivatisierten Bildungssystem mit erheblichen Einnahmen partizipieren.[22] So wundert es kaum, dass die „Mitte Links Regierungen“ sich darauf beschränkten, „Teile der Protestbewegungen zu integrieren und die schwerwiegendsten Effekte etwas abzumildern.“[23]
Die chilenische herrschende Klasse schließlich, die an der Spitze einer hohen wirtschaftlichen Konzentration steht, kann als eine der kompaktesten und homogensten von ganz Lateinamerika charakterisiert werden. Dabei geht „die extreme Konzentration wirtschaftlicher und natürlicher Ressourcen in Chile mit einer relativen Interessenkonvergenz in der besitzenden Klasse einher, die durch die in unterschiedlichen Branchen gestreuten Aktivitäten der Familienkonglomerate bedingt ist. Diesen kommt dadurch eine erhebliche strukturelle Macht zu, da sie große Teile der Binnenmärkte, Investitionsentscheidungen und Beschäftigten kontrollieren.“[24]
Es ist kaum anzunehmen, dass diese herrschende Klasse, die neben wirtschaftlicher, politischer auch mediale Macht in außerordentlichem Umfang besitzt und sich offensichtlich sehr nahe dem Militär befindet, ohne sehr intensive und langwierige Kämpfe ihre Positionen gegenüber der nun eine neue Qualität gewinnenden popularen Bewegung aufgeben wird; ein sozialstaatlich regulierter, nicht mehr neoliberaler Kapitalismus ist für chilenische Verhältnisse kaum vorstellbar.
5. Resümee und Schlussfolgerungen
Beide etwas genauer betrachtete Beispielfälle im „Aufruhr in Lateinamerika“, die sicher Wendepunkte in der gegenwärtigen Geschichte dieser Länder darstellen (werden), lassen sich mit den Ereignissen in den anderen Staaten des Subkontinents vergleichen, und man könnte dabei zweifellos eine Reihe von Ähnlichkeiten feststellen.
Das Grundmuster der zugespitzten Konflikte ist relativ leicht durchschaubar. Fast immer geht es darum, dass eine kleine ökonomische und politische Herrschaftsgruppe ihre immer krassere und abgehobenere Dominanzposition verteidigen möchte, während eine breite subordinierte, in sich heterogene Masse, die aber in unterschiedlichem Ausmaß der herrschenden Ausbeutung, Fremdbestimmung und sozialen Polarisierung ausgesetzt ist, in bestimmten (besonderen) Situationen zu gemeinsamen Gegenaktionen in der Lage ist. (Fall Chile)
Oder: Dass eine ebenso ökonomisch und teilweise politisch mächtige Herrschaftsgruppe zeitweise von einer demokratisch gewählten Linksregierung von den obersten (politischen) Schalthebeln verdrängt worden ist, dabei teils realiter, teils eingebildete Privilegienverluste hinnehmen musste und nun – eine Schwächephase der Linksregierung ausnutzend – zur unumschränkten Machtstellung auch auf die politischen Bühne – zurückkehren möchte. (Fall Bolivien)
Dieser an und für sich nicht völlig überraschende Befund gestaltet sich allerdings komplizierter, wenn die Zustandsänderung, der Prozess zwischen Stabilität der vormaligen Situation und der akuten Konfliktsituation mit wichtigen Veränderungen oder gar Machtwechseln erklärt werden soll. Ökonomische Lagen/Tendenzen, politische Zufälle oder externe Eingriffe mögen eine Teilrolle spielen, können aber die internen Verschiebungen der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und Stimmungen, die Bündelung oder den Zerfall von handelnden Akteursgruppen etc. nicht ausreichend erklären.
Relevante sozialstrukturelle Veränderungen über einen längeren Zeitraum hinweg, ein Stimmungswandel, der durch eine Kumulation von Ereignissen bestimmter Art hervorgerufen wurde, sind in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzen. Aber vor allem sind es auch Elemente der „politischen Kultur“ eines jeden Landes, die als Hintergrund eine erhebliche Rolle spielen können; wobei interessanterweise sowohl rechte wie linke Strömungen (Lager) wichtigen Elementen der politischen Kultur unterliegen können und diese – je nach Intensität und Ausmaß ihrer Praktizierung – zum Stimmungswandel (der zur gesteigerten Aktivität der oppositionellen Basis führt, oder umgekehrt: zu einer wachsenden Lethargie der sozialen Basis von Linksregierungen) erheblich beitragen können. Autoritarismus, Personalismus, Klientelismus, Korruption, Neigung zur Gewaltanwendung bei der „Lösung“ von Konflikten bei drohendem Privilegienverlust, mangelnde Transparenz, Fehlen von selbstkritischer Analyse eigener Schwächen und Fehler etc., um nur einige Elemente der politischen Kultur zu nennen, scheinen auch in den beiden behandelten Beispielfällen eine große Rolle gespielt zu haben.[25] Auf derartige (auch selbstkritische) Analysen der in unterschiedlichen Bereichen stattfindenden vielschichtigen Prozesse sollte in Zukunft großer Wert gelegt werden. Denn ohne Erfassung der ambivalenten Rolle verschiedener Elemente der politischen Kultur, die zum Teil unbewusst wie ein Magnet langfristig und klassenübergreifend „anziehen“, und vor allem in zugespitzten Konstellationen wirksam sind, werden wirkliche Lernprozesse für die Zukunft deutlich erschwert werden.
[1] Dies wird aller Voraussicht nach auch in Uruguay der Fall sein, wo ein konservativ-neoliberaler Kandidat in einer Stichwahl seinen linken Kontrahenten von der „Frente Amplio“ besiegte und nach drei Regierungsperioden dieses Links-Mitte Bündnisses Anfang 2020 das Präsidentenamt antreten wird.
[2] So die These von Lichterbeck/Ismar: „Die Region steht vor zwei existentiellen Fragen: Schafft sie es endlich, Wirtschaftswachstum mit sozialem Ausgleich zu verbinden? Und: Ist die Demokratie am Ende stark genug, um autoritäre Herrscher zu überwinden?“ (Tagesspiegel v. 3.11. 2019)
[3] Vgl. Fernando Molina, „Es la economía, estupido”, in: Nueva Sociedad No. 283, Septiembre-Octubre 2019, S. 4-14.
[4] So ein Artikel in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“, H. 12, 2019, S. 33-36: Thomas Guthmann, Bolivien: Morales als Märtyrer?. sowie ein Interviewpartner, M. Rodríguez, gegenüber der Berichterstatterin vom „neuen deutschland“ v. 14.11.2019.
[5] Siehe den ansonsten sehr informativen Beitrag von A. Scheer in der „jungen Welt“ v. 20.11.2019.
[6] Zu den vielfältigen Folgen des intensiven Bergbaus – auch für die Spaltung der Dorfgemeinschaften – vgl. das Interview mit Toribia Lero vom indigenen Umweltrat CONAMAQ in: ila Nr. 418, Sept. 2018, S. 19-21.
[7] So schon vor zweieinhalb Jahren Pit Weise, Bolivien: Der Anfang vom Ende des linken Zyklus begann bereits unter Evo Morales, in: ila Nr. 404, April 2017, S. 27-29.
[8] Peter Strack, Die Revolution und ihre vielen Kinder. In Bolivien ist derzeit nicht leicht zu unterscheiden, wer rechts und wer links ist, in: ila Nr.421, Dez. 2018, S. 41.
[9] Maelle Mariette, Die reichen Cholos von La Paz, in: Le monde diplomatique, Sept. 2019, S. 12.
[10] Vgl. z.B. amerika 21 v. 7. Dezember 2019.
[11] Vgl. hierzu: Molina, Fernandes: Patria o muerte. Veneceremos. El orden castrense de Evo Morales, in: Nueva Sociedad, No. 278 ( Nov.-Dic. 2019), S. 119-129.
[12] Vgl. hierzu z.B.: Kurtenbach, Sabine/Scharpf, Adam: Das Militär kehrt zurück, Giga-Focus Lateinamerika, Nr. 7, Dez. 2018 sowie das Schwerpunktheft der „Nueva Sociedad“, No. 278 (Nov. - Dic.) 2018 zu diesem Thema.
[13] Zu dieser unterschiedlichen Bewertung und Sanktionierung gleicher Handlungen von Rechts- und Linksregierungen neuerdings J. C. Monedero: „They (d.h. Linksregierungen, D.B) need to avoid the temptation to use the same channels that a conservative government might establish – for example, networks of corruption, or the criminal-coercive forces of the deep state – not only because this would morally discredit their project, but because the other necessary institutions that might tacitly support conservative corruption and coercion, such as courts, the legislature and the media, will not be in place.” (Juan Carlos Monedero: State Theory and the Latin America’s Left Cycle, in: New Left Review, No. 120, Nov.-Dec. 2019)
[14] An dieser Propaganda zu „Rettung des Christentums“ in Bolivien waren neben den katholischen, rassistischen Oberklassen- und Mittelschichtsvertretern aus dem Osten und Südosten des Landes auch evangelikale Gruppierungen beteiligt. Deren Kandidat hatte bei der Präsidentschaftswahl „aus dem Stand“ über 8 Prozent der Stimmen erreicht.
[15] Raul Zelik, Abgewürgte Aufbrüche, in: der Freitag v. 21.11.2019.
[16] Siehe „amerika 21“ mit ständiger Berichterstattung.
[17] Sarah Moldenhauer, Ein stiller Krieg wird laut. Zur aktuellen Lage in Chile, in: ila Nr. 430, Nov. 2019, S. 37-38. „Während der besitzenden Klasse durch das Wirtschaftsmodell eine große strukturelle Macht zuteilwird, sind breite Teile der Bevölkerung davon negativ betroffen. Chile ist weltweit unter den führenden Ländern, in denen die Menschen die größten Teile ihres Einkommens in privatisierte Bildung und Gesundheit ausgeben müssen. Das private Rentensystem bedeutet für 90 Prozent der Chilenen eine Altersrente unter 200 Euro.“ Anna Landherr/Jakob Graf, Neoliberale Kontinuität im politischen Wechselwind. Die Macht der besitzenden Klasse Chiles über die extraktivistische Ausrichtung des Landes, in: PROKLA, H. 189, 47. Jg. 2017, S. 569-585, hier: S. 574.
[18] Vgl. hierzu das Schwerpunktheft der ila, Nr. 399, Okt. 2016, sowie neuerdings: Jakob Graf/Stefan Schmalz/Johanna Sittel, Grenzen kapitalistischen Wachstums: Sozial-ökologische Konflikte im Süden Chiles, in: Sonderband des Berliner Journals für Soziologie, hrsg. v. Klaus Dörre u.a.; Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften, Wiesbaden, 2019, S. 181-193.
[19] Sie hierzu: Sarah Moldenhauer, „Me Too“ und „Ni una menos“ fordern grundlegenden Mentalitätswandel. Aktuelle feministische Proteste und Streiks in Chile, in. ila, Nr. 417, Juli/August 2018, S. 56-57.
[20] Siehe hierzu: Felix Müller, Veränderungen der chilenischen Klassenstruktur seit 1973: Die städtischen Volkssektoren in: Lateinamerika. Analysen und Berichte Bd. 3, hrsg. von V. Bennholdt-Thomsen u.a., Berlin 1979, S. 171-193.
[21] „Auf diese Weise konnte die Macht von den Gruppen der Wirtschaft zurückerobert werden, und die Politik wurde zum Privileg der Minderheit derer, die über die wirtschaftlichen und natürlichen Ressourcen verfügen.“ Jorge Rojas Hernández, Marktpopulismus und bürgerliche Illusionen. Politik und Gesellschaft im Chile des 21. Jahrhunderts, in: Jahrbuch Lateinamerika. Analyse und Berichte Bd. 25, hrsg. v. K. Gabbert u.a., Münster 2001, S. 97-115, hier: 101.
[22] Vgl. Luis Narvaéz, Warum die Rechte? Chiles Linke hat es in den vergangenen Jahrzehnten nicht geschafft, mit dem Modell der Diktatur zu brechen, in: ila Nr. 421, Dez. 2018, S. 23 f.
[23] Landherr/Graf, a.a.O., S. 583.
[24] Ebenda, S.581; vgl. zum Gesamtkomplex „Herrschende Klasse Chiles“ die immer noch beste Analyse von Karin Fischer, Eine Klasse für sich. Besitz, Herrschaft und ungleiche Entwicklung in Chile 1830-2010, Baden-Baden 2011.
[25] Vgl. dazu Näheres im Supplement-Heft der Zeitschrift „Sozialismus“ Nr. 7/8, Juli-August 2019.